Lætitia Colombani – Das Haus der Frauen

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Lætitia Colombani – Das Haus der Frauen

Nachdem ein Mandant sich vor ihren Augen in den Tod gestürzt hat, fällt die Anwältin Solène in eine tiefe Depression. Ihr ganzes Leben scheint keinen Sinn mehr zu haben, wozu all die Stunden Arbeit, wo ihr ihre tolle Wohnung und die aparten Kostüme jetzt nichts nutzen, keinen Trotz spenden und keine Hoffnung bieten. Ihr Psychiater empfiehlt ihr ein Ehrenamt und so kommt sie in das „Haus der Frauen“, einer beinahe 100-jährigen Institution in Paris, in der notleidende Frauen jeden Alters Unterschlupf und Hilfe finden. Zunächst sind die Bewohnerinnen skeptisch, halten Abstand, doch nach und nach kommen sie mit ihren kleinen und großen Anliegen zu Solène. Diese erkennt zunehmend, dass sie mit all ihrem Wissen jenen Bedürftigen wirklich helfen kann, aber auch, dass ihr eigenes Leben so wieder eine Sinnhaftigkeit erhält, die sie lange vermisst hat.

Die französische Autorin und Regisseurin Lætitia Colombani hat mit ihrem Roman nicht nur eine bittersüße Geschichte geliefert, sondern vor allem Blanche Peyron ein Denkmal gesetzt. Die Gründerin des Hauses der Frauen und unerschütterliche Kämpferin der Heilsarmee hat vorgelebt, wie wichtig es ist, für seine Ideale zu kämpfen und den Glauben an die Überwindung der sozialen Unterschiede nicht aufzugeben.

Im Zentrum der Geschichte steht die erfolgreiche Anwältin, die unerwartet aus dem Hamsterrad des Lebens gerissen wird und dieses gnadenlos hinterfragen muss. Was von außen beneidenswert erscheint, fühlt sich hinter der schönen Fassade ganz anders an. In der Begegnung mit den Frauen und ihren Schicksalen –  vertrieben vom Krieg, Flucht vor Verstümmelung, Transsexualität und Obdachlosigkeit, die ganze Bandbreite menschlicher Schicksale laufen vor ihr auf – erkennt sie nicht nur, dass sie ihr eigenes Leben in der Hand hat, sondern vor allem auch, wie sie selbst wirksam werden und so wieder einen Sinn in ihrem Tun finden kann.

Ein kurzer Roman, melodramatisch mit einer gewissen Realitätsferne ohne Frage, aber dafür ideal als leichte Sommerlektüre, die einem mit einem wohligen Gefühl zurücklässt.

Leo Fischl – Die Todesinsel

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Leo Fischl – Die Todesinsel

Die 18-jährigen Schülerinnen Anna und Ronja werden auf Helgoland ermordet. Sie recherchierten für einen Artikel, der in ihrer Schülerzeitung erscheinen sollte und sind scheinbar zwischen die Fronten der alteingesessenen Helgoländer und der Investoren in die Offshore-Windanlagen und Touristenhotels geraten. Jürgen Kemper und Paula Petersen werden aus Hannover zu dem mysteriösen Fall hinzugezogen und sie merken bald, dass die Lage ausgesprochen schwierig ist: viele Verdächtige mit Motiven, aber keine einzige wirklich heiße Spur.

Der zweite Fall für das Ermittlerteam ist eine Aneinanderreihung von Absurditäten, die kaum auszuhalten ist. Man kann sich kaum retten vor so viel Unfug, der da in einem Tempo aufeinanderfolgt, dass einem Hören und Sehen vergeht. Es ist allerdings wiederum auch nicht so lustig, dass es als Slapstick durchgehen würde, sondern einfach nur erschreckend schlecht.

Warum das Duo aus Hannover einen Mord auf Helgoland aufklären muss, bleibt irgendwie ominös. Offenbar gibt es in Schleswig-Holstein kein fähiges Personal, so dass man dem Herrn aus Kiel das Dream-Team der niedersächsischen Hauptstadt an die Seite stellen muss, was die Kompetenz jedoch nicht wirklich steigert. Der machohafte Oberkommissar sabbert seiner jungen Kollegin von der ersten Seite an nach, man hat den Eindruck, dass der Autor ihn für einen tollen Hecht hält, dabei ist er einfach nur ein vernachlässigter Stelzbock.

Der Mord: mal eben gleichzeitig mit rechter und linker Hand ein Mädchen erwürgt, offenbar eine Kleinigkeit, bar jeden Realismus‘, aber man sollte nicht zu kleinlich sein, der Mörder kann sich auch trotz Sturmhaube noch den Schweiß von der Stirn wischen.

Zwischendurch auf der Insel erst Nazi-Parolen und Ausländerhass wie er im Buche steht und dann eine „riesengroße Demonstration“ nach Lageeinschätzung des Herren Kommissar. Joa, 30 Inselbewohner mit Schildern und, weil abends, Fackeln. Aber weil man vor diesen Angst haben muss, wird später auch gleich ein SEK angeheuert, dass sich action-geladen abseilt und nicht einfach auf der Insel landet.

Die Ermittlungsmethoden: einfach alle Häuser und Handys durchsuchen, ist ja egal, dass gegen niemanden belastbare Beweise vorliegen. Derweil liegen die beiden Kommissare bis späten Vormittag im Bett und genießen den Schlaf der Gerechten. Absolut nachvollziehbar, dass der Druck offenbar nicht so besonders hoch ist, wenn zwei junge Frauen ermordet wurden. Befragungen machen sie auch gerne mal alleine und riskieren dabei ihr Leben, nun ja. Mein persönliches Highlight war die messerscharfe psychologische Diagnose, die der Kommissar nach nur wenigen Minuten bei einem jugendlichen Zeugen stellen kann – Achtung Spoiler! – und dann die Missachtung aller Empfehlungen, die es im Fall von Befragungen von Missbrauchsopfern nur geben kann. Es ist so hanebüchen und macht mich regelrecht wütend, da es suggeriert, dass man Opfer nur mal hart angehen muss, damit sie endlich den Mund aufmachen.

Daneben ist das Buch mit unsäglich vielen falsch verwendeten Metaphern und Redensarten gespickt („er wollte keinen Verdacht schöpfen“ ?!?), dass es einem schmerzt. Aber eines kann man Superermittler Kemper nicht vorwerfen: fehlende Durchschlagskraft denn er ordnet an: „Notfalls räumen wir ganz Helgoland.“

Marco Balzano – Ich bleibe hier

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Marco Balzano – Ich bleibe hier

Wer kennt sie nicht, die berühmte versunkene Kirche im See in Südtirol. Doch was heute so idyllisch erscheint, hat einen ernsten Hintergrund, den Marco Balzano in seinem Roman „Ich bleibe hier“ nacherzählt. In den 1930er Jahren gehört das deutschsprachige Südtirol bereits zu Italien, wo die Bewohner Bürger zweiter Klasse sind und nun soll auch noch ein Staudamm gebaut werden, der das Dörfchen Graun überfluten und auslöschen wird. Die Bauern sind verärgert, aber nicht nur das belastet sie. Der aufkommende Faschismus in Italien drängt ihre Sprache immer weiter zurück und Trina und ihre Freundinnen können nur im Untergrund heimlich auf Deutsch unterrichten. Im Norden erstarken derweil die Nationalsozialisten, können sie eine Hilfe gegen den Druck aus dem Süden sein? Welcher Seite wollen sie sich zuschlagen, wer wird den Ort retten, an dem ihre Familien schon seit Jahrhunderten von Land- und Viehwirtschaft leben? Oder sollen sie doch gleich ganz woanders hingehen? Der Krieg nimmt ihnen die Entscheidung ab, aber das letzte Wort um den Stausee ist noch nicht gesprochen.

Die Protagonistin und Erzählerin Trina ist zu Beginn der Erzählung ein lebensfrohes junges Mädchen, die sich gemeinsam mit ihren Freundinnen Barbara und Maja aufs Unterrichten freut. Doch schnell zerstört die politische Lage ihre Träume. Auch die kommenden Jahre werden für die Frau nicht einfach, insbesondere die Kriegsjahre fordern ihr alles ab. Dinge, die sie sich nie hätte vorstellen können, muss sie tun, um zu überleben. Am Ende ihres Lebens blickt sie zurück, traurig, aber nicht bitter, durchaus mögliche alternative Wege, die sie hätte gehen können, sehend, aber ob diese ihr Leben wirklich glücklicher hätten verlaufen lassen?

Der italienische Autor verknüpft so die fiktive Geschichte einer Frau mit der einer zwischen Landesgrenzen zerriebenen Region. Das bauliche Großereignis ist eine Belastungsprobe für das Dorf, aber ebenso die Frage, ob sie Mussolini oder Hitler folgen wollen oder ob es doch noch einen Ausweg irgendwo dazwischen geben könnte. Man weiß, wie die Geschichte ausgeht, das Resultat lässt sich im Italienurlaub bestaunen, der Preis jedoch, denn die Menschen vor Ort gezahlt haben, den sieht man heute nicht mehr, wenn man schöne Erinnerungsfotos knipst.

Der Roman wird von einer melancholischen Grundstimmung getragen. Balzano setzt die einfache und bescheidene Lebensweise der Bauern sprachlich ebenso reduziert ohne hochtrabende Metaphern um und spiegelt so die Lebenseinstellung überzeugend wider.

Julie Clark – The Flight

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Julie Clark – The Flight

Everything had been planned meticulously for months. Taking the trip to Detroit and then vanishing somewhere in Canada. But when Claire Cook wakes up on the morning which will free her finally from her abusive husband, she learns that he has altered their plans, she is to go to Puerto Rico. All the strategy, fake passport, preparations were in vain. Eva, another woman, as desperate as Claire, runs into her at the airport and makes an offer: trade tickets. Both of then need a new start and have powerful people on their heels. None of them has anything to lose anymore and so they decide to step in each other’s shoes. When Claire lands in California, she finds out that the plane she was supposed to be on crashed which makes her a free woman with a new identity. But the new life she has hoped for for months, does not feel right somehow and one questions lingers at the back of her mind: what did Eva run from?

“The Flight” belongs to those books that you open and cannot put down anymore. It the brilliantly told story of two women who are desperate to an extent where they feel that there is nothing to left to lose anymore and who would take any risk since they know this could be their only and last chance to get their own life back. While we follow Claire’s first days in her new life, Eva’s last months before the meeting at the airport is narrated providing insight in her tragic story.

Full of suspense you simply keep on reading to find out if the women could escape. Yet, apart from this aspect, there is also some quite serious undertone since, on the one hand, we have Claire stuck in a marriage marked by psychological and physical abuse and a controlling and mighty husband who considers himself above the law. On the other hand, Eva’s life has totally derailed because of her background where there were no rich parents who could afford expensive lawyers or knew the right people and therefore she was paying for something her boyfriend actually was responsible for. This surely raises the questions to what extent women still much likelier become a victim of false accusations and endure years of assault because they do not find a way out of their lamentable situation. Additionally, can it be true that with money and power you can put yourself above the law and get away with it?

A great read that I totally enjoyed and which certainly will make me ponder a bit more after the last page.

Andreas Winkelmann – Der Fahrer

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Andreas Winkelmann – Der Fahrer

Ein brutaler Serienmörder versetzt Hamburg und das Team um Kommissar Jens Kerner in Angst und Schrecken. Junge Frauen werden aus ihrem Auto heraus entführt und brutal ermordet. An den Wagen hinterlässt der Täter ein Hashtag mit der zynischen Aufforderung #findemich, mit der er die Polizei nicht nur herausfordert, sondern provoziert und durch seine Postings auf Instagram lässt er die ganze Welt daran teilhaben. Schnell verdichten sich die Anzeichen, dass alles auf Jens Kerner ganz persönlich ausgerichtet ist, scheinbar führt jemand einen perfiden Rachefeldzug ganz direkt gegen ihn und es dauert auch nicht lange, bis dieser einen Schuldigen glaubt entdeckt zu haben: seinen eigenen Bruder. Blind vor Wut reagiert Kerner genau so, wie es sein Gegenspieler kalkuliert hat: er rastet aus und wird suspendiert. Ohne ihren Kopf muss das Team nun sehen, wie sie es mit dem Mörder aufnehmen können.

Viele positive Rezensionen und Lobeshymnen hatten mich neugierig auf den Autor gemacht, seit Jahren schon ist Winkelmann eine feste Größe unter den deutschsprachigen Autoren. Doch leider folgte mit diesem Roman für mich eine herbe Enttäuschung: eine Aneinanderreihung von alten Krimi-Versatzstücken, ein Protagonist, der an fehlender Sympathie kaum mehr unterboten werden kann und eine Geschichte, die so abstrus konstruiert ist, dass es schon ein Paralleluniversum benötigen würde, um einen Funken Realismus darin erkennen zu können.

Schon das erste Drittel des Buches hat mich so dermaßen genervt, dass ich kurz vorm Weglegen war. Ein Ermittler des Typs „Ich hatte eine schwere Kindheit und deshalb darf ich mich gegenüber allen wie ein Arschloch verhalten“ ist einfach out. Das war vielleicht in den 80ern mal modern und selbstgerechte Machotypen kamen mit ihrem Egotrip gut an, ich finde das heute schlichtweg überholt und wenig geistreich. Zu einer privaten Freitagabend Verabredung nimmt er selbstverständlich die Dienstwaffe mit, damit er jederzeit rumballern könnte – sorry, aber hä? Natürlich ermittelt er nach der Suspendierung allein weiter und bricht auch ohne Skrupel in Häuser ein. Im echten Leben hätte er für beides (hoffe ich zumindest) eine Abmahnung bekommen und wäre nicht wieder von der Vorgesetzten zurück zum Dienst erbettelt worden. Ob es besonders cool wirken soll, dass er noch nie etwas von einem Hashtag gehört hat und Social Media für böse hält? Ich denke ein echter Polizist könnte sich das kaum mehr erlauben.

Die Handlung selbst besteht aus banalsten Mustern und ist vorhersehbar wie ein Rosamunde Pilcher Film. Spannend war da gar nichts, dafür aber ganz schön viel ziemlich hanebüchen. Die Motivlage des Täters ist so aberwitzig und unglaubwürdig, reiht sich damit aber in die Charakterisierungen der anderen Figuren nahtlos ein. Da haben wir den gutmütigen, etwas plumpen älteren Polizisten, der schnell mit Hausmeistern per du ist; die böse Vorgesetzte, die keiner leiden kann und die natürlich völlig überfordert und unfähig ist; die junge Kollegin, der ein peinlicher Fehler passiert, die aber total nett ist und geradezu prädestiniert für die Zielscheibe des Täters ist; der schmierige Journalist und der heimlich helfende Privatermittler dürfen natürlich auch nicht fehlen. Wenn man nach etwas Gutem sucht in diesem Sammelsurium an Plattitüden: es gibt keinen Gärtner und dieser ist auch nicht der Mörder.

Fazit: als Sommerlektüre am Strand, wenn man möglichst gering gefordert werden möchte und auf bekannte Muster setzten will zwecks Reduktion der geistigen Eigenleistung beim Lesen – perfekt. Ansonsten: es gibt sicherlich genügend wirklich gute Alternativen auf dem Markt.

Inès Bayard – This Little Family

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Inès Bayard – This Little Family

A woman kills herself, her husband and their small son. What has led her to poison their dinner? They are a well-off Parisian family with a successful husband and lovely kid living in a beautiful apartment. What people cannot see is the inside, the inside of the family home and especially the inside of Marie who has been struggling for years to keep her secret well shut behind a friendly facade: she was raped by her CEO after work one evening and is convinced that Thomas is the result of the assault and not her husband’s son. Every day, she has to look in the eye of the small boy and is confronted again with what happened and what she cannot share with anybody. It is not the tragic story of a family, but the heart-breaking story of a woman not just suffering once from the humiliation and attack, but suffering every single day of her life.

Inès Bayard’s novel is one of the most moving and highly disturbing books I have ever read. She starts with the final step of Marie’s desolate and lonely voyage, no surprise where it all will end up, but the way there could hardly be more painful, more emotionally challenging and nevertheless easy to understand and follow.

Marie feels ashamed for what has happened to her, for her body after giving birth, for her behaviour towards her husband. She does not see herself as the victim she is, immediately, after the assault, she has taken the decision to comply with her assailant’s threat not to tell anybody and thinks she now has to stick to it. Her mental state is gradually deteriorating and Bayard meticulously narrates the downwards spiral. Looking at her from the outside, you can see that she is trapped in an unhealthy mental state that she has established and which is completely wrong but yet, it is so understandable how she comes to those conclusions and this almost paranoid view of her situation.

She does not get help or support, nobody even seems to notice her suffering, only when the signs become too obvious is suspicion raised. There might have been ways out of her depression and misery, but she cannot take these roads and thus needs to face her ultimate fate which does not entail living an option.

Without any doubt, Marie is a victim in several respects. But so is her son Thomas and he is the poor boy without any chance to escape or change his fate, he is exposed helplessly to his mother’s hatred which seems unfair, but I think it is not difficult to understand what she sees in him. Is her husband Laurent to blame? Hard to say, the same accounts for Marie’s mother who didn’t do anything other than just cover the traces of her daughter’s state when she becomes aware of it, she does not offer help when it was most needed.

The novel is a wonderful example for what such an event can do to people, how they struggle to survive and hide what has happened. It is deeply moving and frightening to observe which is also due to the author’s style of writing.

Lilja Sigurðardóttir – Das Netz

Lilja Sigurðardóttir Das Netz
Lilja Sigurðardóttir – Das Netz

Ihre Liebe wird ihr zum Verhängnis. Als ihr Mann Adam sie mit Agla zusammen erwischt, ist es ganz aus zwischen ihm und Sonja. Die Ehe war da schon längst gescheitert, aber für ihren Sohn Tómas war sie geblieben. Ein neues Leben ohne ihren Mann und sein Einkommen aufzubauen, ist nicht einfach und bald schon gerät Sonja in arge Schwierigkeiten, aus denen ein Freund ihr anbietet zu helfen. Nur einen Botendienst soll sie erledigen, doch der hat es in sich. Sie soll Kokain nach Island schmuggeln. Unerwarteterweise ist Sonja gut darin, völlig unauffällig bewegt sie sich als Businessfrau auf den Flughäfen und akribisch bereitet sie den Transport vor. Doch genau das wird ihr zum Verhängnis: ihr attraktives unscheinbares Auftreten fällt Bragi Smith auf. Der Zollbeamte hat viele Jahre Erfahrung und erkennt die Schmuggler. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihm Sonja ins Netz geht.

„Das Netz“ ist Band 1 der Reykjavík Noir Trilogie von Lilja Sigurðardóttir. Mit Sonja Gunnarsdóttir hat die isländische Autorin eine ungewöhnliche Protagonistin geschaffen. Eine Mutter, die nach der Trennung in eine schwierige Lage gerät, die von mächtigen Männern gnadenlos ausgenutzt wird, sich aber dann zunehmend ihrer Stärken bewusst wird und diese für sich einzusetzen weiß. Sie kennt ihre Gegner nicht wirklich, zu unbedarft ist sie noch, doch als sie erkennt, in welchem Netz sie gefangen ist, weckt dies ihre Kämpfernatur.

Die Spannung des Krimis wird gleich durch zwei parallel verlaufende Bedrohungen aufrechterhalten: zum einen ist Sonja den Drogenbossen wehrlos ausgeliefert; sie lebt zwar noch in der Illusion, sich irgendwann freikaufen zu können, dass dies aber eher einem Wunschdenken geschuldet ist, kann man sich als Leser ausrechnen. Auf der anderen Seite ist ihr der Zollbeamte Bragi auf die Spur gekommen, der sie gleichermaßen zu Fall bringen kann und die Aussicht, das Sorgerecht für ihren Sohn zu erhalten damit bedroht. Emotional sitzt sie ebenfalls zwischen den Stühlen. Der nicht enden wollende Kampf mit ihrem Ex-Mann ist genauso zermürbend wie die Beziehung zu Agla, die sich nicht wirklich zu der Beziehung mit einer Frau bekennen kann und will.

Bei all den Sorgen fehlt Sonja der Kopf, um die Ermittlungen, die gegen die Bankmitarbeiterin Agla eingeleitet wurden, ernsthaft zu verfolgen. Diese hat offenbar nicht unwesentlich daran Anteil, dass der kleine Inselstaat in eine finanzielle Katastrophe geraten ist, doch nun soll sie für ihre Spekulationen und Geldwäsche bezahlen.

Man muss den Krimi sicher als Teil einer Serie sehen, denn so ganz glücklich lässt er mich nicht zurück. Viele Fragen bleiben offen und der Cliffhanger zum Ende ist ohnehin etwas, das ich nicht wirklich schätze. Die kurzen Kapitel tragen zu dem schnellen Erzähltempo bei, im Laufe der Handlung nimmt diese auch deutlich an Spannung und Komplexität zu, bevor gleich mehrere Enthüllungen so manches in einem völlig anderen, aber nicht minder interessanten Licht erscheinen lassen. Die Autorin hat eine komplexe Geschichte erschaffen, die von der außergewöhnlichen Protagonistin lebt und mit einigen Überraschungen aufwartet.

Valerie Keogh – The Three Women

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Valerie Keogh – The Three Women

Sie sind beste Freundinnen seit Beginn ihres Studiums, doch nun zwanzig Jahre später wird die Freundschaft auf eine schwere Probe gestellt. Ein verhängnisvoller Abend, als sie nur ihren Abschluss feiern wollten, holt die Polizistin Beth, Staatsanwältin Megan und Agenturinhaberin Joanne wieder ein. Es war nur eine falsche Annahme, eine kleine Lüge, doch diese hat den Lebensweg aller drei Frauen bestimmt. Eine unbedarfte Bemerkung bringt alles ans Licht und nun müssen sich die drei Freundinnen dem stellen, worauf sie ihr Leben aufgebaut haben: Lügen.

Der Psychothriller beginnt eher gemächlich, das Verhältnis der Frauen scheint eher unentspannt, dafür, dass sie beste Freundinnen sein sollen. Auch die Reaktionen ihrer Partner wirken etwas überzogen. Doch dann plötzlich entfaltet der Roman sein ganzes Drama und wird zu einem überzeugenden Thriller, der einem die Geschichte nur so um die Ohren fliegen lässt. Ein Ereignis jagt das nächste und kaum glaubt man das Ausmaß der Katastrophe zu überblicken, setzt Valerie Keogh noch eins drauf. Eine unerwartete Entdeckung, die neugierig auf mehr von der Autorin macht.

Adrian McKinty – Dirty Cops

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Adrian McKinty – Dirty Cops

Seit einiger Zeit schon ist es erstaunlich ruhig im Belfast des Jahres 1988, doch bevor Sean Duffy in seinem Revier in Carrickfergus die Füße ganz hochlegen kann, geschieht doch noch ein Mord und der hat es in sich. Mit einer Armbrust wird der kleine Drogendealer Francis Deauville in seinem Vorgarten aufgefunden. Als Unabhängiger ging er seinen Geschäften nach, aber nicht so erfolgreich, dass er den wirklich Großen im Geschäft ins Spiel gekommen wäre. Und die hätten auch eine weitaus weniger spektakuläre Waffe benutzt, um sich Deauvilles zu erledigen. Während Duffy und sein kleines Team verzweifelt nach Anhaltspunkten suchen, haben es gleich mehrere auf ihn abgesehen: nicht nur fällt er durch den Sporttest und der Arzt droht ihm, ihn aus dem Verkehr zu ziehen, auch intern muss er mit ansehen, wie seine Widersacher an ihm vorbei befördert werden. Das ist aber alles nichts im Vergleich zu dem, was er sich mit diesem Fall einhandelt, denn bald schon befindet er sich im Fadenkreuz von Special Branch und IRA gleichermaßen.

Adrian McKinty gelingt mit seiner Reihe um Sean Duffy nicht nur ein spannender Kriminalfall nach dem nächsten, sondern vor allem eine Serie, die wie kaum eine andere atmosphärisch und politisch in ihr Setting eingebunden ist. Als katholischer Polizist ist der Protagonist ein Außenseiter in Nordirland und natürliches Feindbild beider Seiten. Die Troubles dauern in den 80er Jahren noch an und vom lange ersehnten Frieden ist das kleine Land weit entfernt. Alles ist politisch und mit jedem Schritt läuft man Gefahr, in den blutigen Konflikt hineingezogen zu werden. Überzeugungstäter wie Duffy sind daher prädestiniert für Ärger auf allen Ebenen, aber gerade seine aufrechte Haltung und klare Positionierung – die jedoch Deals und kleine Gefallen nicht ausschließt – machen ihn nicht nur zu einem Sympathieträger, sondern zu genau jenen Alltagshelden, die man sich wünscht.

Sein sechster Fall beginnt kurios mit dem Armbrustmord und einem völlig chaotischen Tatort. Die Frau des Opfers liefert auch viel Raum für Spekulationen, als Bulgarin stammt sie von der anderen Seite des eisernen Vorhangs, was politische Motive ganz anderer Art vermuten lässt. Doch tatsächlich ist der Fall ganz anders und der Versuch aus den höchsten Rängen der IRA angeordert, Sean Duffy endgültig zu beseitigen – und das, wo er selbst dank seiner Kindheit in Derry gute Kontakte nach weit oben unterhält – lässt vermuten, dass etwas ganz anderes dahintersteckt.

Das geradezu biblische Ausmaß der Verstrickungen ist clever angelegt und eröffnet sich erst Schritt für Schritt. McKinty dosiert die Spannung wieder einmal perfekt und hat für mich einen in jeder Hinsicht kaum zu überbietenden politischen Krimi geschaffen, in dem es nur Graustufen gibt, denn Gut und Böse sind für Nordirland schon lange keine passenden Kategorien mehr. Mit abgeklärtem Sarkasmus lässt er Duffy seine Geschichte erzählen, wobei dieser auch seine schwache Seite in Bezug auf seine Freundin Beth und die gemeinsame Tochter zeigen darf und dadurch noch mehr Profil erhält.

Patricia Dixon – #MeToo

patricia dixon #metoo
Patricia Dixon – #MeToo

Als Billie einen langen Brief von ihrem Ex-Freund erhält, kehrt sie nach über einem Jahr auf einer griechischen Insel zurück nach Manchester. Stan sitzt im Gefängnis, verurteilt wegen einer Vergewaltigung, die er angeblich nicht begangen hat. Billie hat ihn nie als gewalttätig erlebt, aber wer weiß, was das Beziehungsende und ihre Flucht mit ihm gemacht hat? Stan bittet sie, mit einem Privatdetektiv zusammenzuarbeiten, der ebenfalls Zweifel an der Darstellung des Opfers hegt, doch bislang konnten sie noch keine stichhaltigen Beweise finden. Billie stimmt zu und nimmt über eine Opfergruppe Kontakt zu Kelly auf. Als diese ihre Sicht der Geschehnisse schildert, kommt sie ins Grübeln. Dieselbe Geschichte, detailgenau, aber in zwei völlig widersprüchlichen Versionen. Wer sagt die Wahrheit, der verzweifelte Ex im Gefängnis oder die junge attraktive Frau, die sichtlich von den Erlebnissen gezeichnet ist?

Patricia Dixon bringt in ihrem Psychothriller die Problematik der Stunde hervorragend auf den Punkt: was zwischen zwei Menschen geschieht, spielt sich häufig verschlossen vor Außenstehenden in den eigenen vier Wänden ab. Vermeintlich eindeutige Belege sprechen vielfach eine unklare Sprache und lassen sich in dieser oder jener Weise deuten. Das Leid von vielen Frauen, denen über Jahre nie Glauben geschenkt wurde, soll keineswegs in Zweifel gezogen werden, aber es ist auch eine Realität, dass gerade auch das Gegenteil passiert: falschen Anschuldigungen wird schnell geglaubt, weil sich niemand dem Vorwurf schuldig machen möchte, ein Opfer nicht ernstgenommen zu haben.

Die Protagonistin ist hervorragend geeignet, um zwischen die Stühle zu geraten. Einerseits kennt sie Stan seit Jahren, aber sie hatte auch gute Gründe ihn zu verlassen, auch wenn bei ihr der Fall etwas anders lag, aber sie wurde ebenfalls Opfer einer Gewalttat und hat von ihm nicht das Verständnis für ihre emotionale Ausnahmesituation erhalten, das sie gebraucht hätte. Andererseits hat sie ihn als Partner nie in der ihm vorgeworfenen Weise erlebt, wieso sollte er sich in so kurzer Zeit so grundlegend ändern? Kelly wiederum wirkt zunächst wie ein traumatisiertes Opfer, aber einige ihrer Verhaltensweise lassen doch aufhorchen. Schon früher gab es ähnliche Anschuldigungen ihrerseits, auch ihr Lebensstil und ihr beruf wollen nicht richtig zusammenpassen und sie scheint geradezu besessen von Selbsthilfegruppen zu sein, sie sucht pro Woche gleich mehrere auf. Hat sie da vielleicht genau das gehört, was sie sich jetzt zu eigen macht?

Als Leser nähert man sich zusammen mit Billie langsam dem, was man für die Wahrheit halten kann. Mal schlägt das Pendel mehr in diese, mal mehr in jene Richtung aus, geschickt streut die Autorin immer wieder Zweifel an beiden Seiten, so dass man wirklich lange Zeit nicht sicher sein kann, die tatsächlichen Geschehnisse zu durchschauen. Obwohl es sich um einen Thriller handelt, gelingt es Patricia Dixon auch bei guter Unterhaltung und hoher Spannung die Thematik differenziert zu beleuchten und keineswegs die eine oder andere Seite entscheidend zu bevorzugen, schwarz und weiß sind letztlich oft einfach zu wenige Farben in der Debatte.