Heidi Furre – Macht

Heidi Furre – Macht

Das schreckliche Ereignis ist bereits Jahre her. Liv war noch Studentin, als sie vergewaltigt wurde und doch verfolgt das Erlebnis sie als erwachsene Frau und Mutter immer noch. Sie wollte nie Opfer sein, hat andere für die öffentliche Zurschautragung ihres Leids verachtet, aber den schönen Schein zu wahren, kostet sie enorm viel Energie. Das Kopfkino, die rasenden Gedanken im Zaum zu halten und nicht durchzudrehen. Es war nicht nur in dieser Situation, dass der Mann Macht über sie hatte, er hat sie immer noch, ohne dabei in seinem Familienidyll etwas davon zu ahnen.

„Manchmal ist es schlimmer zu sagen, ich bin vergewaltigt worden, als tatsächlich vergewaltigt zu werden. Als würde man eine Todesnachricht überbringen.“

Die norwegische Fotografin und Autorin Hedi Furre verleiht in ihrem Roman einer Frau eine Stimme, die eigentlich keine haben will. Am Beispiel von Liv wird deutlich, wie gesellschaftliche Normen das Opfer einer Straftat nochmals strafen, indem sie Mitschuld erhält (auch selbst zugeschrieben), indem sie verdrängt, was ihr passiert ist, weil es niemand hören und sehen will und schon gar nicht mit so etwas Schrecklichem belästigt werden möchte. Es sind nicht nur die äußerlichen Wunden, die Leid verursachen, „Macht“ zeigt sehr deutlich, wie schlimm die innerlichen, nicht so leicht erkennbaren Wunden schmerzen und eben nicht verheilen.

Es sind die kleinen Einschränkungen des Alltags, an denen sich tagtäglich die Auswirkungen eines jahrelang zurückliegenden Ereignisses zeigen. Die Ängste, beispielsweise im Dunkeln nach Hause zu laufen, bestimmte Texturen, die an den Tag erinnern, die alle in sich nicht schlimm sind, in der Summe jedoch lebensbestimmend werden. Immer wieder versucht sie, die Kontrolle zurückzugewinnen, es gelingt jedoch nur mäßig.

Es ist ein Buch, das sich nicht leicht aushalten lässt, das für manche Leserinnen wie ein Trigger für böse Erinnerungen wirken könnte und doch ist es wichtig, da es etwas zum Thema macht, über das gesprochen können werden muss. Das einen öffentlichen Raum braucht, damit es Opfern von Gewalttaten eben genau nicht geht wie der Protagonistin.

Seraina Kobler – Tiefes, dunkles Blau

Seraina Kobler – Tiefes, dunkles Blau

Rosa Zambrano hatte die Kripo eigentlich für die Seepolizei in Zürich verlassen, doch nun muss sie die alten Kollegen im Falle des Mordes an Dr. Jansen unterstützen. Er ist just der Arzt, bei dem sie nur wenige Tage zuvor Eizellen hat einfrieren lassen. Neben seiner Praxis hat er Geld in ein Biotech Unternehmen investiert, das eine mögliche Spur in dem Mordfall darstellen könnte, die Chefin erscheint nicht nur abgebrüht, sondern durchaus auch mit Motiv. Aber auch im Privatleben des Opfers gibt es mehr als eine verärgerte Frau: die Noch-Gattin hat nicht vor ihn bei der Scheidung einfach davonkommen zu lassen, die zahlreichen Damen, zu denen er im überregional bekannten Bordell Kontakt unterhielt, verhalten sich ebenfalls verdächtig. Und dann ist da noch eine unbekannte Nummer, die er in den letzten Monaten immer wieder angerufen hat. Ein komplexes Geflecht, das auch immer wieder Rosas Privatleben streift.

Den ersten Fall für die Seepolizistin hat die Journalistin und Autorin Seraina Kobler in ihrer Wahlheimat Zürich angesiedelt und die Handlung stark auch mit den lokalen Örtlichkeiten verbunden. Auch wenn der Schauplatz in der größten Stadt der Schweiz angesiedelt ist, hat man in „Tiefes, dunkles Blau“ doch auch immer wieder das Gefühl eher im ländlich beschaulichen Raum zu sein, vor dem Mord und Totschlag bekanntermaßen auch nicht Halt machen. Und so sind es letztlich auch die bekannten Todsünden Habgier, Neid und Stolz, die maßgeblich die Handlung bedingen.

Vieles findet sich, was typischerweise in den cosy crime Romanen vorkommt: es wird immer wieder ausgiebig gegessen, auch die Landschaft rund um den Zürichsee wird ausführlich bedacht und ihr kommt durchaus auch eine entscheidende Rolle im Fall zu. Die Autorin verbindet dies jedoch mit der hochmodernen CRISPER Technologie und den aus der Erbgutmanipulation entstehenden ethischen Fragen. Dass es ist diesem Bereich nicht nur um wissenschaftliche Ehre, sondern vor allem um sehr viel Geld geht, bereitet den passenden Nährboden für einen unterhaltsamen und komplizierten Fall.

Auch wenn mich selbst die Protagonistin jetzt nur bedingt ansprechen konnte, ist die Geschichte doch insgesamt rund und packend.

Ellen Dunne – Boom Town Blues

Ellen Dunne – Boom Town Blues

Eigentlich ist Patsy Logan für eine Auszeit nach Dublin gekommen, um sich dort bei ihrer Cousine zu erholen und nebenbei auch ein wenig in der Familiengeschichte nachzuforschen, denn dass beim Tod ihres Vaters alles so war, wie es die offiziellen Berichte darstellen, glaubt sie nicht wirklich. Doch dann wird bei einem Empfang in der österreichischen Botschaft eine junge Deutsche vergiftet und man bittet sie um Amtshilfe. Gemeinsam mit einem Mitarbeiter der Botschaft soll sie die irischen Kollegen bei den Ermittlungen unterstützen, was auf wenig Begeisterung stößt. So hatte sie sich ihren Aufenthalt nicht vorgestellt, doch die Kommissarin ist durch und durch Polizistin und überschreitet bald schon ihre Grenzen, um die Spuren zu verfolgen, die die Iren nicht sehen wollen.

Ellen Dunnes dritter Auftritt für die toughe Münchner Ermittlerin führt wieder die beiden Länder zusammen, die den Hintergrund der Protagonistin bilden. Auch wenn Patsy von privaten Sorgen geplagt wird, steht in „Boom Town Blues“ der Mord im Zentrum. Schnell schon zeigt sich, dass die Motive jedoch nicht in dem Opfer zu suchen sind, sondern in dem, was Irland in den letzten Jahren immer wieder in die Schlagzeilen gespült hat: der rasante Aufstieg vom einstigen europäischen Armenhaus zum boomenden Finanz- und Immobilienzentrum, das mit der Krise 2008 einen einzigartigen Absturz erlebt hat.

Das ungleiche Duo Patsy und Sam bringt die Untersuchungen recht flott voran, von den Unverschämtheiten ihrer Dubliner Kollegen lassen sie sich weder einschüchtern noch aufhalten und haben so bald schon richtigen Ansatz gefunden. Patsys Ausfälle aufgrund der Trennung von ihrem Mann motivieren ihr Verhalten und auch die Anwesenheit in der irischen Hauptstadt glaubwürdig. Sie ist als Figur interessant gezeichnet, ohne jedoch den Krimi zu sehr damit zu überlagern.

Sehr gut gelungen ist für mich die Verschmelzung von Mordfall und der gesellschaftlich wie politisch brisanten Finanzkrise. Immer wieder wird der zentrale Handlungsstrang durch Einschübe unterbrochen, die einfache Menschen zeigen und Einblick in das geben, wie es vielen Hausbesitzern ergangen ist. Es war keine Krise, die nur Banken betroffen hat, im Gegenteil, die kleinen Eigentümer, die während der Jahre des wirtschaftlichen Aufstiegs zu größeren Krediten verführt und gedrängt wurden, als sie bedienen konnten, sind diejenigen, die es wirklich schlimm getroffen hat und die die Folgen der Spekulationen zu tragen haben. Tragische Schicksale, die so manchen verzweifeln und zu grausamen Handlungen verleiten lassen.

Ein unterhaltsamer Krimi, dessen Ermittlungen zügig und stringent verfolgt werden, wobei der Fall überzeugend in die gegenwärtige Situation Irlands eingebettet ist und geschickt auch die Folgen der Krise verdeutlicht.

Nona Fernández – The Twilight Zone

Nona Fernández – The Twilight Zone

1984 ist die namenlose Erzählerin noch eine junge Schülerin, jedoch mit 13 schon alt genug, um das Ausmaß dessen zu erfassen, was die Schlagzeilen ihrer chilenischen Heimat bestimmt: Andrés Antonio Valenzuela Morales gibt in einem Interview öffentlich zu, wie er für den Diktator Augusto Pinochet Menschen entführt, gefoltert und getötet hat. Er muss anschließend untertauchen und das Land verlassen, denn nun droht im dasselbe wie anderen vermeintlichen Feinden des Generals. Die Erzählerin ist wie besessen von dem Mann und als erwachsene Filmerin versucht sie sich noch einmal mit diesem Medium der Geschichte anzunähern, die jedoch zwischen ihren eigenen Erinnerungen und den Dokumentationen immer mehr zu flirren beginnt.

Nona Fernández ist eine chilenische Schauspielerin und Autorin, die neben Theaterstücken und einer Kurzgeschichtensammlung auch sechs Romane veröffentlicht hat. Sie wurde mit dem Sor Juana Inés de la Cruz Prize, dem renommierten Preis der Internationalen Buchmesse Guadalajara für spanisch schreibende Autoren geehrt, „The Twilight Zone“ war 2021 Finalist für den National Book Award for Translated Literature. Die Autorin fängt in ihrem Roman einen Teil der chilenischen Geschichte ein, der sich nicht in den Archiven findet, sondern nur in den Köpfen derjenigen, die die Diktatur miterlebt haben und diese tagtäglich, immer wieder innerlich durchleben.

„I tortured people“ – I habe Menschen gefoltert. Dieser Satz wird zum zentralen Element in der Obsession der Erzählerin. Sie interessiert sich nicht für den Menschen Andrés Antonio Valenzuela Morales, sondern nur für das, was er getan hat. Sie recherchiert einzelne Schicksale von Opfern, die in der Grauzone verschwunden sind, von denen niemand weiß, ob sie noch leben, schon längst ermordet wurden, was man ihnen vorwirft, was mit ihnen geschehen ist. Es ist das, was nicht dokumentiert wurde, was sich aber in das kollektive Bewusstsein eingebrannt hat und dort auch nach Jahrzehnten noch lodert. Vieles fand in der Öffentlichkeit, vor aller Augen statt und selbst die Kinder waren sich der Zeit bewusst, in der sie lebten.

Lügen und Angst dominierten unter Pinochet, mit den dokumentarischen Mitteln versucht die Erzählerin sich der Wahrheit anzunähern und merkt doch schnell, wie sie scheitert. Auch ihre Erinnerungen sind nicht so klar und eindeutig, wie sie es sich wünscht, sie vermischen sich auch mit den Geschichten der populären Fernsehsendung „The Twilight Zone“ und verwischen die Grenzen zwischen Realität und Fiktion.

Die Autorin versucht sich auf unterschiedlichen Wegen der Geschichte ihres Landes anzunähern. Das Bild bleibt fragmentarisch, verschwommen, und doch sind die kleinen Blitzlichter erschreckend, brennen sich ein, lassen einem erschrocken zurücktreten. Ein schwer nachvollziehbarer Horror, den die Menschen lebten und der auch in der Folge nur unzureichend aufgearbeitet und verfolgt wurde, den Nona Fernández jedoch einfängt und einer breiten Öffentlichkeit zugänglich macht.

Maria Adolfsson – Doggerland. Fester Grund


Maria Adolfsson – Doggerland. Fester Grund

Ein wenig neidisch ist Karen Eiken Hornby schon auf Luna, die berühmteste Sängerin von Doggerland, die eine geheimnisvolle Aura umgibt, der auch Karens Partner Leo offenbar gerade verfällt. Nach Jahren des Rückzugs will die Sängerin wieder ein Album veröffentlichen und hat nun im Geheimen die Aufnahmen mit Leo und dem Team gemacht. Als sie zu den finalen Aufnahmen nicht erscheint, wird Karen gebeten, inoffiziell zu ermitteln, nur wenige Tage später jedoch gibt es schon wieder Entwarnung und Karen kann sich einem viel dringenderen Fall widmen: ein Serienvergewaltiger scheint wieder zugeschlagen zu haben. Nachdem er bereits im Herbst Frauen brutal misshandelt hat, ist nun ein weiteres Opfer zu beklagen und wieder kann dies kaum Angaben zum Täter machen. Vier Frauen, die nichts gemeinsam zu haben scheinen, doch irgendetwas muss sie verbinden. Obwohl gesundheitlich angeschlagen, vergräbt sich Karen in die Nachforschungen – bis ihre Ärztin sie bittet, sofort vorbeizukommen.

„Fester Grund“ ist der Abschluss der Doggerland-Trilogie der schwedischen Autorin Maria Adolfsson. Die Inselgruppe zwischen Dänemark und Großbritannien, die einst die britischen Inseln mit dem Kontinent verband, liegt heute versunken in der Nordsee. In ihren Romanen macht Adolfsson sie zum Schauplatz der Ermittlungen ihrer eigenwilligen Kommissarin Karen Eiken Hornby, die im Abschlussband gleich zwei Fälle bearbeiten muss, während sie selbst ziemlich angeschlagen ist.

Die Suche nach der Sängerin Luna wird zunächst vor allem durch negative Emotionen Karens geprägt, sie ist sich ihrer Beziehung zu Leo, die nach wie vor weitgehend undefiniert ist, nicht sicher und lässt sich durch die strahlende Diva völlig aus dem Gleichgewicht bringen. Dies hindert sie zwar nicht daran, genauso akribisch und ernsthaft wie immer ihre Nachforschungen zu betreiben, aber die Stimmung zu Hause ist mehr als vergiftet. Auch der zweite Fall geht ihr nahe, die Brutalität, mit der der Täter immer wieder zuschlägt, ist kaum auszuhalten. Offenkundig treibt ihn ein tiefer Hass, was für sie die Vermutung nahelegt, dass er seine Opfer gekannt und sich von diesen gedemütigt gefühlt haben könnte.

Nachdem mich „Fehltritt“, der erste Teil der Reihe, restlos begeistern konnte, weil Adolfsson eine unglaubliche Welt erschaffen hat, die man sich mit dem rauen Klima leicht bildlich vorstellen kann, ließ mich „Tiefer Fall“ etwas enttäuscht zurück, da sich hier die Handlung etwas in sich selbst verirrt hatte. „Fester Grund“ punktet dieses Mal nicht mit der Insellandschaft, sondern mit zwei interessanten Fällen und einer wieder überzeugenden Protagonistin, die neben dem scharfen Verstand und auch ihre Schwächen offenbart und so genau jenen Bruch zwischen mutiger, unerschrockener Ermittlerin und leicht zu verunsichernden Partnerin schafft, der sie zu einer vielseitigen und authentischen Figur macht.

Ein klassischer nordic crime, der keine Wünsche offenlässt, außer vielleicht jenem, dass die Trilogie auch bei uns fortgesetzt wird, im schwedischen original ist nämlich inzwischen ein vierter Band erschienen.

Mary Adkins – Privilege

Mary Adkins – Privilege

Carter University – Harvard des Südens. Dort treffen ganz unterschiedliche Menschen aufeinander. Annie Stoddard will dort endlich eine normale Studentin sein, nach einem Unfall waren ihre Beine durch Narben entstellt, was inzwischen durch eine OP optisch korrigiert werden konnte. Bea Powers will sich von den Fußspuren ihrer über-erfolgreichen Mutter lösen und hat daher Strafrecht als Fach gewählt, sie will die Welt besser machen und jene verteidigen, denen niemand beisteht. Stayja York würde auch gerne studieren, aber sie uns ihre kranke Mutter kommen kaum über die Runden, weshalb sie als Barista jobbt und nur einzelne Kurse belegen kann. Als Annie nach einer Verbindungsparty den angesehenen Studentensprecher Tyler der Vergewaltigung beschuldigt, kreuzen sich die Wege der jungen Frauen unerwartet. Und alle drei müssen lernen, dass nicht Gerechtigkeit und Wahrheit entscheiden, sondern die Summen, die Eltern bereit sind, für ihre Kinder in die Hand zu nehmen. Mit dem falschen Background kann man so schnell doppelt zum Opfer werden.

Mary Adkins hat einerseits eine recht typische Campus-Novel geschrieben, in der das Leben an der Universität im Fokus steht: die Orientierung in der neuen Welt, große und kleine Sorgen des Studentenalltags und letztlich auch das Erwachsenwerden durch die ersten Schritte ohne die Eltern. Viel mehr noch rückt jedoch bald die US-amerikanische Gesellschaft mit ganz aktuellen Problemen in den Fokus.

Stayja ist leistungswillig und intelligent, aber die fehlenden finanziellen Mittel verhindern, dass sie studieren und damit ihrem sozialen Milieu entfliehen kann. Immer wieder neue Steine werden ihr in den Weg gelegt, die sie an den Rand der Verzweiflung bringen. Ihre Jobsituation ist prekär und schnell droht der Rausschmiss bei kleinsten Fehlern. Die Studierenden, die sie bedient, sehen sie gar nicht oder sehen auf sie herab.

Bea ist behütet in teuren Privatschulen an der Ostküste aufgewachsen, muss aber in Carter erkennen, dass sie mit ihrer dunklen Hautfarbe schnell kriminalisiert wird. Zunehmend realisiert sie, wie sehr Vorurteile das Strafmaß entscheidend bestimmen und wie so junge Leben zerstört werden, während andere Verbrecher ungestraft davonkommen. Auch in ihrem Studienprogramm wird ihr schmerzlich bewusst, wie die Gunst des angesehenen Professors verteilt wird: nicht der scharfe Verstand, sondern das Aussehen und die Bereitschaft ihn auf Reisen (und mehr) zu begleiten, sind entscheidend.

Annie ist durch ihre Narben immer schon zum Opfer stilisiert worden und ihr Aussehen gerät direkt in den Mittelpunkt in der sehr auf die Optik ausgerichteten Gesellschaft. Es ist zwar nicht so, dass man ihr ihre Vergewaltigungsvorwürfe nicht glauben würde, aber sie richtet sie schlichtweg gegen den falschen. Tyler stammt aus einer Familie mit Macht, die ungewünschte Stimmen zum Verstummen bringen kann und so erlebt sie statt Unterstützung weitere Repressalien, was unweigerlich dazu führt, dass sie immer mehr in einer Depression versinkt.

Überzeugend ausgearbeitete Figuren, deren jeweilige Geschichten clever miteinander verbunden werden. Viele aktuelle gesellschaftliche Fragen werden aufgeworfen, die einem als Leser zum Nachdenken bringen und einem auch vor das Rätsel stellt, ob Ähnliches sich hierzulande in ähnlicher Weise zutragen könnte.

Karine Tuil – Menschliche Dinge

Karine Tuil Menschliche DInge
Karine Tuil – Menschliche Dinge

Einfluss und Macht, darum geht es im Paris 2016. Jean Farel ist seit Jahrzehnten angesehener Journalist und Moderator der wichtigsten politischen Diskussionssendung im Land. Alle Präsidenten kennt er, alle wichtigen Franzosen hat er interviewt. Seine Frau Claire ist ebenfalls gefragt als Journalistin und Essayistin, dass ihre Ehe schon lange nur noch Show für die Öffentlichkeit ist, ist für beide mit ihren jeweiligen Partnern in Ordnung. Ihr gemeinsamer Sohn Alexandre ist ebenfalls mehr als wohlgeraten: mit besten Noten die Schule abgeschlossen, an der besten Universität Frankreichs angenommen und nun Student in Stanford. Doch der Abend, an dem Jean Farel eine der höchsten Ehren des Landes zuteilwird, wird ihr Leben durcheinanderwirbeln. Am nächsten Morgen steht die Polizei vor der Tür mit einem Durchsuchungsbeschluss, es liegt eine Anzeige vor: Alexandre soll die Tochter von Claires Lebensgefährten brutal vergewaltigt haben.

Karine Tuil greift in ihrem Roman eine reale Begebenheit auf, den sogenannten „Fall Stanford“, der die allseits bekannte Verbindungskultur an den amerikanischen Universitäten mit ihren alkoholreichen Partys und den zahlreichen, meist verschwiegenen, Übergriffen auf oft noch minderjährige Studentinnen über die Landesgrenzen hinaus in den Fokus der Öffentlichkeit brachte. Tuil nähert sich dem eigentlichen Geschehen auf höchst interessante Weise, stehen zunächst Alexandres Eltern im Zentrum der Handlung, immer jedoch auch schon mit Bezug zu dem, was heute unter dem Hashtag #metoo-Debatte subsumiert wird. Facettenreich wird das Thema beleuchtet und der Komplexität dadurch auch im Rahmen von Fiktion durchaus gerecht, weshalb der Roman erwartungsgemäß 2019 gleich für mehrere angesehene französische Literaturpreise nominiert war.

„Menschliche Dinge“ ist ein vielschichtiger Roman, der zahlreiche Diskussionspunkte liefert. Obwohl die Vergewaltigung im Mittelpunkt steht, ist für mich aber die Figur Jean Farel fast noch zentraler. Er ist als Inbegriff des alten, mächtigen Mannes, der in seinem Narzissmus hervorragend skizziert ist. Es vergeht kaum eine Seite, auf der man nicht über ihn den Kopf schütteln muss, sein verächtlicher Umgang mit Frauen, die Paranoia bezüglich seines Aussehens und Ansehens, exzentrisch plant er die Ordensverleihung, sein Parallelleben mit Françoise, seine rücksichtslose Kindererziehung – man weiß gar nicht, wo man anfangen soll. Eine hochinteressante Persönlichkeit hat die Autorin geschaffen, wobei es zahlreiche reale Vorlagen gegeben haben dürfte, man denke nur an Dominique Strauss-Kahn, den Farel an einer Stelle bewundert. Aber es gibt auch einen Bruch, der sich in seiner Langzeit-Geliebten zeigt: als Françoises Demenz immer weiter voranschreitet, verlässt er sie nicht, sondern behandelt sie liebevoll und zärtlich, fast besser als zuvor.

Auch Claire ist als Gegenpart spannend geraten, beginnt ihre Geschichte mit dem Monica Lewinsky Skandal und wird sie später durchaus als Vertreterin des Feminismus präsentiert. Sie gerät in das ganz persönliche Dilemma zwischen ihren Ansichten als öffentliche Frau und ihrem Sohn als Beschuldigtem. Dieses lässt sich nicht auflösen und sie ist es letztlich, die die ganz große Verliererin ist. Immer wieder hat sie wie viele erfolgreiche Frauen Sexismus und übergriffiges Verhalten schweigend ertragen, um ihre Karriere nicht zu gefährden und weil sie wusste, dass dies nun einmal der Preis ist, den sie als Frau dafür zu zahlen hat. Am Ende hat sie alles verloren, während ihr Mann immer noch in die Kameras lächelt.

„Ihr ganzes Leben lang hatte ihr Handeln im Widerspruch zu den Werten gestanden, zu denen sie sich öffentlich bekannte. Auch das war Gewalt: die Lüge, das verfälschte Bild des eigenen Lebens. Die Verleugnung. Der Weg, den sie abseits der Realität eingeschlagen hatte, um diese ertragen zu können.“

Den Großteil der Handlung nehmen die Ermittlungen und der Prozess ein. Zwei sich widersprechende Aussagen, die beide wahr und falsch sein können. Gewinner gibt es hier keine, Alexandre ist seelisch gebrochen hat sein Studium und seine Berufsaussichten aufgeben müssen. Mila ist psychisch gezeichnet von den Erlebnissen und fern davon, in so etwas wie Normalität zurückkehren zu können. Es bleiben Zweifel an beiden Darstellungen, was ich von Karine Tuil sehr gelungen finde, denn genau hier liegt oftmals die Krux: Selbst- und Fremdwahrnehmung können voneinander abweichen, die gleiche Situation unterschiedlich beurteilt werden. Das darf kein Freibrief für Gewalt sein, aber ebenso wenig für spätere Anklagen aus Scham vor dem eigenen Handeln. Die Nicht-Auflösung wird dem Konflikt daher mehr als gerecht.

Noch viel mehr ließe sich sagen zu diesem herausragenden Roman, der neben den Figuren und komplexen Problematik auch durch eine pointierte Sprache überzeugt. Für mich ein Lesehighlight in jeder Hinsicht.

Patricia Dixon – #MeToo

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Patricia Dixon – #MeToo

Als Billie einen langen Brief von ihrem Ex-Freund erhält, kehrt sie nach über einem Jahr auf einer griechischen Insel zurück nach Manchester. Stan sitzt im Gefängnis, verurteilt wegen einer Vergewaltigung, die er angeblich nicht begangen hat. Billie hat ihn nie als gewalttätig erlebt, aber wer weiß, was das Beziehungsende und ihre Flucht mit ihm gemacht hat? Stan bittet sie, mit einem Privatdetektiv zusammenzuarbeiten, der ebenfalls Zweifel an der Darstellung des Opfers hegt, doch bislang konnten sie noch keine stichhaltigen Beweise finden. Billie stimmt zu und nimmt über eine Opfergruppe Kontakt zu Kelly auf. Als diese ihre Sicht der Geschehnisse schildert, kommt sie ins Grübeln. Dieselbe Geschichte, detailgenau, aber in zwei völlig widersprüchlichen Versionen. Wer sagt die Wahrheit, der verzweifelte Ex im Gefängnis oder die junge attraktive Frau, die sichtlich von den Erlebnissen gezeichnet ist?

Patricia Dixon bringt in ihrem Psychothriller die Problematik der Stunde hervorragend auf den Punkt: was zwischen zwei Menschen geschieht, spielt sich häufig verschlossen vor Außenstehenden in den eigenen vier Wänden ab. Vermeintlich eindeutige Belege sprechen vielfach eine unklare Sprache und lassen sich in dieser oder jener Weise deuten. Das Leid von vielen Frauen, denen über Jahre nie Glauben geschenkt wurde, soll keineswegs in Zweifel gezogen werden, aber es ist auch eine Realität, dass gerade auch das Gegenteil passiert: falschen Anschuldigungen wird schnell geglaubt, weil sich niemand dem Vorwurf schuldig machen möchte, ein Opfer nicht ernstgenommen zu haben.

Die Protagonistin ist hervorragend geeignet, um zwischen die Stühle zu geraten. Einerseits kennt sie Stan seit Jahren, aber sie hatte auch gute Gründe ihn zu verlassen, auch wenn bei ihr der Fall etwas anders lag, aber sie wurde ebenfalls Opfer einer Gewalttat und hat von ihm nicht das Verständnis für ihre emotionale Ausnahmesituation erhalten, das sie gebraucht hätte. Andererseits hat sie ihn als Partner nie in der ihm vorgeworfenen Weise erlebt, wieso sollte er sich in so kurzer Zeit so grundlegend ändern? Kelly wiederum wirkt zunächst wie ein traumatisiertes Opfer, aber einige ihrer Verhaltensweise lassen doch aufhorchen. Schon früher gab es ähnliche Anschuldigungen ihrerseits, auch ihr Lebensstil und ihr beruf wollen nicht richtig zusammenpassen und sie scheint geradezu besessen von Selbsthilfegruppen zu sein, sie sucht pro Woche gleich mehrere auf. Hat sie da vielleicht genau das gehört, was sie sich jetzt zu eigen macht?

Als Leser nähert man sich zusammen mit Billie langsam dem, was man für die Wahrheit halten kann. Mal schlägt das Pendel mehr in diese, mal mehr in jene Richtung aus, geschickt streut die Autorin immer wieder Zweifel an beiden Seiten, so dass man wirklich lange Zeit nicht sicher sein kann, die tatsächlichen Geschehnisse zu durchschauen. Obwohl es sich um einen Thriller handelt, gelingt es Patricia Dixon auch bei guter Unterhaltung und hoher Spannung die Thematik differenziert zu beleuchten und keineswegs die eine oder andere Seite entscheidend zu bevorzugen, schwarz und weiß sind letztlich oft einfach zu wenige Farben in der Debatte.

Alafair Burke – The Wife

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Alafair Burke – The Wife

Nach einer schrecklichen Entführung in ihrer Jugend scheint Angela endlich das zauberhafte Leben führen zu können, von dem sie in ihrer ärmlichen Kindheit immer geträumt hat. An der Seite des Wirtschaftsprofessors und erfolgreichen Beraters Jason Powell verbringen sie und ihr Sohn Spencer sorgenlose Tage – bis eine Praktikanten unglaubliche Anschuldigungen erhebt: Jason habe sie sexuell belästigt. Dieser streitet den Vorfall ab und misst ihm keine große Bedeutung bei. Bis eine weitere Frau auf den Plan tritt und Vergewaltigungsvorwürfe erhebt. Dieses Mal scheint die Beweislage eindeutiger, aber Angela hält zu ihrem Mann. Sie kann und will nicht glauben, was die Frauen behaupten, vor allem, weil diese scheinbar auch die Gelegenheit nutzen möchten, mit einer geschickten Erpressung Nutzen aus der Situation zu ziehen. Je länger sich die Affäre hinzieht und je mehr Details über Jason an die Öffentlichkeit geraten, desto mehr wachsen auch Zweifel in Angela, wichtiger jedoch als dieser Fall ist ihr noch etwas gänzlich anderes, das sie vor der reißerischen presse schützen muss.

Alafair Burke wählt ein Szenario, das viel Spannung verspricht und Potenzial für zahlreiche Verwicklungen und Wendungen hat, jedoch auch bereits mehrfach als Basiskonzeption gewählt wurde. Im Vergleich zu ähnlichen Stories konnte mich die Autorin nicht ganz überzeugen, was vor allem an der Protagonistin lag, die für mich etwas zu diffus blieb und mich nicht wirklich für sie einnehmen konnte.

Der Spannungsaufbau kann überzeugen, immer weiter zieht sich die Schlinge um den untreuen Gatten, immer mehr Enthüllungen lassen ihn in einem immer schlechteren Licht erscheinen. Auch wenn einem die Mutmaßungen, dass die Frauen geschickt seine Lage nutzen möchten, um sich selbst zu bereichern, glaubwürdig ist, kommt er doch nicht auch ganz schadlos aus der Nummer heraus. Aufgrund der gewählten Erzählperspektive bleiben bei Jason Lücken, so dass man nicht sicher sein kann, wie weit er gehen würde und ob man seinen Aussagen trauen kann. Da man sich als Leser immer auf Angelas Seite befindet und sie das offenkundig wahre Opfer ist – gleich in mehrfacher Hinsicht – ist man geneigt, für sie eher Sympathie zu empfinden und ihr Glauben zu schenken. Leider lässt sich dies nicht lange genug aufrechterhalten und man kann daher die letztlichen Entwicklungen schon bald sehr deutlich vorhersehen.

Insgesamt überzeugender Plot, der jedoch für mich im Detail bei der Figurengestaltung etwas schwächelt und leider im letzten Drittel zu vorhersehbar wird und dadurch an Spannung verliert. Daher das Fazit: solide Unterhaltung, die aber noch steigerungsfähig gewesen wäre.

Philippe Lançon – Der Fetzen

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Philippe Lançon – Der Fetzen

„Vier in dem einen, eins im anderen Krankenhaus: Das sind die Zimmer, in denen ich vom 8. Januar 2015 bis zum 17. Oktober 2015 rund um die Uhr geblieben bin, was insgesamt, wenn ich richtig rechne, 282 Tage ergibt. Gefangene zählen und oft auch Kranke, weil sie am liebsten fliehen und verschwinden würden. Ich war weder gefangen noch krank: Ich war ein Opfer, ein Verletzter (…)“

Philippe Lançon, Reporter und Kritiker, der am Morgen des 7. Januar 2015 an der Redaktionssitzung von Charlie Hebdo teilnahm, der Wochenzeitung, die in den letzten Zügen lag und deren unabwendbarer Tod nur noch eine Frage von wenigen Ausgaben war. Der Tod sollte kommen, aber nicht für die satirische Wochenzeitung, sondern für ihre Macher, in Form der Brüder Kouachi, die bewaffnet in die Redaktionsräume eindrangen und um sich schossen. Elf Tote und zahlreiche Verletze ist die Bilanz, die global Schlagzeilen machte. Eines der Opfer war Philippe Lançon, der erst begreifen musste, das er Teil eines großen Ereignisses wurde und sein Leben von nun an in eine Zeit vor dem 7. Januar und eine Zeit nach dem 7. Januar 2015 getrennt werden würde.

„Der Fetzen“, in Frankreich mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem dem Spezialpreis des renommierten Prix Renaudot, der eigentlich Belletristik ehrt, ist eine Biographie der besonderen Art. Sie beschränkt sich auf wenige Monate, die Zeit von dem Anschlag auf Charlie Hebdo und sie endet auch mit einem Anschlag, dem auf das Bataclan am 13. November desselben Jahres. Es ist die Zeit für Philippe Lançon zwischen Tod und Rückkehr ins Leben, die Zeit von 17 Operationen und einem alles andere als optimal verlaufenden Heilungsprozess, den er minutiös mit dem Leser teilt. Letztlich ist es der Versuch etwas zu verstehen und zu verarbeiten, was weder verstehbar noch vergessbar ist. Es ist die persönliche Seite eines globalen medialen Großereignisses, das die Aspekte darstellt, die dem fernen Beobachter üblicherweise vorenthalten bleiben.

Mich hat Philippe Lançons Bericht schwer beeindruckt. Zum einen die Offenheit, mit der er die wiederholten Niederschläge im Heilungsprozess schildert, die Widrigkeiten während des Krankenhausaufenthaltes – es sind die Dinge, über die wir eigentlich nicht sprechen, die in unserer von ansprechender Optik dominierten Welt keinen Platz haben. Es sind aber vor allem auch seine persönlichen Beziehungen, die nach dem Attentat nicht mehr dieselben sind. Nicht nur ihn hat das Ereignis verändert, es wirkt auch sekundär auf sein Umfeld und er muss erkennen, dass nicht jeder mit der neuen Situation umgehen kann.

Der Autor ist ein außerordentlich reflektierter Mensch, was man dem Buch auf jeder Seite anmerkt. Er versucht nicht, einen tieferen, gar religiösen Sinn darin zu erkennen, dass gerade er Opfer wurde. Ebenso spielen seine Emotionen in Bezug auf die Attentäter keinerlei Rolle. Er lebt im Hier und Jetzt, aber er kann nicht mehr einfach irgendetwas lesen, es sind Proust und Kafka, die ihn ansprechen. Wie Prousts Protagonist wird auch er von Erinnerungsfetzen aus seiner Vergangenheit geplagt und kann bisweilen nur mit einer distanzierenden Ironie die kafkaesken Gegebenheiten ertragen. Es ist eine subjektive Verarbeitung, die keinen größeren Zusammenhang schafft, die Banalitäten – steht sein Fahrrad immer noch vor der Redaktion? Wo ist sein Stoffbeutel? – in den Fokus rückt und einem den Autor dadurch nah bringt.

Philippe Lançon ist Charlie Hebdo – mehr als alle, die sich den Slogan zu eigen gemacht haben. Aber er will nicht die Stimme oder das Gesicht sein, dafür ist er zu bescheiden. Er ist ein Überlebender, der das Überleben erst wieder zu schätzen lernen musste und dem, auch wenn man ihm über lange Zeit die Stimme raubte, doch nie die Worte ausgingen, was ein Glücksfall ist.