Dave Eggers – Every

Dave Eggers – Every

Nachdem die Firma Circle schon weite Teile des Internets beherrschte, hat sie sich mit dem Aufkauf eines online Versandhauses, das nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war, auch den Konsummarkt gesichert. Unter dem Namen „Every“ kontrolliert Mae Holland nun weite Teile des Alltags der Menschen. Delaney Wells hat viel dafür getan, um bei Every angestellt zu werden, doch weniger, weil sie von dem Unternehmen fasziniert wäre, sondern weil sie Rache nehmen möchte. Von außen ist der Konzern zu mächtig, um ihm zu schaden, das kann nur aus dem Innersten gelingen. Mit ihrem Mitbewohner Wes entwickelt sie eine Strategie: mit immer absurderen Vorschlägen für Apps wollen sie den Menschen die Augen öffnen, doch ihre Idee fruchtet nicht. Statt sich angewidert abzuwenden, nehmen die Nutzer die immer weiterreichenden Einschränkungen begeistert auf und sind gerne bereit, immer mehr Freiheiten aufzugeben. Sie müssen also noch weiter gehen.

Mit großer Faszination hatte ich vor einigen Jahren „The Circle“ gelesen und trotz der etwas flachen Protagonistin konnte mich die Idee des Romans begeistern. Nun legt Dave Eggers den Gegenentwurf, die Zerstörung seiner eigenen Schöpfung, vor. Mit Delaney hat er eine clevere und mutige Figur geschaffen, die konsequent ihr Ziel verfolgt, das auch glaubwürdig motiviert ist, die Umsetzung jedoch bleibt für mich hinter den Erwartungen zurück. Dies liegt vor allem an vielen Längen, die die Handlung nicht voranbringen und der Vorhersehbarkeit der Entwicklungen, hier hätte ich mir mehr Überraschungen gewünscht.

Delaneys Ansatz, immer absurdere Vorschläge zu machen, die die Menschen kontrollieren – welche Worte verwenden sie, wie gut gelingen die Interaktionen mit anderen, wie gute „Freunde“ sind sie wirklich bis hin zu vollständigen Überwachung des Lebens – treiben aktuelle Entwicklungen immer weiter. Die Argumentationsstruktur von Every überzeugt: all dies dient der eigenen Sicherheit und Kontrolle. Wessen Sprache permanent überwacht wird, wird sich bemühen „korrekt“ und rücksichtsvoll zu sprechen und so wird die Welt ein bisschen besser. Die Bodycams zeichnen alles auf, weshalb man auch die kleinen Verfehlungen des Alltags sichtbar macht und sie so nach und nach einstellt. Alle werden zu besseren Menschen. Ein rücksichtsvoller Umgang miteinander, Reduzierung von Gewalttaten und auch noch der Schutz der Umwelt – wer kann sich dem ernsthaft verweigern?

Eggers geht einfach einen Schritt weiter und zeigt schön, wie leicht die Fallen eigentlich zu entdecken wären, in die die Figuren tappen. Jedoch, sie wollen das, denn das Leben wird leichter, wenn einem Entscheidungen abgenommen werden und Ordnung und Struktur herrscht. Nichts ist anstrengender, als selbst zu denken, weshalb man das großzügig an Every abgibt. So überzeugend dieser Aspekt ist, es hätten ein paar Erfindungen weniger sein dürfen, denn die 20. App bringt die Handlung irgendwann auch nicht mehr weiter.

Eine kleine Gruppe von Verweigerern versucht sich all dem zu widersetzen, Anarchisten, die mit ihren Mitteln in den Kampf ziehen, ebenso wie ein paar Intellektuelle, die jedoch nicht gehört werden. Auch Delaneys Freund Wes und seine Entwicklung im Laufe der Handlung bleibt für mich zu plakativ und einfallslos, Eggers kann definitiv mehr als abgenutzte Versatzstücke zu verwenden.

Die Idee überzeugt, auch die Protagonistin ist gelungen, aber der Autor hätte für mein Empfinden mehr daraus machen können. Einzelne Szenen – der Ausflug zu den Robben und die Folgen – sind herrlich, auch das Offenlegen der heuchlerischen Argumente ist gut umgesetzt. Viele Längen und eine doch recht absehbare Entwicklung schlagen jedoch auf der negativen Seite zu Buche.

Julia Dahl – The Missing Hours

When Claudia wakes up, she cannot remember the past hours. When she looks in the mirror, she hardly can recognise the girl she sees. Obviously, something really bad has happened, her body can tell it, she, however, does not know what it is. She is afraid that somebody at her dorm might see her in that state, luckily it is spring break and most of her fellow students at NYU are gone, just one boy seems to be there. When Trevor sees her, he knows that the girl needs help, yet, the girl is Claudia Castro, super rich and an Instagram famous artist. But that doesn’t count, when somebody is in need, you help. And that’s what Trevor does – not knowing in what a mess all this is going to end.

“The Missing Hours” is a dark novel about the one of the nastiest crimes imaginable. Julia Dahl opens the plot with the big question about what might have happened, once this is answered, the next question follows: why? But then it becomes much more interesting to observe what the experience does to Claudia. She has been assaulted, that much is obvious, and quite often, there are only two options: either the victim withdraws completely blaming herself for what has been done to her or she fights her assailant. The author interestingly chooses to go both ways turning the novel into an intense and gripping read.

The plot is mainly driven by emotion – (unrequited) love, hatred, vindictiveness, but also despair and loneliness. The characters go through challenging times and emotions that they are unable to control, too young and unexperienced they make choices which turn out to be totally wrong, but in their state of being blinded by their feelings, the cannot respond in any other way. It is easy to understand what they do and why they do it, even if you know that nothing good can come from it.

On the other hand, the novel also raises the question about who is there when you are in need. Quite normally, it should be your family, but things are complicated with Claudia’s parents and her sister is about to give birth and surely has other things to care about. Sometimes a stranger can be your saviour, not being too close might be the best for a complicated situation.

What I really liked about the novel is how the protagonist’s conflicting thoughts are conveyed. She feels ashamed, blamed herself, is worried about what might people think of her even though she obviously is the victim. She is educated, knows exactly what to do in such a case and yet, decides not to do what is recommended. As a reader, you can see why she acts in that way and is nevertheless struggling with her choice.

A fast paced thriller which has a lot more depth than one might have expected.

René Goscinny/Albert Uderzo – Astérix et le Griffon [Asterix und der Greif]

René Goscinny/Albert Uderzo – Astérix et le Griffon

Caesar äußert Gefallen an einem neuen ikonischen Tier, das seine Macht symbolisieren soll: der Greif. Halb Adler, halb Löwe und mit Pferdeohren lebt das magische Tier ganz weit im Osten, in jener Region, die noch nie ein Römer betreten hat. Praktischerweise haben die Römer auch gerade eine Amazone gefangen genommen, die just aus dieser Gegen kommt und den Weg zum Greif weisen kann. Die Aufregung in dem sarmatischen Dorf, aus dem Kalachnikovna stammt, ist groß und so nimmt der Schamane Kontakt zu seinen gallischen Freunden auf und bittet um Hilfe. Astérix, Obélix, Panoramix (Miraculix) und Hund Idéfix machen sich auf in den Kampf.

Jean-Yves Ferri und Didier Conrad setzen bereits zum fünften Mal die Erfolgsserie der widerspenstigen Gallier fort. Schauplatz ist der eisige Winter tief im Osten bei einem wenig bekannten Nomadenvolk. Wie gewohnt kann man sich einfach an der unterhaltsamen Geschichte erfreuen oder auch die zahlreichen Anspielungen und Verweise auf aktuelle Ereignisse entdecken.

Besonderes Highlight sind die sarmatischen Frauen: unerschrockene Amazonen, die in den Krieg ziehen während die Männer daheim in der Jurte die Kinder hüten. An Zaubertränke und dergleichen glauben sie nicht, so ein Unfug mag was für Männer sein, die Frauen kommen locker auch ohne aus. Herrlich gelungen vor allem die Gefangene Kalachnikovna, die allen Römern den Kopf verdreht und dabei nur Verachtung für sie übrig hat.

Auch die Römer bieten interessantes Personal: Geograf Terrinconus ist unverkennbar nach Michel Houellebecq gestaltet und zitiert nebenbei die Werke des Autors. Der Legionär Fakenius wittert hinter allem eine böse Verschwörung, vor allem, als sie sich dem Ende der Welt – Scheibe oder Globus ist hier die Frage – nähern.

Eine Reihe von Hindernissen und Konfrontationen mit den Legionären gilt es wie immer zu meistern, die auch im 39. Band einen großen Spaß bereiten. Herrlich dieses Mal umgesetzt die Sprechweise des asiatischen Völkchens, das zumindest in der französischen Ausgabe nur mit umgedrehten „E“ kommuniziert, was auch zu dem einen oder anderen Missverständnis führt.

Hillary Rodham Clinton/Louise Penny – State of Terror

Hillary Rodham Clinton/Louise Penny – State of Terror

Unerwartet hat der neue amerikanische Präsident Williams seine schärfste Kritikerin zu seiner Außenministerin gemacht. Ellen Adams hat schnell verstanden, weshalb, indem sie für den Posten ihr Medienimperium aufgibt und an seiner Seite arbeitet, kann er sie besser kontrollieren und geschickt Fallen stellen, um sie öffentlich zu demütigen. Als eine Serie von Bombenanschlägen Europa erschüttert, sind sie jedoch gezwungen, zusammenzuarbeiten, denn im Auswärtigen Amt ging zuvor eine Warnung ein. Ausgerechnet aus dem Iran, dem verhassten Erzfeind. Schnell erkennen Williams und Adams, dass die Bedrohung vielleicht nicht unbedingt aus dem Mittleren Osten kommt, auch wenn dort mit Bashir Shah ein gewiefter Physiker sitzt, der im Verdacht steht, eine Atombombe zu bauen und meistbietend an Schurkenstaaten oder Terrororganisationen zu verhökern.  Die Zeit läuft ihnen davon und das bei einer diffusen Bedrohungslage, bei der die Grenzen zwischen Freund und Feind fließend sind.

Ebenso wie ihr Mann, der bereits zwei Politthriller auf den Markt geworfen hat, hat sich die ehemalige Außenministerin Hillary Rodham Clinton nach Ende der politischen Karriere jener der Literatur verschrieben. Dazu hat sie sich mit Louise Penny eine routinierte und erfolgreiche Autorin gesucht, mit der die Geschichte für meinen Geschmack überzeugend umgesetzt wurde. Es ist ein klassischer Thriller im Politikmilieu, der mit der Angst vor einer unbekannten Gefahr spielt und die bekannten Akteure des politischen Spiels einbindet. Dass damit auch der Mythos des einsamen amerikanischen Helden, der sich und seine Familie hinter die Interessen des Landes stellt, bedient wird, war zu erwarten und sehe ich nicht als Makel, denn die Handlung ist spannungsgeladen, wird mit hohem Tempo erzählt und schließlich schlüssig gelöst.

Ellen Adams zeichnet sich durch einen scharfen Verstand und schnelle Auffassungsgabe auf. Indem man ihren Mann zum Opfer des gesuchten Atombombenbauers macht und auch ihr Sohn bereits in den Händen islamistischer Terroristen war, hat sie auch ganz persönliche Motive, sich den Agitatoren der Krisenregion entgegenzustellen. Als Figur sicherlich in mancher Hinsicht überzeichnet – die ganze Familie einzubinden, derart hoch zu pokern und geschickt die Herrscher in ihrem Sinne zu manipulieren – andererseits sind das die meisten Helden in diesem Genre und bekanntermaßen ist auch ein James Bond halbtot in der Lage, alleine die Welt zu retten.

Die Handlung integriert geschickt die politischen Verschiebungen der letzten Jahre und wirkt dadurch glaubwürdig und durchaus real vorstellbar. Dass in geheimen Laboren Atombomben oder auch andere Waffen, egal ob atomar, biologisch oder chemisch, hergestellt werden könnten, um Rache an der westlichen Welt zu nehmen, dürfte niemand ernsthaft in Zweifel ziehen.  

Der Thriller wurde vielfach harsch kritisiert. Die Argumente sind durchaus nachvollziehbar, die Abrechnung mit dem ehemaligen Präsidenten – Parallelen zu realen Personen sind vermutlich rein zufällig – erfolgt nicht gerade subtil, letztlich ist er es sogar, der entscheidend zu dem Chaos und der Bedrohung beigetragen hat. Ich fand die Seitenhiebe oftmals köstlich und amüsant, da passte jedes Wort.

General Whitehead seufzte. „Bashir Shah ist wieder auf freiem Fuß? Das ist in der Tat ein Problem.“

„Und zwar ein größeres, als Sie glauben. Angeblich haben wir dafür unseren Segen gegeben.“

„Wir?“

„Die ehemalige Regierung.“

„Das ist unmöglich. Wer wäre denn dumm genug… Ach. Vergessen Sie, dass ich gefragt haben“

Die Außenministerin ist die überragende Figur und damit wohl eher von Wunschtraum Clintons. Aber mal ehrlich: wer greift nicht auch zu Literatur, um das zu durchleben, was man im echten Leben nicht hat oder nicht ist? Warum sollte ihr es dann nicht auch als Autorin gestattet sein, die Figur, die gewisse Ähnlichkeit zu ihr aufweist, etwas aufzuhübschen? Mich hat’s nicht gestört.

Das Wissen Clintons aus dem inneren Zirkel der Macht gepaart mit Pennys Schreibtalent – eine spannende und gelungene Kombination, die gerne fortgesetzt werden darf.

Bernhard Schlink – Die Enkelin

Bernhard Schlink – Die Enkelin

Kaspar hat es kommen sehen, zu häufig schon war seine Frau Birgit zu betrunken, um noch zu verstehen, was sie tat. Und nun ist das Unglück geschehen, sie muss in der Badewanne eingeschlafen sein. In den Monaten zuvor hatte sie intensiv an einem Roman gearbeitet, doch ihr Computer ist kaputt, einem Experte gelingt es jedoch die Daten zu retten. Was Kaspar liest, erschüttert ihn, offenbar kannte er die Frau kaum, mit der jahrzehntelang das Leben geteilt hat, vor allem trug sie ein Geheimnis in sich, das den Buchhändler in das völkische Milieu führt. Er ist abgestoßen von dem nationalen Gedankengut und der feindseligen Haltung, auf die er dort trifft. Auch die junge Sigrun ist indoktriniert und fest von der Richtigkeit des rechten Weltbildes überzeugt. Kann Kaspar ihr eine andere Welt zeigen?


Bernhard Schlink gelingt es immer wieder Romane zu schreiben, in die man sich einlesen muss und die dann plötzlich einen Sog entwickeln, der einen in die Geschichte zieht und gefangen hält. Auch „Die Enkelin“ ist so ein Roman, der mich vor allem durch die starke Figurenzeichnung überzeugen konnte. Es ist das Aufeinandertreffen sich widersprechender und ausschließender Überzeugungen, die zugleich von Zuneigung und gemeinsamer Liebe zur Musik  herausgefordert werden. Es ist sicher kein Wohlfühlroman, sondern eine komplizierte Auseinandersetzung damit, wie das Leben manchmal spielt. 


Die erste Konfrontation erleben Kaspar und Birgit. Er aus dem Westen, sie aus der DDR. Für die Liebe ist er bereit, alles aufzugeben, doch sie hat sich schon längst von dem sozialistischen Staat abgewandt und wagt die gefährliche Flucht. Birgit war bereit, alles hinter sich zu lassen, alles aufzugeben, doch so einfach lässt sich ein Leben nicht abschütteln, man nimmt immer etwas mit und weil sie dies nicht teilen kann, ist sie bereit viele Jahre im Stillen zu leiden.


Ebenso wie von seiner Frau wird Kaspar auch von Sigruns Familie ausgeschlossen. Sie leben in einer abgeschotteten Gemeinschaft, die sich ihre eigene Welt geschaffen hat. Sie brauchen keine Mauern von außen, sie haben sich selbst eingemauert in ihren Überzeugungen und erziehen die Kinder im völkischen Sinne. Trotz seiner Aufgeschlossenheit und hoher Toleranz kommt Kaspar dort an seine Grenzen, doch er will das Mädchen nicht so einfach aufgeben. Argumente allein reichen nicht, er muss andere Wege finden, um sie zu erreichen und ihr Weltbild infrage zu stellen. Keine leichte Aufgabe, die sich der Senior da vorgenommen hat.


Schlink greift kein einfaches Thema auf, setzt dieses aber überzeugend und nachdenklich stimmend um. Der Roman fordert den Leser heraus, sich selbst den Dilemmata zu stellen, mit denen die Figuren konfrontiert sind, bietet keine einfachen Antworten, denn die kann es nicht geben, auch Kompromisse nicht nicht immer möglich. Die Realität ist komplex und mehrdimensional, Schlink fängt dies ein und macht ein Angebot zum Nachdenken, das Höchste, was Literatur erreichen kann. 

Kent Haruf – Ein Sohn der Stadt

Kent Haruf – Ein Sohn der Stadt

Samstagnachmittag im November, ein roter Cadillac, der auf der Hauptstraße parkt. Erst interessiert sich niemand für ihn, doch dann wird man aufmerksam und noch mehr steigt die Neugier in dem kleinen Ort Holt in Colorado, als sich rumspricht, wer in dem Wagen sitzt: Jack Burdett, berühmtester Sohn der Stadt, einst hoffnungsvoller Footballstar und Retter der Farmer Kooperative. Bis er verschwand und mit ihm ein Haufen Geld der Kooperative, seine Frau und die Kinder ließ er zurück. Nach acht Jahren ist er nun also wieder da und kann nicht auf einen freudigen Empfang hoffen, denn die Wunden, die er gerissen hat, sind noch immer nicht verheilt. Pat Arbuckle, Lokaljournalist und ehemals bester Freund von Jack, ist ebenso gespannt wie alle andere, doch er hat noch einen ganz anderen Grund sich für den Rückkehrer zu interessieren als die lange zurückliegenden Ereignisse.

Kent Haruf erzählt in seinem Roman die Geschichte eines Lebens und einer Kleinstadt in ihrer verhängnisvollen Wechselwirkung. Der gefeierte Sportler, dem man alles verzeiht und der dank seiner Ausstrahlung immer wieder auf die Füße fällt, egal, was er anstellt, bis er den Bogen überspannt und dennoch den Ort weiter in seinem Griff hält. Aber Holt ist es auch, das ihn zu dem hat werden lassen, was er ist, und so müssen die Bürger auch ein Stück weit mit ihrer eigenen Schuld leben.

Man könnte glauben, dass eine amerikanische Kleinstadt im Mittleren Westen der 1960/70er Jahre nicht wirklich reizvoll für einen Roman ist. Dem Autor gelingt es jedoch, den Leser sofort zu packen und man will wissen, wie es dazu kommen konnte, dass der Sohn der Stadt verschwand und wie die offenkundig noch offenen Rechnungen beglichen werden. Vor allem das subtile Foreshadowing, das Andeuten von dem, was geschehen wird, gelingt Haruf meisterhaft und so kreiert er eine Spannung, die bis zur letzten Seite fesselt.

Auch wenn Jack und Pat nicht wirklich Antagonisten sind, wird an ihnen beiden doch der Kontrast zwischen den Lebensentwürfen verdeutlicht. Jack ist bildungsfern, dafür verfügt er jedoch über Kraft, die er auf dem Spielfeld und der lokalen Fabrik gewinnbringend einsetzen kann. Pat hingegen weiß, dass er die Zeitung seines Vaters irgendwann übernehmen wird und folgt dem vorgezeichneten Plan Schule – Studium – Zeitung – Familiengründung. Immer wieder kreuzen sich die Wege, während Pat geradeaus geht, mäandert Jack und schafft es immer wieder, Menschen für sich zu gewinnen und sich so neue Chancen zu eröffnen. Dabei agiert er jedoch rücksichtslos und egoistisch, was aber niemanden zu stören scheint.

Es ist aber auch die Geschichte des Kleinstadtlebens, wo nichts verborgen bleibt, jeder jeden kennt und in erster Linie: wo die Männer das Sagen haben. Die Frauen leiden still und ertragen unwidersprochen den Platz, den man ihnen zu weist. Wanda Jo, die Jack über Jahrzehnte anhimmelt und alles für ihn tun würde, muss die öffentliche Demütigung ertragen; auch Pats Frau, die aus der Großstadt kam und Kunst und Kultur liebte, stellt ihre Bedürfnisse hinter jene ihres Mannes und mimt 18 Jahre lang schweigend die brave Hausfrau und Mutter. Nur Jessie, Jacks Frau, wagt es irgendwann, laut die Stimme zu erheben, was jedoch relativ pikiert zur Kenntnis genommen wird.

Eine sprachlich und gestalterisch grandiose Kleinstadtstudie, die restlos begeistert.

Steintór Rasmussen – Poesie des Mordens

Steintór Rasmussen – Poesie des Mordens

Kommissar Jákup á Trom ist gerade auf zweiwöchiger Fortbildung in Kopenhagen, als man dort die Leiche eines Färingers findet. Die örtliche Polizei bittet ihn, seinen Aufenthalt zu verlängern und bei der Aufklärung mitzuwirken. Der Tote ist kein Unbekannter, Tóki Narvason gilt als bester Schriftsteller der Inselgruppe. Jákup hatte sich eigentlich sehr auf die Heimat gefreut, nicht nur, weil er seine Frau und die Kinder wiedersehen wollte, sondern auch weil es das Wochenende der großen Strickclubparty im Hotel Atlantis ist, die sich niemand entgehen lässt und wo alles geschehen kann. Genau das ist auch der Fall, unter anderem gibt es am Sonntagmorgen eine Tote – die Freundin des verstorbenen Poeten. Das kann kein Zufall sein.


Steintór Rasmussen entführt mit „Poesie des Mordens“ zum dritten Mal auf die Atlantikinseln, die literarisch bei weitem nicht so prominent sind wie beispielsweise Island, das zahlreichen Autoren als Krimischauplatz dient. Die außergewöhnliche Natur des Eilands spielt dieses Mal eine nachrangige Rolle, dafür wird die Handlung sehr stark durch die Traditionen – Strickclubs und deren Festivals sind mir von nirgendwo bislang untergekommen – und die spezifische Gesellschaftsstruktur getragen. 


Die beiden Mordfälle, bei denen nicht einmal eindeutig geklärt ist, ob es Morde sind, sind zwar das tragende Element, rücken für mich aber hinter die Figuren zurück. Immer wieder erlauben Einschübe Blicke in die Vergangenheit sowie in die Seele und das Gedankenwirrwarr eines enttäuschten Menschen. Doch reicht diese Enttäuschung, um gleich zwei Feinde aus dem Leben zu befördern? Viele Jahrzehnte gehütete Geheimnisse kommen plötzlich ans Licht und stellen so manchen Lebensentwurf infrage.


Neben den herausfordernden Ermittlungen fällt dieses Mal Jàkup durch seine eigenen Qualen auf. Auch er hat ein Geheimnis, sein Umgang jedoch damit und die Tatsache, wie er mit zweierlei Mass seine Schwächen und die der anderen beurteilt, kommen unerwartet. Der bis dato rechtschaffene Polizist zeigt plötzlich eine ganz neue und nicht gerade schmeichelhafte Seite. 


Rasmussen hat eigenen ganz eigenen Erzählstil gefunden, der bisweilen etwas unemotional wirkt und doch fesselt. Die Geschichte ist überzeugend konstruiert und entfaltet sich erst langsam, wobei dieses Mal die Figuren herausragend gestaltet wurden und die Handlung souverän tragen und voranbringen.

Daniel Silva – Der Geheimbund

Daniel Silva – Der Geheimbund

Ein paar Tage Urlaub in Venedig hat Chiara ihrem Mann Gabriel Allon, dem Chef des israelischen Geheimdienstes, abgetrotzt. Doch kaum sind sie in der Lagunenstadt angekommen, überschlagen sich die Ereignisse. Der Papst ist tot und sein Privatsekretär Luigi Donati hat berechtigte Zweifel an der offiziellen Darstellung der Ereignisse, weshalb er Gabriel, einen alten Freund des gerade Verstorbenen, um Hilfe bittet. Das Verschwinden des wachhabenden Schweizergardisten befeuert die Befürchtungen, dass der Pontifex ermordet worden sein könnte und bald schon stoßen Gabriel und Donati auch auf den Grund: der Papst hat offenbar das Evangelium nach Pilatus gefunden, das die Geschichte um Jesus‘ Kreuzigung neu erzählt. Ein mächtiger Orden jedoch, der schon lange Bande mit Europas Rechtsextremen flicht, will die Entdeckung verheimlichen und nicht nur das: die Mitglieder des Helenenordens greifen nach dem Pontifikat.

Im zwanzigsten Fall für den jüdischen Chefagenten geht es ans Eingemacht der religiösen Geschichte. Nicht nur spielt die Handlung im Herzen der katholischen Kirche, die schicksalhafte Verbindung zwischen Christentum und Judentum, die schwärzesten Zeiten der Geschichte sind das Leitmotiv des Romans. Daniel Silva hat mit „Der Geheimbund“ einmal mehr einen spannenden wie anspruchsvollen Thriller geschrieben, der einen actionreichen Plot mit Geschichte kombiniert und bestens unterhält.

Es sind die klassischen Zutaten, die Silva verwendet: ein mysteriöser Mord, eine geheimnisvolle Untergrundorganisation, die verschwiegenen Mauern des Vatikans, eine alte Schrift, die die Geschichte neu schreiben könnte. Zeitdruck durch das angesetzte Konklave und die Befürchtung, dass die höchste Position auf Erden an Rechtsextreme fallen könnte, befeuern das hohe Tempo der Erzählung.

Die Verflechtungen und Unterwanderung der Kirche – bei denen man sich schon fragt, inwieweit hier überhaupt Fiktion vorliegt – wird clever konstruiert und wirkt authentisch. Interessanter jedoch waren für mich die Empfindungen der jüdischen Agenten beispielsweise in München, Ort einer der schlimmsten Nachkriegstragödien, die so einfach hätte verhindert werden können. Oder auch die Frage, wie die beiden Weltreligionen zueinander stehen; einerseits der Vorwurf, dass die Juden den christlichen Messias getötet haben, andererseits das Schweigen des Vatikans zur Zeit des Holocaust.

Für mich vielleicht bislang der gelungenste Roman der Reihe, da er insbesondere den feinen Humor und Ironie des Protagonisten immer wieder Raum für realweltliche Anspielungen bietet:

« Was wäre schlimmer, als erleben zu müssen, wie die Ersparnisse meines Lebens in Rauch aufgehen?»

« Wie wär’s mit einer globalen Pandemie? Mit einem neuartigen Grippevirus, dem wir Menschen hilflos ausgeliefert sind? »

« Eine Plage? »

« Lachen Sie nicht, Cesare. Das ist nur eine Frage der Zeit. »

Ein herzlicher Dank geht an die Verlagsgruppe Harper Collins für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Buch finden sich auf der Verlagsseite.

Max Bronski – Halder

Kurt Halder, Präsident des Verfassungsschutzes und sein Fahrer sind auf dem Weg nach München, wo bei einem offenkundig linksradikalen Anschlag ein Kommissar ums Leben kam. Die SoKo Nordring ermittelt und es scheint, als stehe ein weiteres Attentat auf eine Kaserne bevor. Das erste Opfer schien die Gruppe jedoch erst durch sein Verhalten getriggert zu haben und so sind die ehemaligen RAF Sympathisanten nach Jahrzehnten wieder aktiv geworden. Halder hat jedoch noch eine zweite, private Mission, die er mit dem Aufenthalt in Bayern verbinden will. Eine ehemalige Klassenkameradin hat ihn eingeladen und so die Chance eröffnet, eine seit vier Jahrzehnten an ihm nagende Frage zu beantworten: ist er der Vater ihrer Tochter? Während Halder auf der Autobahn gen Süden rollt, droht in seiner Behörde jedoch ein Angriff auf ihn, endlich hat sein langjähriger Widersacher die Chance, sich zu rächen.

Max Bronski ist nicht erst seit seiner Auszeichnung mit dem Friedrich Glauser Preis eine feste Größe in der deutschsprachigen Krimiwelt. Sein aktueller Roman „Halder“ ist im Milieu der Sicherheitsdienste angesiedelt und greift hochpolitische und ebenso brisante Strömungen auf, vor denen man gerne die Augen verschließt: ein Attentat und dessen Verursacher, die schnell im linksradikalen Milieu gefunden werden. Andere Lesarten wie Rechtsextremisten werden vernachlässigt, mögliche Beteiligungen von Polizisten ignoriert und nur eine einzige Spur mit aller Kraft verfolgt. Das Narrativ ist ebenso einseitig wie voreilig.

Die Geschichte ist vielschichtig und entwickelt aus einem einzigen roten Faden – Halder auf dem Weg zum letzten Schlag gegen die identifizierten Täter – und lässt ein Geflecht von sich immer wieder knotenden und verwickelnden Handlungssträngen entstehen.

„Aber nun war die Zersetzung in vollem Gange, weil der Bürger selbst hervortrat, aber nicht zum Dialog, sondern um abzurechnen. Er kübelte die Repräsentanten des Staats und alle, die er nicht auf seiner Linie wähnte, mit unflätiger Wut zu.“

Was bringt eine Gruppe von Senioren dazu, nach so langer Zeit wieder aktiv zu werden? Weshalb hatte der ermordete Polizist sie überhaupt auf dem Schirm und hat sie scheinbar bedroht? Sind sie in ihrem Vorgehen naiv leichtsinnig – die Ermittler können leicht jeden Schritt verfolgen – oder doch unglaublich gerissen, so dass sie ihre Verfolger in die Irre führen?

Halders Gegenspieler hingegen merkt, wie er schachmatt gesetzt wurde und sucht nach einem effektiven Mittel gegen den verhassten Vorgesetzten. Zu tief gehen die Wunden inzwischen als dass er sich die tägliche Demütigung weiter gefallen lassen würde. Und da fällt ihm etwas auf, er findet eine andere Spur, kann ein Gegenszenario entwerfen, das Halder zu Fall bringen wird.

Dieser sinniert derweil nicht nur über den aktuellen Fall und seine private Mission. Erinnerungen an seine Familie, den strengen Vater, der sich nie wirklich gegen das Gedankengut der Nationalsozialisten stellte und die Erziehung des Sohnes mit ebensolcher Härte verfolgte, wie er selbst einst dem Führer diente. Die Mutter, die vom Leben enttäuscht den Rückzug in die Küche antrat, ein Muster, das sich bei Halders eigener Gattin wiederholte.

„Wer war Freund, wer Feind? Für eine Behörde, die zwar auf abgewogenen, aber letztlich klaren Einschätzungen fußen musste, war der Versuch, Orientierung zu finden, so aussichtsreich, wie Pfannkuchen an die Wand zu nageln.“

All dies steht in einem Kontext der scharfen Analyse der Lage der Nation. Halder entwirft ein düsteres Bild der Gesellschaft und des Staates. Die Veränderungen der letzten Jahrzehnte passen nicht mehr zu dem Gebildet, das nach dem zweiten Weltkrieg entworfen wurde. Ein nachdenklich stimmender Politkrimi, der gleichermaßen Spannung wie Tiefgang bietet.

Carmen Maria Machado – Das Archiv der Träume

Carmen Maria Machado – Das Archiv der Träume

„In der Literatur sind Orte nie einfach nur Orte. Und wenn doch, dann hat die Autorin etwas falsch gemacht.“

Carmen Maria Machado berichtet über einen Ort, ein kleines Haus in Bloomington, Indiana, das der Frau gehört, in der sie sich während ihres Studiums verliebt. Viele hundert Kilometer legt sie von ihrem Studienort zu diesem Haus zurück, um ihr nahe zu sein. Doch es ist nicht die unbeschwerte, leichte Liebe, sondern eine toxische Beziehung. Von Beginn an herrscht ein Ungleichgewicht und zunehmend gerät Carmen in eine Rolle, die ihr eigentlich aus Märchen, aus Büchern, aus Filmen gut bekannt ist: sie wird zum Opfer häuslicher Gewalt. Psychischer Gewalt, die für die Außenwelt nicht unmittelbar sichtbar ist und die sich nur in Extremen abspielt – vollkommener Liebe und ebenso exzessivem Hass.

„Die meisten Formen häuslicher Gewalt sind vollkommen legal.“

Ihre Erinnerungen schildern etwas, das eigentlich wohlbekannt ist. Eine Beziehung, in der einer der Partner die Oberhand hat, manipulativ den anderen an den Rand des Wahnsinns treibt, ihn an seinem Verstand zweifeln lässt – klassisches Gaslighting, dasbereits seit dem Film „Das Haus der Lady Alquist“ mit Ingrid Bergmann von 1940, der auf Patrick Hamiltons Theaterstück „Gas Light“ basiert, einer breiten Öffentlichkeit ein Begriff ist und immer wieder literarisch wie filmisch aufgegriffen wurde. Sie hätte es erkennen können, die Zeichen waren eindeutig, aber blind vor Liebe kehrt sie immer wieder zurück.

„(…) wie bei einer Marionette und du keinen Schmerz spürst. Egal was, es soll nur aufhören. Du hast vergessen, dass du einfach gehen kannst.“

Interessant wird der Bericht jedoch nicht nur dadurch, dass sie über Jahre gefangen ist, sich innerlich selbst Mauern baut, die sie einreißen könnte, aber nicht schafft zu zerstören. Es liegt noch eine zweite Ebene über dieser individuellen, die ihre Situation verkompliziert. In traditionellen Beziehungen zwischen Mann und Frau sind für die Öffentlichkeit – gestützt durch Statistiken – die Rollen meist klar verteilt: der Mann ist Täter, die Frau ist Opfer. Doch wie sieht dies bei bisexuellen Paaren aus?

Als Community kämpfen sie um Anerkennung, was bedeutet, dass sie zusammenhalten müssen, um sich gegenseitig zu schützen, da kann doch die eine nicht eine andere anklagen? Wenn es innerhalb der Gemeinschaft schon keine Solidarität gibt, wie soll man dann Schutz gegenüber den Angriffen von außen bieten? Absurderweise führt dies dazu, dass immer wieder Täter geschützt werden und nicht Opfer, die als Nestbeschmutzer gelten und denen nicht geglaubt wird. Ähnliches lässt sich bei People of Colour und anderen marginalisierten Gruppen beobachten.

Eine Biografie, die nicht nur das selbst Erlebte analysiert, um es nachvollziehen zu können, sondern dieses in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen setzt und zugleich auch kulturell einbettet. Ein vielfach verwendetes Motiv, das jedoch im realen Leben oftmals nicht erkannt, nicht ernstgenommen wird und zu unerträglichem Leid führt. Die Autorin hat eine interessante Form für ihren autofiktionalen Text gefunden: zwischen Roman, Biografie, Sachbuch und Tagebuch findet er seinen Platz. Ebenso erschreckend wie lesenswert ein wichtiger Beitrag zu einer Diskussion, die geführt werden sollte.