Andreas Stichmann – Eine Liebe in Pjöngjang

Andreas Stichmann – EIne Liebe in Pjöngjang

Claudia Aebischer reist als Leiterin einer Besuchergruppe zur Einweihung einer Deutschen Bibliothek nach Nordkorea. Sie war schon häufiger da, kennt die Gepflogenheiten und ist auch nicht mehr darüber verwundert, wie sich die Welt mit dem Grenzübertritt schlagartig verändert. Doch dieses Mal ist etwas anders, denn sie lernt Sunmi kennen, hochbegabte Dolmetscherin und Agentin, die ihr einen anderen Blick auf das fremde Land und sich selbst ermöglicht.

Andreas Stichmann hat bereits zahlreiche Förderstipendien und Preise erhalten, weshalb seine Nominierung für den Deutschen Buchpreis nur eine Frage der Zeit war. „Eine Liebe in Pjöngjang“ entstand nach einer Nordkoreareise, wenn auch das zentrale Thema universell ist und das abgeschottete kommunistische Land nur die Kulisse für die Liebe der beiden Frauen bildet. Ein insgesamt sehr literarischer Roman mit zahlreichen Anspielungen und Intertextualitäten, der sicherlich eher Leser mit einem entsprechenden Hintergrund anspricht und begeistert.

Die beiden Protagonistinnen sind nicht nur Dreh- und Angelpunkt der Handlung, sondern derart widersprüchlich, gegensätzlich und verschieden angelegt, dass ihr Tanz zueinander zu einem interessanten Spiel wird, dem man mit wachsender Spannung folgt. Es werden Grenzen überschritten, Regeln unterwandert und Freiheiten genommen, die es eigentlich nicht geben darf. Sprachlich pointiert entsteht eine Liebe jenseits von allem Kitsch und abgedroschenen Phrasen.

Pjöngjang und die Funktionsweisen des Landes werden nicht erklärt, Stichmann berichtet kaum etwas, das man nicht schon wusste oder zumindest erahnte, er politisiert nicht, sondern schafft einen Rahmen, in dem trotz aller Widrigkeiten etwas wachsen und gedeihen kann.

Ein kurzer Roman, der mich sofort begeistern konnte und nicht mehr losließ. Eine intensive Geschichte, die sich auf das Wesentliche konzentriert und genau damit überzeugt.

Yael Inokai –  Ein simpler Eingriff

Yael Inokai – Ein simpler Eingriff

Marianne ist die neue Patientin, die die Krankenschwester Meret vor der innovativen Behandlung betreut. Es ist ein simpler, aber wirkungsvoller Eingriff, der Mariannes Wut, die sie schon ihr Leben lang begleitet, endlich für immer eindämmen soll, so dass Marianne ein normales Leben führen kann. Unzählige Mal schon hat der Arzt die Operation erfolgreich durchgeführt, auch wenn die Nebenwirkungen bisweilen erheblich sind, aber das Leiden, das die Frauen zu ihm führten, konnte behoben werden. Meret mag ihre Arbeit und vertraut dem Arzt, doch dieses Mal geht etwas schief und die Zweifel, die sie bis dato in ihrem Inneren versteckt hatte, kriechen jetzt langsam hervor. Sie fühlt sich mitschuldig daran, das Verfahren lange Zeit unterstützt zu haben, und muss sich nun in ihrem Leben neu justieren.

Yael Inokai hat mich vor einigen Jahren mit ihrem Roman „Mahlstrom“, für den sie mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, bereits beeindrucken können. Auch „Ein simpler Eingriff“ spielt wieder in einem sehr kleinen und engen Setting, das die Handlung auf das Wesentliche konzentriert und doch die großen Fragen aufreißt. Vieles bleibt schleierhaft und vage, man weiß weder genau wann, noch wo die Geschichte spielt, aber die Protagonistin, die man als Leser begleitet, durchlebt stellvertretend große Emotionswogen, die einem gleichermaßen mitreißen.

Der Roman bietet ein großes Spektrum an Sinnfragen an, denen man nachhängen kann. Zentral natürlich die ethisch-moralische Frage danach, was Medizin darf und was die Mehrheitsgesellschaft als „normal“ oder „akzeptabel“ definiert. Die psychische Erkrankung der meist jungen Frauen scheint hierbei etwas aus der Zeit gefallen, verbindet man dies doch eher mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, als die typisch weibliche Hysterie die Mediziner faszinierte.

Auch Meretes erste Erfahrungen der Liebe, so natürlich und unschuldig sie entstehen, erscheinen bald für die anderen Figuren als fragwürdig. Gleichermaßen angerissen das Verhältnis zur Schwester, die ausbrach aus dem starren vorgefertigten Rahmen und nach eigenen Maßstäben lebt. Machtverhältnisse von Männern als Chef und Frauen als Untergebenen, aber genauso von älteren Frauen, die qua Erfahrung den Freibrief zur Tyrannei glauben erhalten zu haben – viele Facetten des Lebens werden von Inokai als Angebot zum Nachdenken gemacht. Sie beantwortet diese nicht, gibt keine Lösungen vor oder wertet. Die Sprache, die ich oft nüchtern und sachlich empfand, unterstützt die Distanz, die durch den Erzähler geschaffen wird und so Raum für den Leser und seine Gedanken eröffnet.

Eine Einladung zum Dialog mit sich selbst. Eine Geschichte, die mir erst durch die Nominierung auf der Longlist des Deutschen Buchpreis aufgefallen ist, wo sie ihren Platz mehr als verdient hat.

Hanna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt

Hanna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt

Kayleigh braucht einen neuen Job, da klingt das, was sie bei HEXA tun muss, geradezu verlockend: Internetbeiträge anschauen und unangemessene Inhalte löschen. Kann so schwer ja nicht sein. Doch die Rahmenbedingungen sind hart und das, was die Mitarbeiter zu sehen bekommen, geht oftmals über das Ertragbare hinaus. Schnell wird eine verschworene Gemeinschaft aus der neuen Gruppe. Doch der Druck, das auszuhalten, was man Minute für Minute, Stunde für Stunde an Abgründen zu sehen bekommt, wird bald zur Belastung. Schließlich verklagen einige HEXA, Kayleigh jedoch nicht, einem Anwalt, der sie immer wieder mit Fragen bombardiert, erläutert sie, weshalb sie sich nicht anschließen möchte.

Hanna Bervoets Roman ist mir in den letzten Wochen mehrfach begegnet, weshalb ich neugierig auf das Buch wurde.  „Dieser Beitrag wurde entfernt“ klang nach einem ähnlichen Thema wie Dave Eggers „The Circle“ und ich erwartete aufgrund des Klappentextes, meine Sensationslust mit einem Blick hinter die Kulissen eines Internetkonzerns stillen zu können. Leider musste ich schnell feststellen, dass das eigentliche Thema des Romans ein ganz anderes ist und es vorrangig um enttäuschte Liebe geht und die Arbeit bei HEXA nur den Hintergrund für diese liefert.

Bei Kayleighs Training bekommt man zwar Einblicke in die Regeln, nach welchen Beiträge gelöscht werden oder online bleiben, auch werden immer wieder Beispiele für unangemessene Inhalte eingefügt, aber dies bleibt nebensächlich. Die Figuren durchlaufen eine gewisse Entwicklung, denn so ganz spurlos kann diese Arbeit an niemandem vorbeigehen, mit Kayleigh als Erzählerin bleibt dies jedoch auch flüchtig und nur von außen sichtbar, sie selbst scheint kaum belastet durch das kritische Material. Ihr Thema ist Sigrid, eine Kollegin, in die sie sich verliebt und mit der sie eine Beziehung beginnt. Bald schon treten die ersten Schwierigkeiten auf, die sich noch kitten lassen, aufgrund ihrer bestimmenden und manipulativen Art, ist jedoch der große Knall mit Sigrid vorprogrammiert.

Aufgrund der Kürze mit nur knapp über 100 Seiten kann man sicherlich keine tiefgreifende Psychologisierung erwarten, vieles bleibt an der Oberfläche und wird nur angerissen. Da, wo es endlich spannend und interessant wird – wie gehen die Figuren mit den Verschwörungstheorien um, wer kann ihnen standhalten und warum, wie erträgt man brutale Gewaltexzesse ohne selbst aggressiv zu werden, welche Verantwortung tragen die Mitarbeiter, die von Straftaten erfahren – reißt die Handlung immer wieder ab, dabei wäre es das Motiv wert gewesen, tiefer beleuchtet zu werden. Thematisch hatte ich leider auch gänzlich andere Erwartungen, eine Frau, die einer toxischen Beziehung nachweint, ist schlichtweg nicht mein Thema und so konnte ich auch nur wenig Sympathie für die Erzählerin aufbringen.

Gute Ansätze, aus denen sich was hätte entwickeln können, die jedoch ohne Tiefgang bleiben und eine etwas irreführende Beschreibung – leider nicht mein Roman.

Miku Sophie Kühmel – Kintsugi

Miku Sophie Kühmel – Kintsugi

Kintsugi – das japanische Kunsthandwerk, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu kitten.

Ein Wochenendhaus in der Uckermark. Reik und Max haben ihren langjährigen Freund Tonio und dessen inzwischen erwachsene Tochter Pega eingeladen. Alles ist wie immer, schon seit inzwischen zwanzig Jahren bildet das Quartett eine Art freiwillige Familie, Reik und Max haben Pega ebenso mit erzogen und aufwachsen sehen wie Tonio. Frauen gab es keine, die vermisste auch niemand. Alles scheint perfekt, doch das scheinbar glückliche Bild bekommt nach und nach immer feinere Risse, die irgendwann in Brüchen enden. Ein Wochenende, das ein Ende und Anfang ist, an dem vieles infrage gestellt, anderes bestätigt wird.

Miku Sophie Kühmel verleiht ihren vier Figuren einem nach dem anderen eine Stimme, um ihre Sicht des Jetzt, aber auch der vergangenen zwei Jahrzehnte zu schildern. „Kintsugi“ ist dafür als Titel hervorragend gewählt, denn es wird versucht nochmals zu kitten, was schon zerbrochen ist. Vier Perspektiven auf das Leben, die das Ungesagte offenlegen und zeigen, was unter der Oberfläche versteckt wird.

Alle erwachsenen Männer haben mit Selbstzweifeln und Unsicherheiten zu kämpfen, die sie jedoch verstecken. Max ist erfolgreicher Professor, der von seinen Studierenden bewundert wird, dies aber gar nicht wahrnimmt, sondern immer nur sieht, wie erfolgreich sein Partner ist. Reiks Kunst begeistert weltweit und hat ihn reich gemacht, für ihn jedoch ist Tonio das größte Kunststück geglückt: seine Tochter. Alles, was er erschafft, verblasst daneben und wird bedeutungslos. Tonio hingegen hat keine Karriere gemacht trotz bester Voraussetzungen als Musiker und ob er als alleinerziehender Vater so erfolgreich war, stellt er ebenfalls infrage. Pega hat drei ganz unterschiedliche Vorbilder und erkennt, wie schwer es für alle Männer in ihrem Leben sein wird, an diese auch nur ansatzweise heranzureichen.

Es geht um nicht weniger als das Leben und den Sinn desselben. Obwohl sie etwas aus den wenigen Chancen gemacht haben, bleibt bei Reik, Max und Tonio die Frage, ob nicht auch alles ganz anders hätte kommen könne, ob sie nicht etwas verpasst haben, den falschen Weg eingeschlagen haben. Es sind die Zweifel, die wir alle mit uns herumtragen und die uns blind machen für das Schöne und Gute in unserem Leben. Die das verdecken, was Außenstehende bewundern und beneiden und uns verleiten, Dinge aufzugeben, die schwer erkämpft wurden und wertvoll sind.

Ein wundervoll erzählter Roman, der tief in die Seele und Gedankenwelt der Figuren abtaucht und beim Leser Denkprozesse anstößt, die auch nach der letzten Seite noch fortdauern.

Andrej Kurkow – Samson und Nadjeschda

Andrej Kurkow – Samson und Nadjeschda

Seine Mutter und seine Schwester sind bereits verstorben und nun hat auch sein Vater den Überfall auf sie beiden nicht überlebt. Der 17-jährige Samson ist auf sich allein gestellt und das mit nur noch einem Ohr. Als das Geld knapp wird – wie alles andere in den Wirren der Revolution von 1919 – stellt er sich bei der Miliz vor und erhält den Job, jemand, der schreiben kann, ist eindeutig nützlich. Kiew versinkt langsam im Chaos und Samsons erster Fall ist mehr als mysteriös: Diebstähle von Silber, während das Gold und Diamanten nicht angetastet werden, ein unfertiger Anzug in seltsamem Format und der ermordete deutsche Schneider Balzer. Samson stürzt sich in die Arbeit, wenn sein Vorgehen auch für Verwunderung sorgt.

Andrej Kurkows Roman „Samson und Nadjeschda“ ist der Auftakt einer historischen Krimiserie um den cleveren Samson Koletschko, der zur unübersichtlichen Zeit der Revolution spielt. Plötzlich auf sich allein gestellt muss er das Beste aus seiner Situation machen, mit der Hausmeisterwitwe und mit Nadjeschda hat er jedoch auch zwei patente Frauen an seiner Seite.

Samson löst den Fall mit Beharrlichkeit und guter Beobachtungsgabe. Dass er dabei von den üblichen Wegen abweicht und seinen Vorgesetzten mehr als einmal verwundert, erstaunt nicht, er hat die Ermittlungsarbeit ja nicht gelernt, bringt aber alles mit, um mit den richtigen Fragen und Schlüssen dem Geheimnis auf die Schliche zu kommen.

„Wenn ein Mensch sich in sein Gegenteil verkehrt, kann er auch mit Gut und Böse durcheinanderkommen.“

Neben der Kriminalhandlung überzeugt der Roman vor allem durch die Atmosphäre. Das Chaos der Revolution wird greifbar, Freund und Feind reichen als Kategorien nicht mehr aus und Sicherheit wird ein rares Gut. Redlichkeit und Gerechtigkeitssinn, wie Samson sie zeigt, werden immer seltener. Er ist zwar nicht ganz unbezwingbar wie sein biblischer Namensvetter und seine Liebe zu Nadjeschda wird ihm hier auch nicht zum Verhängnis, aber seinem Volk Gerechtigkeit zu verschaffen, ist auch sein Ziel.

Eine überzeugende Geschichte, mit ungewöhnlicher Falllösung, die atmosphärisch sofort verfängt.

Martin Kordić – Jahre mit Martha

Martin Kordic – Jahre mit Martha

Željko Kovačević, von allen nur Jimmy genannt, wächst in Ludwigshafen auf. Vom kroatischen Sohn eines Bauarbeiters und einer Putzfrau erwartet man nicht viel, schon gar nicht, dass er heimlich Zeitungen klaut, um neue Wörter zu lernen. Die geringe Erwartung der Welt spornt ihn an und die Arbeitgeberin seiner Mutter, Martha Gruber, ihrerseits Professorin, unterstützt ihn dabei. Es ist eine besondere Beziehung, die den 15-Jährigen mit der erwachsenen Frau verbindet und die fortbestehen wird, über seinen Schulabschluss und das Literaturstudium hinaus.

Der Lektor und Autor Martin Kordić beschreibt in seinen zweiten Roman „Jahre mit Martha“ eine Liebe, die nicht sein kann und den unbändigen Wunsch nach einem Leben, das für den jungen Željko nicht vorgesehen ist: Die Welt der Bildung, der Bücher und des souveränen Bewegens in der Mehrheitsgesellschaft. Es ist ein Roman über das Erwachsenwerden, des Aufeinandertreffens von Kulturen und der Suche nach dem Platz im Leben.

Jimmy reiht sich eine in eine ganze Riege von zweiter Generation von Einwanderern, die in den letzten Jahren literarisch verarbeitet wurden und die sich mit großen Steinen konfrontiert sehen, was ihre Zukunftschancen angeht. Sie bewegen sich sensibel zwischen den beiden Welten, zwischen dem Zuhause, das oftmals noch den Regeln des elterlichen Herkunftslandes folgt, und der Mehrheitsgesellschaft, für die sie Fremde sind. Treffen sie auf die richtigen Menschen, die sie als Mentoren fördern und den Zugang ermöglichen, öffnet sich ihnen eine neue Welt.

Doch zwischen Jimmy und Martha besteht keine platonische Beziehung, sondern eine einzigartige Liebe, die über Jahre dauert und nie wirklich ausgelebt werden kann. Es ist fast so, als sei da immer ein Band gewesen, dass sie verbindet, unsichtbar für die Außenwelt, mal lockerer, mal enger. Auch wenn man als Leser zunächst stutzt aufgrund des Altersunterschieds und der Tatsache, dass Jimmy bei ihrer Begegnung minderjährig ist, so ist es doch eine intellektuelle Verbindung, von Bewunderung des Jungen geprägt, an der nichts falsch zu sein scheint.

Ein Roman, in dem man sich sofort verliert und dessen junger Protagonist von der ersten Seite an begeistert.

Christian Huber – Man vergisst nicht, wie man schwimmt

Christian Huber – Man vergisst nicht, wie man schwimmt

Es ist der 31. August 1999. Pascal genannt Krüger und sein Freund Viktor sind 15 und wollen einen der letzten warmen Sommertage genießen. Es wird ein Tag und eine Nacht, die emotional ein ganzes Leben sein könnten: sie haben Spaß, kommen in Gefahr, erleben die erste Liebe, verlieren beinahe ihr Außenseiterimage – aber vor allem wird ihre langjährige Freundschaft gleich mehrfach auf die Probe gestellt. Es ist der Tag, der ihr Leben verändern wird und an den sich Pascal sein Leben lang, selbst als er schon längst erwachsen ist und zurückblickt, erinnern wird, als wenn es gestern gewesen wäre.

Christian Huber ist mit verschiedenen Comedy-Formaten bekannt geworden, auch sein Podcast „Gefühlte Fakten“ gehört zu den erfolgreichsten des Landes. „Man vergisst nicht, wie man schwimmt“ ist ein Coming-of-Age Roman, der die emotionale Achterbahnfahrt der Zeit auf wenige Stunden verdichtet und auch ein wenig Nostalgie ob der Zeit von Oasis, Nokia Handys und unendlichen Sommerferien mitschwingen lässt.

Der Ich-Erzähler Pascal wird von allen nur Krüger genannt, warum bleibt zunächst sein Geheimnis, es muss aber damit zusammenhängen, dass er nicht mehr schwimmen geht und immer auch zwei T-Shirts übereinander trägt. Die schwierigen Familienverhältnisse von ihm und Viktor werden immer wieder angedeutet, im Vordergrund steht jedoch der einschneidende Tag, der minutiös berichtet wird. Es sind ganz banale, typische Erlebnisse, zu denen sich jedoch auch die ganz großen unerwarteten gesellen.

Krüger stößt mit der Ladendiebin Jacky zusammen und die beiden Jungs folgen den faszinierenden Mädchen zu dem Zirkus, mit dem sie durch das Land reist. Am folgenden Tag wird die abreisen und für immer verschwinden – nicht viele Stunden, die reichen jedoch, um in Krüger alles zu verändern.

Der Roman reiht sich in eine ganze Riege von Sommerferienerzählungen ein, die prägend sind für die Protagonisten, für mich in etwa wie Ewald Arenz‘ „Der große Sommer“ und Benedict Wells‘ „Hard Land“. Man folgt den beiden Jungen gerne, durchlebt mit ihnen ihre Abenteuer zwischen jugendlichem Übermut und der bekannten Unsicherheit, die gleichermaßen mit ihr einhergeht.

Große Emotionen, die einem sofort einfangen und mitnehmen auf die Reise durch einen die Welt der Protagonisten verändernden Tag.

Taylor Jenkins Reid – Die sieben Männer der Evelyn Hugo

Taylor Jenkins Reid – Die sieben Männer der Evelyn Hugo

Evelyn Hugo – einer der größten Stars, die Hollywood je hervorgebracht hat und die auch mit fast 80 Jahren noch alle zum Luft anhalten bringt, wenn sie irgendwo auftaucht. Sie will Monique Grant, eine unbekannte Journalistin, um ihre Biografie zu schreiben. Warum ist nicht nachvollziehbar, doch die Diva macht klar: sie oder niemand. Monique besucht sie täglich in ihrem luxuriösen Appartement in Manhattan und lernt eine ganz andere Seite der Frau kennen, die die Öffentlichkeit als Sex Bombe und Gattin von sieben Ehemännern abgespeichert hat. Ein Leben voller Kämpfe, Siegen und Niederlagen – und voller Leidenschaft, die jedoch nur im Verborgenen existieren konnte. Monique ist fasziniert von der Frau, die vor ihr alle Schandtaten und Emotionen ausbreitet – doch es bleibt die Frage: warum sie? Welchen Grund hat die Schauspielerin, ausgerechnet Monique Grant all das anzuvertrauen?

„Die sieben Männer der Evelyn Hugo“ ist der Roman, mit dem die amerikanische Schriftstellerin Taylor Jenkins Reid ihren Durchbruch schaffte, der jedoch auf Deutsch erst fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung erscheint. Mich hat die Autorin mit ihren fabelhaften Romanen „Daisy Jones & The Six“ und „Malibu Rising“ bereits restlos überzeugen können und genau das, was mich dort begeistern konnte, findet sich auch bei Evelyn Hugo: Figuren, die so authentisch und lebendig wirken, als würde man mit ihnen im Raum sitzen und all das erleben, was sie gerade durchmachen. Ein emotionales Auf und Ab, das ein großes und geheimnisvolles Leben offenbart, von dem man gar nicht glauben kann, dass es nicht real gewesen sein soll.

Immer wieder erinnert die Autorin geschickt daran, dass über der ganzen Geschichte ein Geheimnis hängt, das es noch zu lüften gilt. Dies kann jedoch nicht von dem schillernden Leben der Protagonistin ablenken, die am Ende ihres Lebens angekommen nichts mehr zu verbergen hat und frank und frei ihrem deutlich jüngeren Gegenüber alle richtigen wie auch falschen Entscheidungen offenbart. Es enthüllt sich das Leben einer Frau, die zum Star geboren war, die für ihre Chancen kämpfte, egal wie groß die Steine waren, die man ihr in den Weg legte. Sie war aber immer auch intelligent genug, die Grenzen zu kennen, jene, die Hollywood Frauen in den 50er und 60er Jahren auferlegte und jede der Gesellschaft, die noch nicht bereit war, jede Form von Liebe zu akzeptieren.

Ein Roman voller Leidenschaft, die nicht wenig Leiden schaffte, der schillernd Liebe und Freundschaft in allen Facetten schildert. Evelyn Hugo ist nicht verbittert, sie hat auch keine große Beichte mehr abzulegen, sie ist mit sich im Reinen und hat – trotz mancher Fehler – das Leben gelebt, das sie leben wollte. Emanzipiert lange bevor der Begriff geprägt wurde und doch den Konventionen unterworfen – Taylor Jenkins Reid fängt Widersprüche ein und lässt sie doch nachvollziehbar und plausibel werden.

So wie die Journalistin Monique zugleich fasziniert ist, wird man auch als Leser unmittelbar gefangen und folgt mit Sensationsgier wie auch Neugier den Schilderungen, ahnend, dass es noch einen Aspekt gibt, der womöglich alles zunichtemacht, was vorher an Begeisterung und Zuneigung für die Hauptfigur aufgebaut wurde. So entsteht eine Geschichte, die mitreißt auf der emotionalen Achterbahn, aus der man am Ende etwas durchgeschüttelt, aber mit absolutem Hochgefühl aussteigt.

Frank Heer – Alice

Frank Heer – Alice

Obwohl die Trennung von seiner Jugendfreundin Alice schon einige Zeit zurückliegt, ist Max Rossmann noch nicht ganz über sie hinweg. Als er jedoch in einem Club eine noch unbekannte Sängerin sieht, ist er sofort fasziniert von ihr. Sie heißt ebenfalls Alice und er nutzt seinen Job als Lokaljournalist beim Der Anzeiger, um über sie zu berichten und sich ein Interview mit ihr zu sichern. Sie nähern sich an, dank seines Berichts kommt Alice auch zu ungeahnter Popularität, doch dann verschwindet sie plötzlich. Dafür taucht die andere Alice wieder auf und Max wird bei seinem Zeitungsjob gefordert: nicht nur scheint ihn ein mysteriöser Anrufer zu stalken, auch die Erkenntnis, dass er nicht einfach alles berichten kann, wie er möchte, setzt ihm zu.

Frank Heer teilt einige Charakteristika mit seinem jungen Protagonisten: der Journalist schreibt ebenfalls über Musik und Film und lebt in Zürich. „Alice“ schildert nicht nur die Kompliziertheit von jugendlicher Liebe, sondern auch das Erwachsenwerden und Ankommen in einer Welt, in die man nicht hineinpasst, in der andere Werte gelten als die, von denen man überzeugt ist, und die vor allem aus Kämpfen zwischen den Generationen zu bestehen scheint. Der Autor fängt dabei nicht nur das Gefühl der Jugend ein, sondern auch das der 70er Jahre, das zwischen politischen Aktivismus und drogeninduziertem Eskapismus vor den Gräuel der Realität oszilliert.

Auch wenn die beiden Frauen Namensgeberinnen des Romans sind, ist doch Max die zentrale Figur, an der Heer die Konflikte des Heranwachsens authentisch abarbeitet. Die Erwartungen seiner Eltern, den biederen Anwaltsweg zu gehen, kann und will er nicht erfüllen. Zeiten von Sinnsuche, die hohe Identifikation mit Musik, die es schafft, die Emotionen zum Ausdruck zu bringen, für die ihm die Worte fehlen. Bei seiner Arbeit für die Zeitung lernt er nicht nur das Schreiben, sondern auch Zwänge kennen, von denen er nichts ahnte. Ungerechtigkeiten, die er empfindet, gehen gegen die Interessen des Besitzers und können nicht veröffentlicht werden. Der der Jugend eigenen Kampf für die großen Werte wird für ihn zur Zerreißprobe und er muss sich entscheiden, auf welcher Seite er stehen will.

Die beiden Alice könnten kaum verschiedener sein und doch oder vielleicht auch gerade deshalb haben sie ihren Reiz. Unterschiedliche Lebensentwürfe, in denen Max sich spiegelt und die er als Reflexionsfläche benutzt. Die Handlung ist auf eine kurze Spanne beschränkt, die Max auf eine emotionale Achterbahn schicken und Entscheidungen fordern. Die ganze Bandbreite des Lebens bricht über ihn herein, überfordert bisweilen, lässt ihn jedoch auch wachsen und seinen Platz finden.

Ein dichter, aber restlos überzeugender Roman, dem es gelingt, mit passender Atmosphäre die Zeit der Unsicherheit und des Schwankens einzufangen.

Kacen Callender – Felix Ever After

Kacen Callender – Felix Ever After

Schon als kleiner Junge wusste Felix Love, dass irgendetwas sich komisch anfühlt. Er wollte nicht mit den Mädchen spielen, keine Kleider tragen, sondern lieber mit den Jungs toben. Als er sich in einem Buch wiedererkennt, versteht er, dass er transgender ist. Sein Vater, mit dem er alleine in Harlem lebt, nachdem seine Mutter sie verlassen hat, ermöglicht ihm die Transition und dank des Umzugs ist ein Neuanfang als Junge möglich. In seiner Schule geht er offen damit um, was für die Mitschüler kein Problem zu sein scheint, bis er transphobe Nachrichten bekommt und sein Deadname zusammen mit einem alten Bild von ihm veröffentlicht wird. Eigentlich will der 17-Jährige sich doch nur verlieben und seine Kunstmappe für die Bewerbung an der Uni vorbereiten, doch jetzt muss er herausfinden, wer ihn in immer stärkerem Maße mobbt und keineswegs so aufgeschlossen ist, wie Felix es von allen dachte.

Kacen Callenders Roman ist stark von den persönlichen Erfahrungen der Autorin geprägt. Sie identifiziert sich als trans und queer und bevorzugt im Englischen die Pronomen they/them. Der Roman wurde mit dem „Stonewall Children’s and Young Adult Literature“ ausgezeichnet, der herausragende Bücher ehrt, die LGBTIQ+ Erfahrungen literarisch umsetzen. „Felix Ever After“ beschreibt sehr eingängig, wie Felix seine Identität sucht und gleichzeitig, welche Erlebnisse der Jugendliche in einer vermeintlich offenen Gesellschaft macht, in der Pride Parades als Happening gefeiert werden, wo aber im Alltag genauso rassistische wie LGBTIQ+ feindliche Aussagen und Handlungen an der Tagesordnung sind.

Was mir besonders gefallen hat, war, dass die Geschichte verdeutlicht, dass der Protagonist ein völlig normaler Jugendlicher ist, der sich verlieben möchte, den typischen Schulalltag erlebt und sich Sorgen um seine Zukunft macht. Er unterscheidet sich in dieser Hinsicht in keiner Weise von allen anderen Gleichaltrigen, was häufig vergessen wird, wenn diese Gruppe auf das Geschlecht bzw. die Geschlechtsidentität reduziert wird. Er ist sich unsicher, was seine Gefühle angeht, wünscht sich nichts mehr als den emotionalen Rausch und die großen Gefühle, die er bei anderen beobachtet.

Dennoch ist er anders, denn nicht jeder wird mit solchen Angriffen konfrontiert und Kacen Callender zeigt auch gut nachvollziehbar, dass trotz der Transition die Suche nach der Identität, nach einem passenden Label – gibt es das überhaupt? – nicht abgeschlossen ist, sondern weiterhin Fragen und Unsicherheiten bleiben. Felix geht offen mit seiner Situation um, was ihn angreifbar macht. Im Inneren ist er aber nicht der laute, selbstbewusste Junge, sondern voller Zweifel, die er schließlich schafft künstlerisch umzusetzen und nach außen zu kehren.

Ein gelungener Roman für Leser, die sich der Thematik annähern und diese besser verstehen lernen wollen, aber genauso sicherlich auch für junge Leser, die womöglich auf der Suche nach Vorbildern sind oder hier eine Antwort auf das finden können, was sie womöglich fühlen, aber nicht einordnen können.