Ragnar Jónasson – Insel

Ragnar Jónasson – Insel

Hulda Hermannsdóttir muss von der isländischen Hauptstadt auf die zerklüftete Insel Elliðaey reisen, denn dort wirft der Tod einer jungen Frau Fragen auf. Gemeinsam mit drei Freunden verbrachte sie einige Tage in einem Sommerhaus. Nachts scheint Klara alleine die Hütte verlassen zu haben und an einem steilen Felsen abgestürzt zu sein. Doch die Obduktion legt anderes nahe. Bei der Befragung der Freunde zeigt sich auch schnell, dass Alexandra, Benedikt und Dagur etwas verheimlichen und dass sie schon einmal mit einem Todesfall verbunden wurden: Katla, Dagurs ältere Schwester und ebenfalls mit der Clique befreundet, wurde genau 10 Jahre zuvor ermordet aufgefunden. Ihr Vater wurde der Tat beschuldigt und beging im Gefängnis Selbstmord, ein klares Schuldeingeständnis wie Huldas Vorgesetzter erkannte. Je näher die Kommissarin der Wahrheit kommt, desto offenkundiger wird ihr auch, dass es auch in dem alten Fall noch Fragen gibt. Doch diese zu stellen wird dramatische Folgen haben.

„Insel“ ist der zweite Band von Ragnar Jónassons Hulda Trilogie, die chronologisch rückwärts erzählt wird und nun die Kommissarin auf den Höhepunkt ihrer Karriere zeigt. Der Autor arbeitet auch wieder mit der Überlagerung verschiedener Zeitebenen und konstruiert so eine spannende und undurchschaubare Geschichte, in der alle Figuren ihre Geheimnisse und Motive haben. Besonders stark wirkt wieder einmal die Natur, die einerseits als geradezu berauschend schön dargestellt wird, aber auch ihre rauen und abweisenden Seiten hat. Wie schon in „Dunkel“ herrscht eine düstere Atmosphäre, die perfekt zu dem Fall und den gleich bei mehreren Personen vorhandenen Schuldgefühlen passt.

Eigentlich wollen die vier Freunde sich nur nach vielen Jahren wiedersehen und gemeinsam der verstorbenen Katla gedenken. Doch die Stimmung ist von Beginn an vergiftet, es hängt etwas in der Luft und Karlas Alpträume in der Hütte führen auch nicht unbedingt zu einer Verbesserung. Man wundert sich, weshalb sie den Anlass ihres Aufenthalts nicht preisgeben wollen, als Leser hat man aber jedoch recht schnell einen Wissensvorsprung und beobachtet gebannt, ob es Hulda gelingen wird, hinter die Fassade zu blicken und für Gerechtigkeit zu sorgen.

Ein überzeugender Krimi, der jedoch nicht ganz an den ersten Band heranreicht, der mit ungeahnten Wendungen und noch stärkerem Fokus auf Hulda wirklich überraschen konnte.

Steintór Rasmussen – Poesie des Mordens

Steintór Rasmussen – Poesie des Mordens

Kommissar Jákup á Trom ist gerade auf zweiwöchiger Fortbildung in Kopenhagen, als man dort die Leiche eines Färingers findet. Die örtliche Polizei bittet ihn, seinen Aufenthalt zu verlängern und bei der Aufklärung mitzuwirken. Der Tote ist kein Unbekannter, Tóki Narvason gilt als bester Schriftsteller der Inselgruppe. Jákup hatte sich eigentlich sehr auf die Heimat gefreut, nicht nur, weil er seine Frau und die Kinder wiedersehen wollte, sondern auch weil es das Wochenende der großen Strickclubparty im Hotel Atlantis ist, die sich niemand entgehen lässt und wo alles geschehen kann. Genau das ist auch der Fall, unter anderem gibt es am Sonntagmorgen eine Tote – die Freundin des verstorbenen Poeten. Das kann kein Zufall sein.


Steintór Rasmussen entführt mit „Poesie des Mordens“ zum dritten Mal auf die Atlantikinseln, die literarisch bei weitem nicht so prominent sind wie beispielsweise Island, das zahlreichen Autoren als Krimischauplatz dient. Die außergewöhnliche Natur des Eilands spielt dieses Mal eine nachrangige Rolle, dafür wird die Handlung sehr stark durch die Traditionen – Strickclubs und deren Festivals sind mir von nirgendwo bislang untergekommen – und die spezifische Gesellschaftsstruktur getragen. 


Die beiden Mordfälle, bei denen nicht einmal eindeutig geklärt ist, ob es Morde sind, sind zwar das tragende Element, rücken für mich aber hinter die Figuren zurück. Immer wieder erlauben Einschübe Blicke in die Vergangenheit sowie in die Seele und das Gedankenwirrwarr eines enttäuschten Menschen. Doch reicht diese Enttäuschung, um gleich zwei Feinde aus dem Leben zu befördern? Viele Jahrzehnte gehütete Geheimnisse kommen plötzlich ans Licht und stellen so manchen Lebensentwurf infrage.


Neben den herausfordernden Ermittlungen fällt dieses Mal Jàkup durch seine eigenen Qualen auf. Auch er hat ein Geheimnis, sein Umgang jedoch damit und die Tatsache, wie er mit zweierlei Mass seine Schwächen und die der anderen beurteilt, kommen unerwartet. Der bis dato rechtschaffene Polizist zeigt plötzlich eine ganz neue und nicht gerade schmeichelhafte Seite. 


Rasmussen hat eigenen ganz eigenen Erzählstil gefunden, der bisweilen etwas unemotional wirkt und doch fesselt. Die Geschichte ist überzeugend konstruiert und entfaltet sich erst langsam, wobei dieses Mal die Figuren herausragend gestaltet wurden und die Handlung souverän tragen und voranbringen.

Mareike Krügel – Schwester

Mareike Krügel – Schwester

Es braucht einen solchen Unfall, wie jenen ihrer Schwester Lone, bei dem nicht klar ist, ob die Hebamme ihn überleben wird, um die Bankkauffrau Iulia aus dem Alltagstrott zu reißen. Alles hat seine Ordnung in ihrem Leben, daher auch die Entscheidung für den Job in der Bank, Zahlen sind eindeutig, sie lügen nicht, und Chaos hatte sie schon genug als Kind, als ihre Mutter sie einfach alleingelassen hat. Aber dann war Lone für sie da, hat die Rolle der Schwester übernommen und ihr jene Sicherheit gegeben, die sie brauchte. Wie konnten sie sich nur so weit voneinander entfernen? Als sie die schwangeren Frauen, die Lone zuletzt betreute, über den Unfall informiert, lernt sie eine ganz andere Lone kennen als die Frau, die sie für ihre Schwester hielt. Je mehr sie über sie hört, desto mehr hinterfragt Iulia auch sich und die Entscheidungen, die sie getroffen hat.

Es ist ein recht konventionelles Thema und auch in der Struktur nicht wirklich neu erzählt und dennoch hat Mareike Krügel mit „Schwester“ einen intensiven und nachdenklich stimmenden Roman geschaffen, der auch nach der letzten Seite noch nachwirkt. Ein dramatisches Ereignis, das das Leben anhält und die Figuren zum Nachdenken bringt. Die Erkenntnis schleicht sich langsam und unbemerkt an, dass die Sicherheiten und Wahrheiten gar nicht auf so festen Füßen stehen, wie zuvor geglaubt und dass sich daraus plötzlich auch ein Riss ergibt, der das Tor zu einer neuen Welt und einem anderen Leben werden kann.

Die Beziehung zwischen Iulia und Lone ist schwierig, aber die Familie, aus der sie stammen, ist von schwierigen Verhältnissen geprägt. Die Vorbilder, die bedingungslos zu ihnen gestanden hätten, fehlten schlichtweg, auch wenn sie in dem Patchwork-Arrangement nicht ungeliebt waren. Der Verlust, den sie beide früh erlebt haben, hat sie nachhaltig geprägt und unfähig gemacht, sich selbst bedingungslos der Liebe hinzugeben. Nur die Schwester blieb immer eine verlässliche Größe, bis sie es nicht mehr war.

Maren, Kristin, Nana, Vera – es sind die Frauen, die Lone vertrauten und in ihr jene strahlende Figur gesehen haben, die ihre Körper versteht und ihnen das Ur-Vertrauen zu sich selbst zurückgegeben hat, das ihnen abhandengekommen war. Durch ihre Augen gewinnt Iulia einen neuen Blick nicht nur auf Lone, sondern auch auf ihr eigenes Leben als Bankangestellte und Pastorenfrau. Je näher sie Lone wieder kommt, desto mehr entfernt sie sich von ihrem gewählten Dasein.

Es ist keine Überhöhung der aufopferungsvollen Hebamme, es ist ein anderer Blick auf das Dasein, den Mareike Krügel ihrer Protagonistin und dem Leser schenkt. Trotz des tragischen Unfalls, der die Geschehnisse in Gang setzt, findet sich auch viel Humor in dem Roman, die Wortspiele und ironischen Verweise auf den institutionalisierten Glauben laden durchaus auch zum Schmunzeln ein. Aber es ist der Gegenentwurf des Vertrauens in die Natur und die eigenen Stärken, der siegt und Iulia Mut schenkt, um das zu tun, was sie sich so einfach nie getraut hätte.

Ein Roman, der direkt aus dem Leben kommt, der keine Superhelden braucht, um zu zeigen, wer diejenigen sind, die Mut schenken und so Großes bewirken können.

Orkun Ertener – Was bisher geschah (und was niemals geschehen darf)

Orkun Ertener – Was bisher geschah (und was niemals geschehen darf)

Sie wollen nur ausgelassen das Abitur feiern, so wie alle Jahrgänge vor ihnen, doch dann geschieht das Unfassbare: Paul wird angefahren und schwer verletzt. Zwar überlebt er, aber fortan wacht er jeden Morgen auf und hat vergessen, was seit dem Unfall geschehen ist. Sein bester Freund seit Kindheitstagen, Finn, kann nicht mit den Schuldgefühlen umgehen und zieht sich zurück. Monate vergehen, bis Finn Paul in der Reha besucht und dort Unglaubliches erfährt: offenbar plant ihr ehemaliger Mitschüler Khalil einen Terroranschlag. Paul überredet Finn, ihm zu helfen und Khalil zu finden. So beginnt ein aberwitziger Roadtrip nach Berlin und London, der schließlich in Hamburg endet und die beiden Freunde innerhalb weniger Tage erwachsener werden lässt als all die Jahre zuvor.

„Paul war in einem Alptraum erwacht, den er jeden Tag aufs Neue ertrug, ohne ihn je zu verstehen, schlimmer noch, ohne sich jemals an ihn zu erinnern.“

Es ist ein Unfall, wie er tagtäglich auf deutschen Straßen geschieht, der das Leben der drei Freunde völlig aus der Spur wirft. Paul lebt in seiner eigenen Welt, die er sich tagtäglich neu erarbeiten muss. Finn hat jeglichen Halt verloren und vegetiert tatenlos in seinem Kinderzimmer vor sich dahin. Khalil versucht lange Zeit noch retten, was vor dem Unfall war, bevor er aufgibt und sich scheinbar radikalisiert ob der Ungerechtigkeit der Welt. Es ist kein klassisches coming-of-age-Setting, das Orkun Ertener gewählt hat, ums Erwachsenwerden geht es eher in zweiter Linie. Es ist ein Roman über Schuld, Schulgefühle und den Umgang mit ihnen, und ebenso ein Roman darüber sich und seine Freunde zu erkennen und so anzunehmen wie sie sind.

Ein Brief Khalils mit der Ankündigung eines Anschlags setzt die Handlung letztlich nach einer Phase der Schockstarre, die durch den Unfall ausgelöst wird, in Gang. Die Suche nach dem Freund treibt Paul und Finn an, gibt ihnen dabei die Gelegenheit das zu erzählen, was sie voreinander geheim gehalten haben. Obwohl sie beste Freunde waren, gab es Ungesagtes, nicht Sagbares, aus unterschiedlichsten Gründen Verschwiegenes. Zwar muss sich Paul täglich die Welt wieder erarbeiten, gleichzeitig hat er jedoch auch erkannt, dass er vergessen kann, eine Gabe, die Gesunden nicht gegeben ist, die unweigerlich allen Ballast mit sich tragen müssen.

Finn, Paul und Khalil waren für mich keine sympathischen Figuren, nicht nur, weil sich ihre Melancholie auch auf einem als Leser legt. Dennoch erscheinen sie authentisch im Umgang mit den Erlebnissen und der Welt, in der sie leben. Sie haben keine guten Strategien und die schlechten versagen dann auch noch, aber das ist nun einmal ein Teil des Erwachsenwerdens: manchmal scheitert man kläglich.

Petra Johann – Die Frau vom Strand

Petra Johann – Die Frau vom Strand

Nach einer Fehlgeburt wollten Rebecca und Lucy sich zurückziehen und sind vom turbulenten Hamburg in der Ostseedorf Rerik gezogen. Offenbar tat die Seeluft gut, denn Rebecca wird sogleich wieder schwanger. Jedoch auch Monate nach der Geburt von Töchterchen Greta möchte sie nicht wieder zurück, sehr zum Leidwesen von Lucy, die zwischen ihrer Agentur und dem gemeinsamen Heim pendelt. Obwohl es nur wenige junge Menschen im Ort gibt, fühlt sich Lucy nicht einsam; als sie die gleichaltrige Julia kennenlernt, freut sie sich aber dennoch endlich eine Freundin gefunden zu haben, die beiden Frauen liegen sofort auf einer Wellenlänge. Aber dann verschwindet Julia plötzlich und es scheint, als wäre sie nie dagewesen, sie hat keinerlei Spuren hinterlassen. Unerwartet findet Rebecca allerdings eine Verbindung, die ihr Leben durcheinanderwirbelt und Lucy das Leben kostet.

Mit gleich zwei Mysterien wird man als Leser in Petra Johanns Thriller konfrontiert: wer ist die sympathische Frau, die aus dem Nichts auftaucht und ebenso schnell wieder verschwindet? Und natürlich: wer hätte ein Interesse am Mord von Lucy gehabt? Die allseits beliebte und immer auf Ausgleich bedachte Frau hatte scheinbar keinerlei Feinde und der Tod einer jungen Mutter erscheint völlig unsinnig. Das Ermittlungsteam sieht sich zahlreichen Fragezeichen gegenüber, die sich nur langsam auflösen.

Der Roman lebt vor allem von den Figuren, die wenig durchschaubar sind. Viele lernt man zunächst auch nur durch andere vermittelt kennen, Lucys Tod schon zu Beginn lässt sie nur noch in der Erinnerung ihrer Kollegen und Freunde aufleben – ein Bild das notwendigerweise Lücken aufweist. Auch Rebecca ist zunächst verschwunden, was an sich schon seltsam erscheint und sie verdächtig macht – dies passt wiederum so gar nicht zu dem Eindruck der liebenden Mutter, die sich in dem kleinen Ort und weitgehend isoliert dennoch wohlfühlt. Zuletzt natürlich die unbekannte Frau, die sich als Julia vorstellt, zu der aber außer Rebecca kaum jemand etwas berichten kann. Wo sie herkam, wer sie eigentlich ist und weshalb sie scheinbar gezielt zu Rebecca Kontakt gesucht hat – Fragen über Fragen.

Für mich kein nervenzerreißender Thriller, aber durchaus ein spannender Krimi, der den Leser lange auf die Folter spannt.

Guillaume Musso – Parce que je t’aime [Weil ich dich liebe]

Guillaume Musso – Parce que je t’aime

Nachdem ihre 5-jährige Tochter Layla in einem Einkaufszentrum verschwunden ist, bricht die Ehe von Mark und seiner Frau auseinander. Der Vater ist verzweifelt und landet nach Jahren der vergeblichen Suche schließlich auf der Straße. Doch auf den Tag fünf Jahre nach ihrem Verschwinden taucht sie wieder auf, Mark fliegt nach LA, um sie abzuholen, überglücklich ist der Psychologe auf dem Rückflug, wo er auf zwei Frauen trifft, die ebenfalls schwere Schläge hinter sich haben, die sie aus dem Leben geworfen haben: die reiche Erbin Alyson hadert damit, dass sie bei einem Unfall ein Kind getötet hat, die noch junge Evie hat ihre Mutter wegen eines Ärztebetrugs verloren und sinnt auf Rache. Lange Gespräche entspinnen sich zwischen den drei Schicksalsgenossen, doch als sie an ihrer Destination ankommen, erleben sie ein unerwartetes Erwachen.

Guillaume Musso gehört zu den Autoren, die mir seit langem namentlich bekannt sind, von denen ich jedoch bislang nichts gelesen hatte. Dem Titel nach dachte ich erst, es handele sich um eine seichte Liebesgeschichte, der Hinweis Krimi hat mich dann doch neugierig gemacht und in der Tat erwartet einem eine spannende und vor allem sehr unerwartete Handlung. Im Wesentlichen spielt sich diese im Flugzeug ab, die Erinnerungen der Figuren führen jedoch immer wieder in die Vergangenheit und legen so nicht geahnte Verbindungen offen.

Alle Figuren verhalten sich auf individuelle Weise seltsam, man kann es zunächst nicht einfach einordnen, woran das liegt, auch die Verbindung bleibt lange Zeit nicht nachvollziehbar. Erst am Ende löst sich das Mysterium und der Autor liefert eine stimmige, wenn auch nur begrenzt authentische Erklärung, wobei letzteres der Unterhaltung keinen Abbruch tut. Mit den ganz unterschiedlichen Lebensgeschichten konnte mich Musso eher packen als mit dem Spannungsaspekt. Insgesamt eine überzeugende und ansprechende Lektüre, die Interesse an den anderen Romanen des Autors weckt.

Allie Reynolds – Frostgrab

Allie Reynolds – Frostgrab

Zehn Jahre ist es her, dass Milla den Winter in den französischen Alpen verbracht hat, um sich auf einen wichtigen Snowboard Wettkampf vorzubereiten. Jetzt erhält sie eine Einladung zum Wiedersehen mit der alten Clique. Sie ist sich nicht sicher, ob sie das wirklich möchte, das Ende ihrer Zeit dort war alles andere als erfreulich. Die Neugier ist jedoch stärker, weshalb sie sich mit Curtis, Heather, Brent und Dale auf eine einsame Hütte begibt, denn die Saison hat noch nicht begonnen. Doch bald schon geschehen seltsame Dinge, die sich die fünf nicht erklären können. Doch nicht nur das ungute Gefühl, dass sie nicht alleine sind, drückt auf die Stimmung, sondern auch die Frage, was damals mit Saskia, Curtis‘ Schwester, geschah, die seither spurlos verschwunden ist.

Allie Reynolds Thriller erzählt parallel die Ereignisse der Gegenwart und Millas Erinnerungen an den Winter ein Jahrzehnt zuvor. Vieles, was die Figuren zunächst von sich geben, bleibt vorerst kryptisch und unverständlich, erst als sich mehr und mehr Puzzlesteinchen in das Bild einfügen, ergibt ihr Verhalten einen Sinn. Doch dies beantwortet noch nicht die Frage, wer hinter der ganzen Aktion steckt und ihnen offenbar Böses will. Der Autorin gelingt es so, die Spannung bis zuletzt hoch zu halten und dann eine saubere und glaubwürdige Lösung zu präsentieren.

Es ist nicht ganz einfach, Sympathien für die Figuren zu entwickeln. Die junge Milla ist zerfressen vom Ehrgeiz und steht ihrer Konkurrentin Saskia damit in nichts nach. Gegenseitig bekämpfen sie sich mit allerlei fieser Tricks, nur um als Siegerin auf dem Podest zu stehen. Auch auf Gefühle jenseits der Ski-Bretter nehmen sie dabei keinerlei Rücksicht. Die bunt gemischte Gemeinschaft lebt das sorglose Dasein der Jugend mit viel Alkohol, Party und wechselnden Bettpartnern. Die Tage werden auf der Piste verbracht und so richtige Sorgen scheinen sie alle nicht zu haben, deshalb machen sie sich selbst welche.

Auch zehn Jahre später werden sie nicht wirklich sympathischer, alle haben offenbar Geheimnisse im Gepäck und sind unfähig einander offen und freundschaftlich zu begegnen. All dies tut der Spannung und Unterhaltung jedoch keinen Abbruch, im Gegenteil, fast ein wenig schadenfroh sieht man mit an, wie einem nach dem anderen böse mitgespielt wird. Die verzögerte Erzählweise durch die Rückblicke nehmen immer wieder Tempo raus, liefern dafür aber immer weitere Deutungspunkte über den augenscheinlich vorhandenen geheimen Gegenspieler.

Es wird sehr viel über Snowboarden und irgendwelche Sprünge gesprochen, die mir leider gar nichts sagten und deren Schwierigkeit und Raffinesse ich auch nicht im Geringsten einschätzen könnte. Über diese Passagen lässt sich jedoch locker hinweglesen. Insgesamt eine fesselnde Angelegenheit, die wunderbar zum feucht-kalten Herbst oder Winter passt und bestens unterhält.

Volker Jarck – Sieben Richtige

Volker Jarck – Sieben Richtige

Das ganz normale Leben zwischen Bochum und Köln, wie es eben so spielt mit seinen Zufällen. Die Ehe von Marie und Victor ist am Ende, ihr Sohn Nick lebt inzwischen in den USA und nach der Krebs-Diagnose zieht es Marie weg aus dem Ruhrgebiet zu ihrer Schwester an den Rhein. Ihre Nachbarn durchleben derweil im Sommer 2018 den größten Alptraum aller Eltern: ihre Tochter Greta wird durch einen übermütigen Raser lebensgefährlich verletzt. Im Krankenhaus arbeitet die Pflegerin Lucia, die ebenfalls eine schreckliche Nachricht erhält: ihr Vater starb durch einen Wespenstich an einer Autobahnraststätte; er war gerade dabei die Möbel der Autorin Eva Winter zu deren neuer Wohnung in Köln zu transportieren. Diese hat sie kurzfristig bekommen, da die Vormieterin Linda mit ihrem neuen Freund Tim zusammengezogen ist, beide waren einst Schüler von Victor, der seinerseits während seine Studiums von einer gemeinsamen Zukunft mit Eva träumte. Der Kreis schließt sich und die Uhr dreht sich unermüdlich weiter.

„Sieben Richtige“ – quasi der Sechser im Lotto plus Zusatzzahl, ein statistisch unwahrscheinliches Zusammentreffen der richtigen Zahlen im richtigen Moment, das aber dennoch regelmäßig vorkommt. Genauso verhält es sich mit den Begegnungen der Figuren in Volker Jarcks Roman. Nach vielen Jahren als Lektor hat er sich auf die andere Seite des Schreibens gewagt und das mit überzeugendem Ergebnis. Die Geschichten der einzelnen Figuren greifen immer wieder ineinander, sind verwoben und stoßen sich gegenseitig an und werden so zu einem stimmigen Ganzen.

Völlig lose voneinander erscheinen die Erzählungen zunächst, erst im Laufe der Handlung werden die vielfältigen Beziehungen deutlich, die es nicht nur 2018 gibt, sondern auch schon Jahrzehnte zuvor und ebenso viele danach geben wird. Sie sind Geliebte, Partner, Lehrer, Schüler, Nachbarn, Freunde, Ex-Partner, Kinder – in unterschiedlichen Konstellationen treffen wir sie an, mal heiter, mal traurig, beschwingt vom Moment des Glücks, am Verzweifeln ob der sich abspielenden Tragödie. Immer neue Verbindungen werden geschaffen und so einsteht eine kleine Welt in der großen, in der Gegenwart wie in Vergangenheit und Zukunft.

Für jede einzelne Figur sind es große Ereignisse, tatsächlich aber gibt es im Roman nicht die eine weltverändernde Begebenheit; die Geschichte lebt von der Normalität, in die sich jedoch der unglaubliche Zufall einschleicht, so wie er das tagtäglich überall tut. Vor allem das Ineinanderspielen der einzelnen Episoden fasziniert, macht das sichtbar, was Stanley Milgram einst als „Kleine-Welt-Phänomen“ bezeichnete: dass zwei unbekannte Menschen über 6-7 Personen miteinander verbunden sind.

Sprachlich routiniert erzählt mit kleinen, aber feinen Ausreißern nach oben (die Wespe!), ein Roman zum Aufschlagen und einfach nur genießen.

Jo Walton – Among Others

jo walton among others
Jo Walton – Among Others

Nachdem ihr Großvater, bei dem sie zuletzt lebte, einen Schlaganfall hatte, wird die 15-jährige Morganna, genannt Mori, zu ihrem Vater Daniel geschickt, den sie bis dato gar nicht kannte. Er und seine drei Halbschwestern entscheiden schnell, dass das Mädchen auf das Internat geschickt werden soll, das auch schon die Schwestern besucht hatten. Dort hält sie in einem Tagebuch ihre Erlebnisse fest. Sie ist anders als die Töchter reicher Eltern, hatte sie doch bis dato im ländlichen Wales gelebt, auch ihre Liebe zu Büchern, insbesondere Science-Fiction Romanen, kann sie mit niemandem teilen. Ebenso wenig die Tatsache, dass Magie einen wichtigen Platz in ihrem Leben einnimmt, die war es nämlich, die sie vor der bösen Mutter gerettet hat und was zu dem Unfall führte, bei dem ihre Zwillingsschwester Morwenna, ebenfalls Mori genannt, ums Leben kam und sie selbst an Hüfte und Bein schwer verletzt wurde. Mori lebt in ihrer eigenen Welt und der der Bücher, die sie in die Schulbibliothek, aber auch jene des kleinen Örtchens führen und unerwartet doch noch Seelenverwandte finden lassen.

Jo Waltons Roman, deutscher Titel: „In einer anderen Welt“, gewannt 2012 den Nebula Award, den Hugo Award sowie den British Fantasy Award als bestes Buch des Jahres. Für mich persönlich eine etwas irritierende Einordnung, denn ich hätte den Roman keineswegs als Fantasyroman bezeichnet, denn die Welt, in der Mori lebt, ist das typische Großbritannien des Jahres 1979. Lediglich ihr Glaube an Magie und Feen, mit denen sie sich auch unterhält, hebt sie von den anderen Jugendlichen ab. So wie Walton dies darstellt, hätte ich das Buch eher als magischen Realismus eingeordnet, vor allem, da immer wieder die Grenze zwischen psychisch gesund und krank verschwimmt und das Mädchen gerade hochtraumatische Erlebnisse hinter sich gebracht hat und völlig aus dem bekannten Leben geworfen wurde.

There are some awful things in the world, it’s true, but there are also some great books. When I grow up I would like to write something that someone could read sitting on a bench on a day that isn’t all that warm and they could sit reading it and totally forget where they were or what time it was so that they were more inside the book than inside their own head.

Trauer, Verlust, Ängste unterschiedlicher Art, fieses Mobbing, Umgehen mit einer sichtbaren Behinderung – Mori hat ein ordentliches Päckchen zu tragen und offenbar niemand, dem sie sich anvertrauen kann. Es bleibt ihr nur die Flucht in die Welt der Bücher, die ihr Sicherheit gibt und das reale Leben vergessen lässt.

Reading it is like being there. It’s like finding a magic spring in a desert. It has everything. (…) It is an oasis for the soul. Even now I can always retreat into Middle Earth and be happy. How can you compare anything to that?

Durch das Lesen, die Menschen, die sie in ihrem Buchclub kennenlernt und die langsame Annäherung an ihren Vater und den Großvater, findet sie zurück ins Leben. Es gibt immer noch Momente, die sie emotional überfordern und in denen sie sich von magischen Kräften bedroht fühlt – durch die eigene Mutter, die drei seltsamen Tanten – zunehmend gelingt es ihr aber auch, die Kontrolle darüber zu gewinnen.

Durchaus ein recht typischer coming-of-age Roman, der jedoch vor allem dann große Freude bereitet, wenn Mori ihre Gedanken über Bücher teilt, die sie regelrecht verschlingt. Tatsächlich hätte ich mir am Ende eine Liste mit allen Bücher, die erwähnt werden, gewünscht. Wundervoll erzählt, mit ganz viel Liebe zur Protagonistin und der Literatur, so dass man wirklich einmal abtauchen und aus der Wirklichkeit verschwinden kann.

Leon De Winter – SuperTex

leon de winter supertex
Leon De Winter – SuperTex

Weil seine unfähige Sekretärin eine Akte vertauscht hat, kann Max Breslauer jetzt den wichtigen Anruf nicht tätigen und muss am Samstagmorgen ins Büro. In seinem Porsche rast er mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch Amsterdam und fährt prompt einen chassidischen Jungen an. Wie kann er als Jude überhaupt zu dieser Zeit in einem Auto sitzen, noch dazu in einem Porsche? Plötzlich bricht alles über ihn herein und er ruft Dr. Jansen an, eine Psychologin, bei der er schon einmal in Behandlung war. Er drängt sie, den ganzen Tag für ihn zu reservieren und auf der Couch kommt er tatsächlich nicht nur ins Reden, sondern muss sich seinem ganzen Leben stellen: der komplizierten Beziehung zu seinem Vater, der das SuperText Imperium aufgebaut hatte, das er jetzt leitet; seine gescheiterte Beziehung zu Esther und das Verhältnis zu seinem jüngeren Bruder Boy. Was steckt hinter der Fassade Max Breslauer, dem erfolgreichen Unternehmer?

Leon de Winters Roman erschien bereits Anfang der 1990er Jahre auf Niederländisch, doch der Text hat nichts von seiner Aussagekraft verloren. Ganz im Gegenteil, für mich zeigt sich gerade in diesem Buch de Winters die besondere Stäke des Welt-Literatur- und Buber-Rosenzweig-Medaillen-Preisträgers: er lässt die großen Fragen des Lebens in einem einzigen Augenblick kulminieren und führt vor allem die Spannung zwischen weltlichem und religiösem Leben und der Bedeutung der Wurzeln zu einem grandiosen Höhepunkt. Interessant, wenn auch unbeantwortet, bleibt dabei die Frage, wie viel von de Winter selbst in seinem Protagonisten steckt. Ganz sicher jedoch steckt in dem Roman sehr viel jüdischer Humor und Ironie, die hervorragend mit der Melodramatik der Handlung austariert sind.

Max Breslauer ist – genau wie sein Vater – fast schon eine Karikatur des wohlhabenden Juden: wirtschaftlich erfolgreich, selbstherrlich; arrogant und jähzornig gegenüber anderen und rücksichtslos, wenn es ums Geschäft geht. Doppelmoral wird von beiden entspannt gelebt: geheiratet wird nur ein jüdisches Mädchen, mit wem man daneben noch das Bett teilt, ist weniger relevant; Regeln des Kashrut werden eher nach Bedarf ausgelegt denn befolgt; wenn es der Sache jedoch dient, kann man sich auch zügig wieder seiner jüdischen Herkunft besinnen und die Erlebnisse des Holocaust als Argumentationsschleuder verwenden. Dies entlässt Max jedoch nicht aus dem schwierigen Verhältnis zu dem Familienoberhaupt, das einst als einziger das Konzentrationslager überlebt hat. Sind es zunächst typisch pubertäre Streitigkeiten, führen die Auseinandersetzungen jedoch schließlich so weit, dass der Sohn beinahe zum Vatermörder wird.

Über den Bruder erfährt man zunächst nur, dass dieser in Casablanca sitzt, die ehemalige Partnerin ist nach Israel geflohen. Es scheint als wenn Max ein Händchen für komplizierte Beziehungen hätte, die sich vor allem dadurch lösen lassen, dass die anderen davonlaufen. Doch der Tag der Läuterung ist bereits angebrochen und auch wenn weitere Rückschläge noch an selbigem drohen, ist der Wandlungsprozess nicht mehr aufzuhalten.

Ganz herrliche Szenen hat de Winter in seinem Roman geschaffen – allein das Essen beim ersten Besuch der Freundin erinnert fast einen Sketsch aus Loriots Hand – auch die Erkenntnis des Protagonisten führt über eine gehörige Portion Selbstironie. So wird das analytische Gespräch zu einer unterhaltsamen Angelegenheit und bleibt trotz der Tragik leicht im Ton.