Pascal Ruter – Monsieur Bonheur geht auf Reisen

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Pascal Ruter – Monsieur Bonheur geht auf Reisen

Nur weil er schon 85 ist, heißt das doch noch lange nicht, dass er keinen Neustart in seinem Leben mehr machen kann, oder? Kurzentschlossen lässt sich Napoléon von seiner Joséphine scheiden und fordert seinen Enkel Coco auf, gemeinsam mit ihm das Haus zu renovieren. Dies ist erst der Anfang für eine ganze Reihe von Abenteuern, die der 10-jährige seinem Freund Alexandre Rawcziik berichtet. Mal endet die Geschichte mit dem im Kofferraum eingeschlossenen Großvater, mal muss die Feuerwehr in letzter Sekunde eingreifen. Dazwischen erinnert sich Napoléon immer wieder an seine große Zeit als Boxer, die ein jähes Ende mit der Niederlage gegen Rocky nahm. So sehr er seinen Großvater liebt, zunehmend beunruhigen Coco die Erinnerungslücken und das seltsame Verhalten des alten Mannes, den er liebevoll „Kaiser“ nennt. Er ist zu seinem letzten Kampf angetreten:

„So fing die letzte Schlacht meines Kaisers an, was für eine ungleiche Schlacht! Der Feind war nicht zu fassen. Er kannte die Schwachstellen und traf zielsicher dorthin. Es ging gegen den Körper, den Kopf, das Herz. Er wusste, welche Schläge schmerzten, entmutigten oder demütigten; er beherrschte das gesamte Spektrum des Spiels bis zur Perfektion, konnte ebenso gut ausweichen wie antäuschen und genehmigte Napoléon keine Verschnaufpause. Tag und Nacht, beständig setzte er Napoléon zu.”

Pascal Ruter unterrichtet als Französischlehrer an einem Collège in Paris und wurde in Frankreich vor allem durch seine Kinderbücher bekannt. „Monsieur Bonheur geht auf Reisen“ ist eine bittersüße Geschichte über den langsamen aber unaufhaltsamen Verfall des geliebten Großvaters, aus Sicht des Enkels beschrieben, was die grausame Realität, die Cocos Vater nicht entgeht, durch den naiven Blick deutlich abmildert. Vom Stil erinnerte mich das Buch ganz eindeutig an Fredrik Backmans Ove oder auch an die Bücher von Antoine Laurain.

Ist man zunächst noch amüsiert von den Eskapaden und Ansichten des alten Mannes – eine minutiös geplante Entführung, der Sohn, der offenkundig bei so vieler Lernerei auf die falsche Bahn geraten sein muss, das Aufmischen des Krankenhauspersonals nach dem Bruch eines Rückenwirbels – wird doch bald das Ausmaß ersichtlich und kann sich auch dem Enkel nicht mehr verbergen:

„Mein Kaiser war in Bestform. Doch schon bald bemerkte ich, dass der Arm, mit dem er sich auf der Lehne abstützte, kaum merklich zitterte. Sein Lächeln war leicht angespannt, und winzige Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Ich hatte ein hübsches Bild meines Kaisers vor mir, wollte aber nicht, dass ebendieses Bild vor meinen Augen zerfiel.”

Doch bevor der alte Junge sich final geschlagen gibt, muss er noch die Geheimnisse loswerden, die er ein Leben lang mit sich herumgetragen hat, und er muss noch einmal an den Strand, an den ihn so viele Erinnerungen mit der geliebten Joséphine verbinden.

Auch wenn die Geschichte einer gewissen Melancholie nicht entbehrt, legt man sie am Ende doch beseelt und irgendwie glücklich beiseite.

Georges Simenon – Striptease

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Georges Simenon – Striptease

Frankreich 1950er Jahre, Cannes, Hauptstadt der Schönen und Reichen – und der schönen, aber nicht so reichen und erfolgreichen Mädchen wie Célita. Gemeinsam mit ihrer Mitbewohnerin Marie-Lou arbeitet sie als Stripteasetänzerin im „Monico“. Wie immer bevor der Inhaber Léon Tourmaire ein Mädchen anstellt, testet er auch ihre Fähigkeiten im Bett, doch Célita macht es ihm nicht leicht, was ihn besonders reizt, eine Affäre mit ihr zu beginnen, obwohl seine Frau Florence ebenfalls im Monico arbeitet und beide stets im Blick hat. Célita wartet auf ihre Chance die Gattin zu ersetzen, doch als die junge Maud Leroy auftaucht, ist nicht nur ihr Platz in Gefahr, sondern sie droht auch noch einen gefährlichen Fehler zu begehen.

Wer Georges Simenon von dem Commissaire Maigret Krimis kennt, wird etwas überrascht sein von seinem roman dur, einer Bezeichnung, die Simenon selbst für die Werke jenseits des Pariser Ermittlers gewählt hat. Kennzeichnen dieser Geschichten ist vielfach, dass man auf der anderen Seite des Verbrechens steht und die Person hinter der Tat kennenlernt. Weniger das einschneidende Ereignis steht im Fokus als das, was letztlich dazu geführt hat. So ist auch „Striptease“ kein Kriminalroman, obwohl gedroht wird, Waffen besorgt werden und es am Ende auch eine Leiche gibt.

Die Handlung wird im Wesentlichen aus Sicht der 32-jährigen Célita geschildert. Über ihren Werdegang vor ihrer Ankunft in Cannes erfährt man nur wenig, auch da gab es schon Affären mit verheirateten Männern, die für sie nicht gut endeten. Die Mädchen im Monico sind trotz immer wiederkehrenden Streitereien eine eingeschworene Gemeinschaft, mit dem Rest der Bevölkerung der Kleinstadt haben sie nicht viel zu tun, es wäre auch undenkbar, denn zu dieser Zeit war öffentlich zur Schau gestellte Nacktheit noch ein absolutes Tabu. Célita hofft auf das bessere Leben, aber sie setzt dabei immer auf Männer statt sich ihrer eigenen Fähigkeiten zu bemächtigen. Vermutlich ist ihr gar nicht klar, dass nur sie selbst der Schlüssel aus dieser Situation sein kann. Entsprechend ausweglos scheint die Lage, als Maud ihren Platz als Geliebte einnimmt. Dass sie dennoch das Herzen am rechten Fleck hat, sieht man vor allem im zweiten Teil des Buchs, der Célita auch von ihrer verletzlichen Seite zeigt und den langsamen, aber unaufhaltsamen Verfall beschreibt.

Simenon hatte die Geschichte eigentlich als Drehbuch angelegt, der Inhalt hätte jedoch zu seiner Zeit niemals die Zensur passiert, weshalb die Idee einer Verfilmung bald wieder aufgegeben wurde. Es gibt sicherlich Romane, die intensiver das Gefühlsleben und den Niedergang einer Protagonistin schildern, aber gerade in der Kürze und Fokussierung liegt Simenons überzeugende Stärke. Eine ganz andere, aber nicht minder lesenswerte Seite des Autors.

Eric Ambler – Epitaph for a Spy

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Eric Ambler – Epitaph for a Spy

Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gönnt sich Josef Vadassy seinen ersten Urlaub seit vielen Jahren. Lange lebte der Sprachenlehrer in England, die zunehmend schwierige politische Lage brachte ihn schließlich nach Paris und nun an die Côte d‘Azur. Der gebürtige Jugoslawe mit ungarischem Pass will seine geliebte Kamera testen, auf die er lange gespart hat. Als er jedoch seine entwickelten Bilder abholen will, wird er verhaftet. Auf den Bildern waren nämlich nicht nur Eidechsen, wie er angab, sondern auch Aufnahmen von militärischen Einrichtungen, was den Mann mit der ungeklärten Nationalität sehr verdächtig macht. Offenkundig hat jemand die Kameras vertauscht und wenn er kein Spion ist, dann muss es einer der anderen Gäste sein. Der französische Geheimdienst zwingt ihn zur Zusammenarbeit und droht mit der Deportation, die unweigerlich im Tod enden wird. Josef Vadassys Ermittlertätigkeiten sind mehr als dilettantisch und statt dem wahren Täter auf die Spur zukommen, scheint er viel eher sein eigenes Grab zu schaufeln.

Eric Ambler gehört zu den Erfindern der Spionageromane, die sich insbesondere durch einen hohen Grad an Realismus auszeichnen. „Epitaph for a Spy“ (in der ersten Übersetzung „Die Stunde des Spions“, in der späteren „Nachruf auf einen Spion“) war sein dritter Roman, den er 1938 verfasste und der die angespannte Lage auf den europäischen Kontinent authentisch einfängt. Kein Urlaubsgast kann einfach mehr die französische Riviera genießen, alle beobachten argwöhnisch die Mitbewohner und stellen Vermutungen über deren Hintergründe und Motive an.

Der Roman folgt erwartungsgemäß einem sehr klassischen Setting und sowohl die Figuren wie auch das Setting sind hervorragend aufeinander abgestimmt. Der über allem drohende Weltkrieg macht die Hotelgäste nervös. Die schweizer Besitzerin führt offenbar mit dem deutschen Schimler oder Heimberger – weshalb benutzt er zwei Namen? verdächtig! – etwas im Schilde, die Geschwister Skelton werden plötzlich küssend am Strand gesehen, die Liste der Verdächtigen wird immer länger, je näher Vadassy sie kennenlernt. Auch wenn die Geschichte klar ein Spionageroman ist, muss man doch immer wieder über die Unfähigkeit des Protagonisten, aber auch über das seltsame Vorgehen der scheinbar korrumpierten Polizei schmunzeln. Allein schon der Gedanke eine Person wie Vadassy ermitteln zu lassen, erscheint absurd. Doch die wahre Verstrickung zeigt sich erst am Ende der Geschichte und alle Fragen lösen sich sauber auf.

Unterhaltsamer Krimi aus längst vergangener Zeit. Eher mit humorvollen Passagen und auch durch die politischen Anspielungen überzeugend als durch eine hochspannende und komplexe Story. Erwartungen dennoch voll erfüllt.

Édouard Louis – Wer hat meinen Vater umgebracht

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Édouard Louis – Wer hat meinen Vater umgebracht

Wer die Bücher „En finir avec Eddy Belleguele“ (Das Ende von Eddy) oder „Histoire de la violence“ (Im Herzen der Gewalt) gelesen hat, weiß, dass Édouard Louis aus schwierigen Verhältnissen stammt und insbesondere die Beziehung zu seinem Vater nicht einfach war. In seinem kurzen Buch analysiert er nun genau jene von Verachtung und Ringen um Anerkennung und Liebe geprägte Beziehung.

Als Kind buhlt er um die Beachtung durch seinen Vater, will so sein, wie der Vater sich seinen Sohn wünscht, dessen Ideale und Werte erfüllen. Doch früh schon scheitert er. Eddy ist unverkennbar anders und kann dieses Anderssein nicht ablegen. Von den Eltern schlägt ihm dafür bestenfalls Verachtung und Ignoranz entgegen, bisweilen auch offener Hass:

 „(…) sie hatte das schon oft gesagt, aber noch nie so hart und so direkt, bislang noch nicht –, sie sagte: Warum bist du nur so? Warum führst du dich die ganze Zeit so auf, als ob du ein Mädchen wärst? Das ganze Dorf sagt schon, du bist eine Schwuchtel, was glaubst du, wie wir uns schämen, alle lachen über dich.”

So wenig die Eltern ihn verstehen, so schwer fällt ihm als Kind und Jugendlicher die Vorbilder, die für ihn keine sein können, zu verstehen. Erst als Erwachsener versteht er die Mechanismen, die in seinem Elternhaus griffen. Der Vater, der früh die Schule verlies und erwachsen sein musste, um Geld zu verdienen und der Gewalt im eigenen Elternhaus entfliehen zu können, der gar nicht erst die Chance bekam, Träume zu entwickeln.

„Du warst ebenso das Opfer der Gewalt, die du ausübtest, wie derjenigen, der du ausgesetzt warst.”

Die Gewaltspirale reproduziert sich in den Kindern und so kann der Vater gar nicht anders als das zu leben, was er selbst kennengelernt hat.

„Als ich neulich einem Freund von dir erzählte, sagte er: »Dein Vater wollte nicht von seiner Vergangenheit erzählen, weil diese Vergangenheit ihn daran erinnert, dass er jemand anderes hätte werden können und nicht geworden ist.« Vielleicht hat er recht.”

Mit dem Verständnis wächst aber auch die Wut, dies sich nun nicht gegen den Erzeuger, sondern gegen den französischen Staat richtet, der Menschen wie sein Vater im Stich lässt. Nach einem Arbeitsunfall nun sehr eingeschränkt, sieht er sich dem System gnadenlos ausgeliefert und muss sich als Sozialschmarotzer beschimpfen lassen.

Wieder sind es starke Emotionen, die den Text von Édouard Louis prägen, doch im Gegensatz zu seinen zwei belletristischen Büchern fällt es mir in diesem Essay deutlich schwerer, Mitgefühl zu empfinden. Zu plakativ erfolgt die Anklage am Ende. Es ist erfreulich zu sehen, dass es ihm gelingt, sich mit seinem Vater zu versöhnen, indem er erkennt, dass dieser nicht aus seiner Haut heraus kann und in einem Leben feststeckt, dass vielleicht auch nicht seins ist. Die Tirade auf der Herrschenden mag sachlich bezogen auf die Argumente richtig sein, aber Édouard Louis hat bessere Möglichkeiten, die bestehenden Verhältnisse zu kritisieren – und zu verändern! – als dieses fast reißerische Pamphlet.

Jo Baker – The Body Lies

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Jo Baker – The Body Lies

After having been assaulted on her way home a couple of years before, a young writer never feels secure in her London house anymore. When she is offered a job by a remote university, this could not only solve the small family’s financial problems but also bring her away from the bad memories. She is supposed to take over a creative writing course and soon figures out that she is completely left alone since her colleague who was supposed to mentor her is on a leave. The trimester starts slowly but she gets along well with her students even though they seem to be quite unique. When they read out their first writing attempts, the situation becomes complicated since one of them, Nicholas Baker, insists on only telling the truth and not inventing anything which is not taken very well by his fellow students. As the time advances, the professor feels more and more uncomfortable around him and his texts as they become increasingly more personal and Nicholas develops into a real stalker who is ready to turn his bizarre fantasies into reality making her the protagonist of his weird story.

“The Body Lies” is completely different form Jo Baker’s novel “Longbourn” which I read and enjoyed a couple of years ago. Reading it was not easy at times since, due to her vivid style of writing, you can imagine the event narrated without any problem and some of the violence really gets under the skin. This is really a psychological thriller as you follow the invasion of the protagonist’s private life and you are not sure if there could actually be a happy ending.

What I liked most about the novel was that, apart from being suspenseful and entertaining as a psychological thriller, it also conveys an authentic picture of reality and an important message. The unnamed professor is exposed to violence and does not really have a chance to fight the men who assault her. Defending herself would have led to more injuries in the first case and in the second, she feels ashamed for what happened to her which, unfortunately, is quite common. But not only the physical violence hurts her, it is first and foremost the psychological threat that slowly hurts her and the fact that she has nobody to believe her version of the story makes it even worse. Sadly, I have no doubt that the story told could happen anywhere everyday.

A great read even though it is at times hard to support.

Antje Herden – Keine halben Sachen

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Antje Herden – Keine halben Sachen

Das Leben ist nicht einfach, wenn man 15 ist und große Erwartungen hat, stattdessen aber in der Kleinstadt festsitzt, den Alltag der alleinerziehenden Mutter betrachtet und einem Freunde und Lehrer anöden. Auch Robin geht es so bis er Leo trifft, der ihn aus seiner Lethargie herausreißt. Mit ihm lernt er neue Leute und ein neues Lebensgefühl kennen. Zum ersten Mal trinkt er Alkohol, zum ersten Mal kifft er und irgendwann probiert er auch noch andere Drogen, die ihn in einen unglaublichen Rausch versetzen. Durch seine neue Clique lernt er auch Anna und Karla kennen, in letztere verliebt er sich sofort und neben den ganzen neuen Emotionen, die ihm die Trips besorgen, rauscht sein Blut auch wegen der Verliebtheit. Die Welt um ihn herum gibt es nicht mehr, nur noch Karla und die Drogen.

Antje Herden hat für ihr Jugendbuch den Peter Härtling Preis erhalten, die Jury begründete ihre Wahl unter anderem damit, dass sie glaubwürdig den Weg in die Drogenabhängigkeit schildert und jeden pädagogischen Eifer vermeidet. Dem kann man nur zustimmen, die Autorin lässt ihren Protagonisten immer weiter abrutschen und am Ende gar gänzlich abstürzen, vermeidet aber jeden Kommentar, der Robins Handeln wertet oder gar verurteilt oder – noch schlimmer – besserwisserisch kommentiert.

Mich hat das Buch überzeugen können. Robins Null-Bock-Haltung zu Beginn ist ebenso glaubwürdig wie sein eigentlich gutes Verhältnis zur Mutter, das er in diesem Alter natürlich nicht nach außen tragen kann. Er ist kein falscher Kerl und wirkt absolut durchschnittlich. Der Zufall führt ihn scheinbar mit Leo zusammen, der ihn zielsicher auf die schiefe Bahn leitet. Leos Verhalten ist seltsam, als erwachsener Leser ahnt man recht schnell, was es mit ihm auf sich hat, für Jugendliche dürfte sich das am Ende eher als Überraschung herausstellen, die ich in der Konstruktion so recht gelungen finde. Auch wenn der Text recht kurz ist und das Abdriften in die wirklich harten Drogen dadurch sehr schnell vonstattengeht, wirkt dies auf mich nachvollziehbar und stimmig. Vor allem die bildhaften Beschreibungen der Halluzinationen und der damit verbundenen Ängste dürften Eindruck bei jungen Lesern hinterlassen.

Ein urteilfreies Jugendbuch, das Drogenkonsum darstellt, wertungsfrei, aber doch mit einer klaren Message.

Sayed Kashua – Lügenleben

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Sayed Kashua – Lügenleben

Sein Vater liegt im Sterben. Eilig hastet der Ich-Erzähler aus Illinois zurück nach Israel, um ihn noch einmal zu sehen, vielleicht sogar endlich die Dinge auszusprechen, über die sie seit vierzehn Jahren geschwiegen haben. Die Mutter gibt ihm den Schlüssel zum elterlichen Haus, damit er in seinem alten Zimmer übernachten kann, doch er kann nicht zurück in das Dorf, aus dem man ihn verstoßen hat. Erst musste er mit seiner Frau Falestin nach Jerusalem fliehen, dann sind sie nach Amerika ausgewandert, wo man ihr eine Dozentenstelle angeboten hat. Mit der Rückkehr kommen auch die Erinnerungen wieder auf, an seine Zeit als arabischer Journalist für eine hebräische Zeitung, als Ghostwriter für Autobiografien und als Schriftsteller, der eine Kurzgeschichte in einer Studentenzeitung veröffentlichte. Und das Unheil, das es damit nahm.

Sayed Kashua lebt heute in den USA, nachdem er als Kolumnist für die „Haaretz“ gearbeitete hatte und sich einen Namen als Drehbuchautor und Filmkritiker gemacht hatte. „Lügenleben“ ist das fünfte Buch des arabischstämmigen Israelis und zugleich das letzte Übersetzungswerk von Mirjam Pressler, das sie kurz vor ihrem Tod im Januar 2019 noch beendete.

Wie auch andere seiner Romane trägt auch der aktuelle Roman autobiografische Züge und thematisiert nicht nur das schwierige Verhältnis von jüdischen und arabischen Israelis miteinander, sondern auch die Familienzwänge und Traditionen, aus denen es vor allem in ländlichen Gebieten kein Entkommen zu geben scheint. Die Kinder haben sich dem Diktat der Eltern, Dorfältesten und Scheichs zu fügen – egal, ob die Urteile gerecht und richtig sind oder nicht.

Die Erinnerungen des Erzählers folgen keiner chronologischen Struktur und so bleibt lange offen, was es genau war, das zu seiner Vertreibung geführt hat. Auch das seltsame Verhältnis zu seiner Frau Falestin ist eher mysteriös denn nachvollziehbar. Sie leben in zwei Wohnungen, ein echtes Familienleben scheint es nicht zu geben. Auch die drei Kinder erhalten keine Antworten auf ihre Fragen – alles, was die Familie und die Zeit vor der Flucht aus dem Dorf betrifft, bleibt nebulös. Dabei liebt er, bewundert Falestin, aber diese weist ihn ab, akzeptiert ihn jedoch als ihren Mann. Erst nach und nach fügt sich das Bild zusammen und offenbart ein trauriges Schicksal, das man so in der Gegenwart kaum mehr glauben mag.

Ein vielschichtiger Roman, der persönliches Leid, Familie und Tradition, die politische Lage in Israel und auch Emigration und Flucht thematisiert und vor allem die innere Zerrissenheit einer ganzen Generation offenbart, die doch nur glücklich und in Sicherheit leben möchte und auf der Suche hiernach getrieben ist und weder eine klare Vergangenheit noch eine Zukunft zu haben scheint. Und es ist vor allem die Frage danach, was Wahrheit ist und was sie ausmacht und inwieweit wir uns unsere eigene Wahrheit gestalten, um uns in unserem Leben zurechtzufinden. Ein großartiger Roman, ganz sicherlich auch wegen der hervorragenden Übersetzerin.

Ein herzlicher Dank geht an den Piper Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Titel finden sich auf der Verlagsseite.

Wladimir Kaminer – Die Kreuzfahrer

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Wladimir Kaminer – Die Kreuzfahrer

Eine Seefahrt, die ist lustig, eine Seefahrt, die ist schön – so oder so ähnlich hatte sich Wladimir Kaminer das Reise auf einem Kreuzfahrtschiff vorgestellt, was ihn erwartete, war der Alptraum aller Individualurlauber. Vier Reisen unternimmt er, bei dreien eingeladen im Kulturprogramm als Vorleser zu fungieren und erstaunlicherweise nach den Erfahrungen noch eine private Reise. Er durchquert den Atlantik, schippert durch Mittelmeer und Ostsee, bevor er die Karibik erkundet. Mit pointierter Ironie beschreibt er die Reisenden und die Gepflogenheiten auf dem Schiff und bei Landgang, kann irgendwann treffsicher Nationalitäten zuordnen und verbringt ansonsten sehr viel Zeit mit Essen und Trinken und dem Trällern der offenbar obligatorischen Schlager.

Das perfekte Buch, um einem jede Lust aufs Urlauben auf einem Kreuzfahrtschiff zu verderben – und zugleich köstliche Unterhaltung. Auf engstem Raum werden die unterschiedlichsten Menschen zusammengepfercht, um dann schaukelnd durch den Seegang und schunkelnd durch Ballermannmusik von A nach B transportiert zu werden. Man hat den Eindruck als wenn es sich um die komprimierte Form des Massenurlaubs rund ums Mittelmeer handelt und die bekannten Verhaltensweisen der Touristen sind dort natürlich genauso zu finden wie auf Mallorca:

„Obwohl Olga und ich als erste Reisende an Bord gingen, lagen bereits fremde Badetücher an strategisch wichtigen Plätzen: auf dem Sonnendeck, vor der Grillstation und am Pool. Fliegende Badetücher waren wahrscheinlich eine neue Reiseoption, die man bei AIDA buchen konnte, dachten wir. Noch bevor der Inhaber des Badetuches an Bord kam, wurde ihm ein warmes Plätzchen auf dem Sonnendeck reserviert.”

Auch wenn er in erster Linie unterhalten will – und das tut er ohne Frage – sind doch auch kritische Untertöne herauszuhören. Der seit Jahren boomende Tourismus auf allen Ozeanen und Binnenmeeren der Welt ist zu einer gnadenlosen Industrie geworden. Das Personal im Dauergrinsezustand bleibt stets freundlich und lässt den durchschnittlichen Urlauber nicht hinter die ausbeuterische Fassade in den unteren Stockwerken blicken, wo die geringverdienenden Philippinos schuften. Ebenso an Land, wo man selten noch auf Einheimische trifft, sondern sich Flüchtlinge und Migranten aus aller Welt der Nachfrage angepasst haben und die Kundschaft mit dem bedient, was sie sehen will: verkleidete Götter, Eseltreiber und heimatliche Tänze. Perfekt orchestriert, um in wenigen Stunden Aufenthalt das unmittelbare Erlebnis zu garantieren, wenn sie dies überhaupt noch wollen:

„(..) glich unsere AIDA einer schwimmenden Kneipe. Ihre Gäste – die meisten davon Stammgäste auf dem Schiff – hatten schon längst jede Lust aufs Festland verloren. Man konnte sie nur mit Gewalt zu den Sehenswürdigkeiten Griechenlands zwingen. Manche wurden von den Unterhaltungsoffizieren buchstäblich von Bord geschubst.”

Kaminers unverkennbarer Stil führt unweigerlich dazu, dass man im ersten Moment laut loslachen möchte, das Lachen einem dann aber doch im Halse stecken bleibt. Spätestens jetzt ist man von der Idee, eine Kreuzfahrt zu unternehmen völlig geheilt. Perfekte Sommerlektüre für den vollbepackten Strand, wo man neben Touristen aus aller Herren Ländern auf engstem Raum gemeinsam schwitzt.

Simon Strauß – Römische Tage

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Simon Strauß – Römische Tage

Zwei Monate verbringt der junge Autor in der ewigen Stadt. Lernt die Sprache, beobachtet die Menschen und wandelt auf den Spuren Goethes, der einst seine italienische Reise dokumentierte und in dessen ehemaliger Wohnung gegenüber der Casa die Goethe er residiert. Er erlebt die Hitze und die Lebensfreude, sieht aber auch die Schattenseiten. Jahrtausende Menschenleben haben ihre Spuren hinterlassen, weltliche wie geistliche, er besucht die Touristenziele und findet abgeschiedene Orte. Kitsch und Kunst liegen bisweilen nah beieinander und ebenso altes Gedankengut wie moderne Ansichten. Während er immer wieder in sich hineinhorcht, ob sein krankes Herz noch im Takt schlägt, erinnert er sich auch an seinen Studienfreund, der viel zu früh verstorben ist und mit dem er gerne seine Erlebnisse geteilt und diskutiert hätte, die er nun nur niederschreiben kann.

Simon Strauß lässt seinen Erzähler zwischen Altem und Neuem wandeln, Rom als Geburtsort großer Männer und Imperien, aber auch als todbringender Schlund wahrnehmen. Die allgegenwärtige Krise, die Relikte einer längst vergangenen großen Zeit kämpfen mit dem Lebensgefühl junger Menschen, die die Schönheit der Ewigen Stadt genießen wollen und können. Und immer wieder hat es auch große Dichter und Denker dorthin gezogen, deren Spuren er sucht und findet.

In den Feuilletons wird der kurze Band heftig diskutiert, von großer Begeisterung ob der jungen Stimme bis zum totalen Verriss findet sich so ziemlich alles, was zu einem Buch nur gesagt werden kann. Ich bin ein wenig unentschlossen, einerseits liefert er die klassische Bildungsreise mit den touristischen Zielen, die bei Romkennern Erinnerungen wecken und ein wenig des typische römischen Flairs aus den Seiten wehen lassen.

Andererseits scheint der Erzähler das ureigene Ziel einer solchen Reise zu verfehlen: was hat Rom mit ihm gemacht, wie hat es ihn geprägt, welche Erkenntnis trägt er von dieser Reise mit nach Hause? Diese Fragen kann man nur mit: wenig bis gar nichts beantworten. Er will ein Buch über Europa schreiben und begibt sich an eines der Zentren der europäischen Sinnkrise, doch davor verschließt er letztlich die Augen bzw. richtet den Blick auf das Alte, Jahrzehnte, Jahrhunderte, Jahrtausende alte Steine begeistern ihn, die Gegenwart erreicht ihn aber nicht.

Aus Rom als Ausgangspunkt für die Analyse des Zustands der alten Welt hätte sicher noch mehr bieten können, so ist es ein durchaus unterhaltsamer kurzer Blick zurück geworden.

Jenna van Berke – Weiße Nacht/Moa Graven – Die Puppenstube

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Jenna van Berke – Weiße Nacht/Moa Graven – Die Puppenstube

Doppelrezension, da zwei glücklicherweise kurze Krimis. Eigentlich haben sie beide nicht die Zeit für eine Rezension verdient, aber da es nun mal auch diese Bücher gibt, hier die nicht-amtliche Warnung.

Zuerst mit Jenna van Berke in die USA, wo sich Litza von ihrem gewalttätigen Mann trennt und dann die absolut naheliegende Idee ergreift, in einem ostfinnischen Dorf eine seltene Robbe zu erforschen, die nur dort in einem See vorkommt. Also Sachen packen und auf Nach good old Europe. Dort sind Jan und Lisa schon, als Ermittler lösen sie sie Fälle im gefährlichen Ostfriesland und gerade haben sie sich ebenfalls entschieden, sich doch lieber zu trennen und wegen akuter Einsamkeit melden sich beide unabhängig voneinander bei Dating Plattformen an – man ahnt schlimmstes…

Kaum in Finnland, stolpert Litza über den hochattraktiven Parkranger Niilo, der sie mit auf seine einsame Insel nimmt und ihr von dem mysteriösen Robbensterben berichtet, das die Region erschüttert. Bald ist außer dem Ranger nicht mehr viel zu erforschen…. Unterdessen häufen sich bei Lisa und Ja komische Vorkommnisse: eine Frau, die scheinbar verwirrt ist und nicht spricht, eine andere wird tot auf dem Friedhof abgelegt und dann auch noch ein Mann ermordet – und niemand vermisst sie. Naja, mal abwarten, am einfachsten zu Hause, also packen sie die Überlebende einfach ein und nehmen sie mit zu Jan.

Während man in Ostfriesland halbherzig ermittelt, kämpft Litza mit finnischen Gepflogenheiten wie Nacktbaden und Saunieren, was natürlich der attraktive Mann erleichtert. Warum war sie eigentlich dort? Ach, ist auch egal, oder nö, einfach mal nachts allein mit dem Kanu auf dem nebligen See rumschippern, was sollte man sonst auch tun in der Einsamkeit? Oh oh …. Gefahr! Und in Ostfriesland wird dann die stumme Frau entführt und mal eben noch ein Bauernpaar erschlagen, ach so, ja danke, da liegt ja dann auch die Lösung auf dem Präsentierteller, was die Ermittlung deutlich vereinfacht.

Fälle gelöst, Liebe gefunden – Friede, Freude, Eierkuchen. Spannung ist eher nicht so angesagt, in Finnland fehlt vor lauter Ranger-Anschmachten schlichtweg die Zeit dafür, in Ostfriesland soll sie durch die Vorkommnisse auf dem Hof aufgebaut werden, doch hier beschränkt sich die Autorin auf ziemlich platte Gewalt, die nicht für Kribbeln sorgt, sondern schlichtweg abstoßend ist und nicht überzeugt, vor allem, da einem die Figuren nicht wirklich packen und man so wenig Empathie für sie entwickelt. Daneben so viel unlogische Details und eine wenig plausible Handlung – zwei Mal Daumen runter.