Dave Eggers – Every

Dave Eggers – Every

Nachdem die Firma Circle schon weite Teile des Internets beherrschte, hat sie sich mit dem Aufkauf eines online Versandhauses, das nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war, auch den Konsummarkt gesichert. Unter dem Namen „Every“ kontrolliert Mae Holland nun weite Teile des Alltags der Menschen. Delaney Wells hat viel dafür getan, um bei Every angestellt zu werden, doch weniger, weil sie von dem Unternehmen fasziniert wäre, sondern weil sie Rache nehmen möchte. Von außen ist der Konzern zu mächtig, um ihm zu schaden, das kann nur aus dem Innersten gelingen. Mit ihrem Mitbewohner Wes entwickelt sie eine Strategie: mit immer absurderen Vorschlägen für Apps wollen sie den Menschen die Augen öffnen, doch ihre Idee fruchtet nicht. Statt sich angewidert abzuwenden, nehmen die Nutzer die immer weiterreichenden Einschränkungen begeistert auf und sind gerne bereit, immer mehr Freiheiten aufzugeben. Sie müssen also noch weiter gehen.

Mit großer Faszination hatte ich vor einigen Jahren „The Circle“ gelesen und trotz der etwas flachen Protagonistin konnte mich die Idee des Romans begeistern. Nun legt Dave Eggers den Gegenentwurf, die Zerstörung seiner eigenen Schöpfung, vor. Mit Delaney hat er eine clevere und mutige Figur geschaffen, die konsequent ihr Ziel verfolgt, das auch glaubwürdig motiviert ist, die Umsetzung jedoch bleibt für mich hinter den Erwartungen zurück. Dies liegt vor allem an vielen Längen, die die Handlung nicht voranbringen und der Vorhersehbarkeit der Entwicklungen, hier hätte ich mir mehr Überraschungen gewünscht.

Delaneys Ansatz, immer absurdere Vorschläge zu machen, die die Menschen kontrollieren – welche Worte verwenden sie, wie gut gelingen die Interaktionen mit anderen, wie gute „Freunde“ sind sie wirklich bis hin zu vollständigen Überwachung des Lebens – treiben aktuelle Entwicklungen immer weiter. Die Argumentationsstruktur von Every überzeugt: all dies dient der eigenen Sicherheit und Kontrolle. Wessen Sprache permanent überwacht wird, wird sich bemühen „korrekt“ und rücksichtsvoll zu sprechen und so wird die Welt ein bisschen besser. Die Bodycams zeichnen alles auf, weshalb man auch die kleinen Verfehlungen des Alltags sichtbar macht und sie so nach und nach einstellt. Alle werden zu besseren Menschen. Ein rücksichtsvoller Umgang miteinander, Reduzierung von Gewalttaten und auch noch der Schutz der Umwelt – wer kann sich dem ernsthaft verweigern?

Eggers geht einfach einen Schritt weiter und zeigt schön, wie leicht die Fallen eigentlich zu entdecken wären, in die die Figuren tappen. Jedoch, sie wollen das, denn das Leben wird leichter, wenn einem Entscheidungen abgenommen werden und Ordnung und Struktur herrscht. Nichts ist anstrengender, als selbst zu denken, weshalb man das großzügig an Every abgibt. So überzeugend dieser Aspekt ist, es hätten ein paar Erfindungen weniger sein dürfen, denn die 20. App bringt die Handlung irgendwann auch nicht mehr weiter.

Eine kleine Gruppe von Verweigerern versucht sich all dem zu widersetzen, Anarchisten, die mit ihren Mitteln in den Kampf ziehen, ebenso wie ein paar Intellektuelle, die jedoch nicht gehört werden. Auch Delaneys Freund Wes und seine Entwicklung im Laufe der Handlung bleibt für mich zu plakativ und einfallslos, Eggers kann definitiv mehr als abgenutzte Versatzstücke zu verwenden.

Die Idee überzeugt, auch die Protagonistin ist gelungen, aber der Autor hätte für mein Empfinden mehr daraus machen können. Einzelne Szenen – der Ausflug zu den Robben und die Folgen – sind herrlich, auch das Offenlegen der heuchlerischen Argumente ist gut umgesetzt. Viele Längen und eine doch recht absehbare Entwicklung schlagen jedoch auf der negativen Seite zu Buche.

Nils Honne – Corporate Anarchy

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Nils Honne – Corporate Anarchy

Marvin hat einen durchschnittlichen Job bei einer Werbeagentur, führt ein durchschnittliches Leben und fällt auch sonst nicht weiter in der Masse auf. Mehr und mehr beschleicht ihn jedoch der Eindruck, dass die da oben alles bestimmen und Leute wie er, am unteren Ende, nur da sind, um deren Reichtum und Macht zu erhalten. Er widersetzt sich im Kleinen, geht auf Demos, schreibt Beschwerdemails, startet Internetkampagnen – ohne Erfolg. Dann gerät sein Leben plötzlich durcheinander, er schmeißt seinen Job hin und schließt sich einer autonomen Gruppe an, die nicht nur reden will, sondern etwas tut, um diese Gesellschaft zu retten. Lennard, der Anführer führt ihn ein in die Arbeitsweisen, er zeigt ihm, wie man Molotow-Cocktails baut und erfolgreich einsetzt. Mit ihm und den anderen kämpft Marvin fortan für eine bessere Welt – koste es, was es wolle.

Das Thema finde ich ungemein spannend: wie ticken Menschen, die sich in der Gesellschaft machtlos fühlen und daher beschließen, sich außerhalb der Normen und des Rechts zu bewegen, um ihre Interessen sichtbar zu machen und ihren Willen durchzusetzen. Man kennt diese Gruppierungen nur aus den Schlagzeilen, mal sind es vermummte Steinewerfer auf Demonstrationen, mal gelingt es Splittergruppen eine aufmerksamkeitserregende Aktion zu Ende zu führen. Aber Einblick erhält man selten.

Leider wurden meine Erwartungen nicht erfüllt. Marvin bleibt als Figur zu blass. Zu Beginn kommen seine Motive und das Gefühl der Machtlosigkeit noch ganz gut zum Tragen und motivieren glaubhaft seine Aktionen. Doch dann wird er zum Mitläufer, der nichts hinterfragt, zum Teil liebestoll hinterherläuft und nur noch Befehle ausführt, ohne von seinem Verstand Gebrauch zu machen. Zum einen finde ich solche Figuren langweilig, zum anderen erscheint es mir nicht stimmig, dass jemand, der zuvor ohne fremde Hilfe Strukturen und Missstände erkennen konnte, nun zum kopflosen Mitmacher avanciert. Auch die Motive der anderen Figuren der Gruppierung stellen sich schon bald als weit weniger gesellschaftskritisch heraus als man vermuten könnte, im Gegenteil, ganz persönliche Beweggründe sowie eine offenkundige psychische Erkrankung des Anführers begründen ihr Handeln.  Das ist mir zu wenig für einen relevanten Roman.

Eine stimmige Sicht auf die Lage der Nation, fundierte Argumentationen hätten über die begrenzt glaubwürdigen Aktionen (problemlos können sie an höchste Wirtschaftsbosse herankommen etc.) hinwegtrösten können, aber gerade hier liegt die große Schwäche des Romans, weil sie sich einer wirklichen Aussage entzieht. Es sei denn, Ziel war es alle anders oder linksautonom denkenden sollten pauschal als Irre dargestellt werden, die eben nichts Relevantes zu sagen haben.