Taylor Jenkins Reid – Die sieben Männer der Evelyn Hugo

Taylor Jenkins Reid – Die sieben Männer der Evelyn Hugo

Evelyn Hugo – einer der größten Stars, die Hollywood je hervorgebracht hat und die auch mit fast 80 Jahren noch alle zum Luft anhalten bringt, wenn sie irgendwo auftaucht. Sie will Monique Grant, eine unbekannte Journalistin, um ihre Biografie zu schreiben. Warum ist nicht nachvollziehbar, doch die Diva macht klar: sie oder niemand. Monique besucht sie täglich in ihrem luxuriösen Appartement in Manhattan und lernt eine ganz andere Seite der Frau kennen, die die Öffentlichkeit als Sex Bombe und Gattin von sieben Ehemännern abgespeichert hat. Ein Leben voller Kämpfe, Siegen und Niederlagen – und voller Leidenschaft, die jedoch nur im Verborgenen existieren konnte. Monique ist fasziniert von der Frau, die vor ihr alle Schandtaten und Emotionen ausbreitet – doch es bleibt die Frage: warum sie? Welchen Grund hat die Schauspielerin, ausgerechnet Monique Grant all das anzuvertrauen?

„Die sieben Männer der Evelyn Hugo“ ist der Roman, mit dem die amerikanische Schriftstellerin Taylor Jenkins Reid ihren Durchbruch schaffte, der jedoch auf Deutsch erst fünf Jahre nach der Erstveröffentlichung erscheint. Mich hat die Autorin mit ihren fabelhaften Romanen „Daisy Jones & The Six“ und „Malibu Rising“ bereits restlos überzeugen können und genau das, was mich dort begeistern konnte, findet sich auch bei Evelyn Hugo: Figuren, die so authentisch und lebendig wirken, als würde man mit ihnen im Raum sitzen und all das erleben, was sie gerade durchmachen. Ein emotionales Auf und Ab, das ein großes und geheimnisvolles Leben offenbart, von dem man gar nicht glauben kann, dass es nicht real gewesen sein soll.

Immer wieder erinnert die Autorin geschickt daran, dass über der ganzen Geschichte ein Geheimnis hängt, das es noch zu lüften gilt. Dies kann jedoch nicht von dem schillernden Leben der Protagonistin ablenken, die am Ende ihres Lebens angekommen nichts mehr zu verbergen hat und frank und frei ihrem deutlich jüngeren Gegenüber alle richtigen wie auch falschen Entscheidungen offenbart. Es enthüllt sich das Leben einer Frau, die zum Star geboren war, die für ihre Chancen kämpfte, egal wie groß die Steine waren, die man ihr in den Weg legte. Sie war aber immer auch intelligent genug, die Grenzen zu kennen, jene, die Hollywood Frauen in den 50er und 60er Jahren auferlegte und jede der Gesellschaft, die noch nicht bereit war, jede Form von Liebe zu akzeptieren.

Ein Roman voller Leidenschaft, die nicht wenig Leiden schaffte, der schillernd Liebe und Freundschaft in allen Facetten schildert. Evelyn Hugo ist nicht verbittert, sie hat auch keine große Beichte mehr abzulegen, sie ist mit sich im Reinen und hat – trotz mancher Fehler – das Leben gelebt, das sie leben wollte. Emanzipiert lange bevor der Begriff geprägt wurde und doch den Konventionen unterworfen – Taylor Jenkins Reid fängt Widersprüche ein und lässt sie doch nachvollziehbar und plausibel werden.

So wie die Journalistin Monique zugleich fasziniert ist, wird man auch als Leser unmittelbar gefangen und folgt mit Sensationsgier wie auch Neugier den Schilderungen, ahnend, dass es noch einen Aspekt gibt, der womöglich alles zunichtemacht, was vorher an Begeisterung und Zuneigung für die Hauptfigur aufgebaut wurde. So entsteht eine Geschichte, die mitreißt auf der emotionalen Achterbahn, aus der man am Ende etwas durchgeschüttelt, aber mit absolutem Hochgefühl aussteigt.

Berit Glanz – Automaton

Berit Glanz – Automaton

Panikattacken fesseln die junge Mutter Tiff an ihre Wohnung. Schon der Weg zum Kindergarten ihres Sohnes Leon ist oftmals eine Herausforderung, an arbeiten außerhalb des geschützten Raums ist gar nicht zu denken. Glücklicherweise findet sie auf der Internetplattform Automa immer wieder Aufträge, die zwar schlecht bezahlt sind, aber von Zuhause aus erledigt werden können. Oftmals muss sie Bilder verschlagworten, mehr und mehr jedoch sieht sie sich Überwachungskameras an und notiert, wenn dort etwas passiert. Mit ihren Kollegen, die sie nur unter ihren Pseudonymen kennt, tauscht sie sich über die Videos aus, manche Menschen und Szenerien dort tauchen immer wieder auf und scheinen fast wie alte Bekannte zu sein. Bis plötzlich ein Mann verschwunden ist.

Berit Glanz greift in ihrem zweiten Roman „Automaton“ gleich mehrere aktuelle Gesellschaftsthemen auf. Zum einen ist ihre Protagonistin durch ihre Psyche stark in ihrem Leben und ihren Möglichkeiten eingeschränkt, was jedoch außer ihrem unmittelbaren Nachfeld niemanden zu interessieren scheint. Zum anderen prekär bezahlte Arbeit und die Reichweite des Internets in den normalen Alltag der Menschen. Eine Geschichte, die sich am Rand unserer Gesellschaft abspielt und diesen sichtbar macht.

Tiffs Situation ist in jeder Hinsicht schwierig. Die finanziellen Probleme, mit denen die alleinerziehende Mutter zu kämpfen hat, und die dem Wunsch gegenüberstehen, dem Sohn auch etwas zu bieten, was durch die Panikattacken zudem erschwert wird. Auch wenn sie glaubt, Leon eine unbeschwerte Kindheit ermöglichen zu können, wird doch immer wieder klar, dass der Junge trotz seines Alters sehr wohl spürt, wie die Lage seiner Mutter ist und seine Bedürfnisse zurückstellt. Ein Schicksal, dass Leon mit vielen Kindern teilt, die von klein auf Verzicht kennen und ihre Eltern nicht noch mehr belasten wollen durch eigene Wünsche.

Die online Jobs, die Tiff übernimmt, scheinen zunächst zur Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz zu dienen. Sie sind von Monotonie geprägt, doch die Menschen hinter den Bildschirmen lassen sich nicht auf automatische Reaktionen reduzieren, sondern werden umso humaner, als sie den Verdacht eines Verbrechens hegen. Die globale Vernetzung wird plötzlich zur Chance, vom heimischen Computer aus etwas zu bewegen und sich des mechanischen Daseins zu entledigen.

Berit Glanz spielt geschickt mit der Ambivalenz zwischen stupiden Arbeitsabläufen und einförmigem Alltag und dem Wunsch nach Ausbruch und einem lebenswerten Leben. Im Hinterhof kann Tiff plötzlich etwas gestalten, während sie gleichzeitig an Wohnung und Computer gefesselt ist. Äußere und innere Freiheit konkurrieren im Roman und lösen bisweilen scheinbare Widersprüche auf.

Bryony Pearce – Little Rumours

Bryony Pearce – Little Rumours

Exton Cross is the perfect small town to go unnoticed. At least that was what Kelly hoped for when she and her son Joe moved there. But when little Mia, a friend of Joe, vanishes from the playground, her past is threatened to be revealed. While Kelly is still worried about what might have happened, Aleema, Mia’s mother, fears for the worst. She never wanted to leave Manchester in the first place, but with her mother-in-law ill, they thought it was the best. And now her daughter is missing. Naomi on the contrast, has always lived there, she knows everything about everybody – at least she thinks so. Even though she is worried about the girl, she is also eager to protect her neighbourhood from foreigners and her lifelong friend who recently moved back will help her.

Bryony Pearce’s psychological thriller incorporates everything I hate about rural or small town life: your neighbours not only eye every step you take and nothing remains private. Gossip is part of everyday life and everybody knows everything about each other. As a newcomer, you will never fit in, the ranks are closed and the locals will speculate and spread rumours without hesitation, especially if you differ. The story is told alternatingly from the three women’s point of view thus illustrating how their “Little Rumours” come to life, are spread and what they do to those they affect.

I totally adored the thriller. First of all, the mystery about the vanished girl is not easy to solve, even though at some point, characters tend to become suspicious, there are several leads all likewise probable. Second, I love to hate those small town characters like Naomi, limited in their world-view they spring at anything unknown and believe themselves right in any respect not perceiving what harm they cause. Third, the female characters could hardly differ more. They are well portrayed, each unique in their struggles and fears and thus, it is easy to follow their line of thoughts. You quickly come to form an opinion about the characters and then, while reading, you have to modify your views since they are more complex than you gave them credit for in the first place.

A suspenseful thriller with some unexpected twists and a modern day witch hunt of the evilest type.

Agatha Christie – Der blaue Express

Agatha Christie – Der blaue Express

Nachdem Katherine Grey unerwartet zu einer Erbschaft gekommen ist und sich sogleich die gierige Verwandtschaft meldet, verlässt das englische Dorf St Mary Mead, um mit dem „Blauen Express“ an die Côte d’Azur zu fahren. In eben diesem macht sie zunächst die Bekanntschaft mit Ruth Kettering, Tochter des amerikanischen Millionärs Rufus Van Aldin, die sich heimlich mit ihrer großen Liebe verabredet hat, nachdem ihre Ehe auf eine Scheidung zusteuert. Auch einen sympathischen älteren Herrn lernt Katherine im Speisewagen kennen, mit dem sie die Leidenschaft für Kriminalgeschichten teilt. Als der Zug in Lyon hält, wird eine furchtbare Entdeckung gemacht: Ruth wurde ermordet. Verdächtige gibt es gleich mehrere, ihr mysteriöser Liebhaber ebenso wie ihr Gatte, dem der Tod seiner Frau mehr als gelegen kommt und der zufälligerweise ebenfalls an Bord des Zugs war. Für die französische Polizei ist es ein Glücksfall, dass Hercule Poirot ebenfalls genau jenen Express nahm und gerne bereit ist, bei den Ermittlungen zu unterstützen.

Die diesjährige Read Christie Challenge hat mit zu Hercule Poirots sechstem Fall geführt, da die März Aufgabe darin bestand, einen Roman zu lesen, den die Grand Dame of Crime im Ausland geschrieben hat. „Der blaue Express“ wurde 1927 auf den Kanarischen Inseln verfasst, nachdem Christie im Jahr zuvor ihre Mutter verloren hatte, die Untreue ihres Ehemanns entdeckte und selbst auf mysteriöse Weise zehn Tage verschwunden war. All diese belastenden Erfahrungen haben sie jedoch zum Schreiben zurückgeführt und eine klassische Locked Room Geschichte mit reicher Erbin, heimlichen Liebschaften und begehrten Juwelen hervorgebracht.

Setting wie auch Lösung des Falls folgen den bekannten Mustern der Kriminalromane Christies. Die Lösung scheint zunächst auf der Hand zu liegen und doch hat der clevere belgische Meisterdetektiv Zweifel. Menschenkenntnis und scharfe Beobachtung führen letztlich dazu, dass Puzzleteil für Puzzleteil an seinen Platz findet. Zum ersten Mal begegnet man als Leser den Örtchen St. Mary Mead, das später zur Heimat von Miss Marple und Schauplatz von „Mord im Pfarrhaus“ werden wird.

Von den Kritikern mit sehr unterschiedlichen Meinungen aufgenommen hat mir der Krimi besser als viele andere Poirot Romane gefallen, da Christie hier bei der zentralen Handlung bleibt und auf abschweifende Nebenstränge verzichtet.

Jonathan Lee – Der große Fehler

Jonathan Lee – Der große Fehler

Er war der Mann, der Greater New York zu dem gemacht hat, was es heute ist. Und doch ist der Erschaffer des Central Parks, der New York Public Library und des Metropolitan Museum of Art weitgehend unbekannt, nur eine winzige Plakette an schwer zugänglicher Stelle im Central Park erinnert an ihn und ein Gemälde, das jedoch nicht öffentlich zugänglich ist. Jonathan Lee beginnt die Geschichte des größten Bauherrn der Stadt mit dessen Todestag. An dem unheilvollen Freitag, dem 13. November 1903 wird Andrew Haswell Green vor seinem Haus in der Park Avenue von Cornelius Williams mit fünf Kugeln erschossen.

Wie auch in seinem Roman „Wer ist Mr Satoshi?“ lässt Jonathan Lee die Geschichte von einem Ende her erzählen, das jedoch zahlreiche Fragen aufwirft. Während sich Inspector McClusky auf die Erforschung der Gründe für den Mord macht, erfährt der Leser, wie aus dem armen Farmerjungen aus Massachusetts der Mann werden konnte, der das Bild des Big Apples für immer prägen sollte. Im Wechsel taucht man ein in die Lebensgeschichte Greens und die Ermittlungen, die trotz der Festnahme des Tatverdächtigen nur langsame Fortschritte machen.

Am prägendsten für Green war sicher die Freundschaft mit Samuel J. Tilden, Rechtsanwalt und späterer Gouverneur von New York und Präsidentschaftskandidat. Er nahm den damaligen Lehrling unter seine Fittiche, ermöglichte den Aufstieg und ermutigte ihn auch, seine Träume zu verfolgen.

Auch wenn ein Mord im Zentrum steht, ist der Roman doch sicherlich kein Krimi – allein das Ergebnis der Ermittlung verbittet dies schon. Lee hat eine spannende Mischung aus Biografie einer Person und einer Stadt erschaffen, man spürt den Herzschlag New Yorks. Einerseits fließen vielfältige Details in die Handlung ein, dann wiederum lässt der Autor auch Leerstellen, beispielsweise wenn es um das Verhältnis von Green und Tilden geht. Er bedient damit keinen Voyeurismus, ebenso wie man kaum Greens Gedankenwelt bei der Erschaffung seiner großen Werke nachvollziehen kann.

Lee gelingt im letzten Kapitel ein grandioser Abschluss, der vielleicht am besten die schwer zufassende Figur Andrew H. Green beschreibt:

„Parks. Brücken. Große Institutionen. Kunst. Sie waren die einig erschwinglicheren Formen der Unsterblichkeit (…) Doch kam ihm hier und jetzt der Gedanke (…), dass all seine öffentliche Arbeit nicht so viel bedeutete, wie einen Freund zu haben, der seine Hand hielt, wenn er starb.“

Christoph Poschenrieder – Ein Leben lang

Christoph Poschenrieder – Ein Leben lang

„Die Frage, die da im Hintergrund lauerte, die aber niemand, auch ich nicht, aussprach, war doch: Kann ein Mörder unser Freund sein und bleiben? Oder, wenn du es noch mal zuspitzen willst: Können wir es mit unserem Selbstverständnis vereinbaren, dass einer von uns einen Mord begangen hat?“

Die zentrale Frage des Romans wird gegen Ende erst offen ausgesprochen. Vier Freunde befragt der Journalist kurz bevor der wegen Mordes an seinem Onkel verurteilte Freund aus der Haft entlassen wird. 15 Jahre zuvor haben sie dem Prozess beigewohnt, seine Unschuld beteuert, alles drangesetzt, ein anderes Bild von ihm zu zeichnen als jenes, das vor Gericht und in den Medien präsentiert wurde. Einer von ihnen, den sie seit der Kindheit kannten, mit dem sie befreundet, sogar liiert waren, der konnte doch nicht heimtückisch seinen Onkel erschlagen haben. Oder doch? In den Gesprächen lassen sie die zwei Jahre des Verfahrens Revue passieren und wissen am Ende doch nicht sicher, ob ihr Freund schuldig ist oder nicht.

Der Journalist und Autor Christoph Poschenrieder hat sich für seinen Roman von einem realen Fall inspirieren lassen, bei dem Freunde eines Angeklagten ohne Wenn und Aber zu ihm gehalten haben und dies während des mehrjährigen Prozesses beharrlich demonstrierten „Ein Leben lang“ reißt die Fragen an, wie gut man wirklich jemanden kennen kann, wie weit Freundschaft geht oder wie bedingungslos diese ist, auch in Momenten der extremen Herausforderung.  

„Die nennen ihn nie beim Namen. Sie sind die Gruppe und er ist er, oder ‚unser Freund‘. Einer von ihnen und doch nicht. Oder nicht mehr.“

Viel Zeit ist vergangen, Zeit, in der Sebastian, Benjamin, Sabine und Emilia nicht nur älter und reifer geworden sind, sondern in der sie sich auch auseinandergelebt und neu positioniert haben. Mit dem Blick des Erwachsenen stellen sie sich nun nochmals jenen Fragen, mit denen sie schon viele Jahre zuvor konfrontiert waren: wie stichhaltig sind die Indizien? Ist der Freund vielleicht doch ein Mörder? Wenn sie sich so von den Kleinigkeiten täuschen lassen konnten, die vor Gericht als Lügen entlarvt wurden, haben sie sich dann nicht vielleicht auch in seinem Charakter getäuscht? Bei allen Zweifeln bleibt jedoch eine Überzeugung: es war richtig zu ihm zu stehen, denn dafür sind Freunde nun einmal da.

Durch die kurzen Interviewsequenzen wirkt der Roman lebendig und das Gesamtbild setzt sich peu à peu zusammen. Die unterschiedlichen Emotionen, die die Figuren durchleben, von fast euphorischem Kampfwillen bis zu tiefgreifenden Zweifeln fängt er dabei überzeugend ein und lässt sie authentisch und glaubwürdig wirken. Poschenrider schildert ein Ereignis, das menschlich maximal herausfordert, und lädt den Leser ein, sich selbst den Fragen zu stellen, die seit vielen Jahren an seinen Figuren nagen.

Mareike Fallwickl – Die Wut, die bleibt

Mareike Fallwinckl – Die Wut, die bleibt

Helene steht vom Abendbrot-Tisch auf, öffnet die Balkontür und stürzt sich zwölf Meter in die Tiefe. Zurück bleiben ihr Mann Johannes, die fast fünfzehnjährige Lola und die beiden Kleinen Maxi und Lucius. Sarah, Helenes Freundin seit Kindergartentagen, springt ein, übernimmt die Rolle der Mutter und Putzfrau, während Johannes so weitermacht wie zuvor. Lola wird zunehmend wütender, während des Lockdowns ist sie auf feministische Bloggerinnen gestoßen, hat unzählige Bücher gelesen und sieht nun zu, wie die unabhängige Autorin genauso in eine Rolle gezwängt wird, die ihre Mutter nicht mehr ausgehalten hat. Doch nun geht Lola weiter, sie will nicht Opfer werden, sich von Männern erniedrigen lassen und Worte, das hat sie bereits gelernt, reichen im Notfall auch nicht, um sich zu verteidigen.

Mareike Fallwickl verarbeitet in „Die Wut, die bleibt“ das, was inzwischen durch Statistiken mehr als gut belegt ist: all die Jahre des Kampfes um Emanzipation, für Gleichberechtigung und geteilte Familienarbeit wurden mit der Pandemie einfach weggewischt. Die Frauen sind beruflich zurückgetreten, haben Job, Familienarbeit und Homeschooling übernommen, während die Männer maximal das firmeneigene gegen das häusliche Büro getauscht haben. Im Fall von Helene war das Ende der Fahnenstange erreicht und sie hat den brutalen Ausweg gewählt. Die Frage nach dem Warum stellt sich niemandem wirklich.

Ohne Frage ist „Die Wut, die bleibt“ weniger eine Auseinandersetzung mit dem Verlust eines geliebten Menschen als ein radikal-feministischer Roman. Sarahs Reflex, Johannes nicht mit den Kindern allein lassen zu können, ungefragt für die Freundin einzuspringen und deren Rolle zu übernehmen unter Aufgabe ihres eigenen Lebens – niemand wundert sich wirklich darüber oder hinterfragt ihr Handeln. Der Vater muss gar nicht erst versuchen zurechtzukommen, es wird ihm schon abgenommen, bevor er es erkennt. Sarah merkt zwar, dass etwas schiefläuft, aber ihre Erziehung und ihre Rollenbilder erlauben ihr trotz des Glaubens an die vermeintliche Emanzipation nicht, das, was geschieht, ernsthaft infrage zu stellen.

Erst durch Lola und deren deutlich radikalere Ansichten, setzt ein Denkprozess ein. Bei dem Mädchen nimmt dieser durch den nicht verarbeiteten Verlust und die unwirkliche Situation deutlich schneller Fahrt auf. Die schützende Mutter ist weg und auch sonst niemand mehr da, der sich schützend vor sie stellen würde. Das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht treiben sie an, etwas zu ändern. Doch sie schlägt nicht den intellektuellen, sondern den physischen Weg des Widerstands ein und findet Mitstreiterinnen, die sich gegenseitig antreiben.

Sarah und Lola ergänzen und spiegeln sich. Sie gehören zu unterschiedlichen Generationen und agieren entsprechend auch verschieden. Der jeweilige Verlust mag in der Intensität ähnlich sein und doch ist er nicht vergleichbar. Es liegt in der Natur des Teenager Daseins, ohne Rücksicht auf Verluste und Gefühle wahrgenommene Wahrheiten auszusprechen und man muss einräumen: wirklich falsch liegt Lola mit ihren Feststellungen nicht. Das kann natürlich keine Entschuldigung für die Gewalt sein, die sie als Antwort auf Ungerechtigkeit wählt, aber es fällt auch nicht wirklich schwer, ihren Gedanken zu folgen.

Die Positionen Sarahs und Lolas sind nicht weit auseinander und doch: es mag der Altersunterschied, die Erfahrung oder auch einfach die Aufgabe des Kampfes und der Weg des geringeren Widerstands in der Gesellschaft sein, der sie auf scheinbar unterschiedliche Seiten stellt. Sie suchen und brauchen beide ein Ventil. Als Leser spürt man ihre Wut, die verdrängten in ihren Körpern gefangene Emotion, die einen Weg nach draußen braucht, um wieder ein inneres Gleichgewicht herzustellen.

Ein Roman, der einem unmittelbar berührt, mitreißt und zwei starke Protagonistinnen, die man gerne wie beste Freundinnen in den Arm nehmen und drücken möchte, um ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind mit dem, was sie erleben, weil man auch als Leser ganz nah bei ihnen ist.

Anne Tyler – French Braid

Anne Tyler – French Braid

It is coincidental encounter at a station: Serena sees a young man and is not sure if he’s her cousin. Her boyfriend cannot believe this, how can she not know her own cousin? Well, family matters have never been easy with the Garretts. Robin and Mercy have married at a young age, their two daughters Alice and Lily could hardly be more different from each other and their son David, a couple of years younger than the girls, even as a boy, was rather withdrawn. As the years pass by, the kids get older and independent, have their own families, make mistakes, Mercy follows her artistic works and drifts apart from Robin. It is only rare events that bring the whole family together for brief moments, but then, they remain on the surface and the important things are left unsaid.

Anne Tyler has been writing books for almost six decades, but I have only come to detect her work a couple of years ago. What I liked from the start was her relaxed tone which takes life just as it is, acknowledging the ups and downs, knowing that the show has to go on. Her latest novel, too, “French Braid” is wonderfully narrated capturing the small but decisive moments. It is the portrait of a family, not the totally average one but nevertheless one that could just live next door to you. Again, Tyler finds the interesting points in those at the first glance totally average lives.

“What’s the name of that braid that starts high up on little girls’ heads?” David asked Greta one night (…) “Oh a French braid,” Greta said. “That’s it. And then when she undid them, her hair would still be in ripples, little leftover squiggles, for hours and hours afterwards. “ “Yes…” “Well,” David said, “That’s how families work, too. You think you’re free of them, but you’re never really free; the ripples are crimped in forever.”

None of the Garretts have ever been close, not even the married couples, but nevertheless, they are family and therefore gather from time to time. They may not even like each other, but they like to stay informed. Some of them try to break out, especially the women, but just like the French braid, they cannot really free themselves, some things just stick.

Anne Tyler surely is a most accomplished writer, how else would it be possible to totally enjoy a novel and at the same time feel a little bit uncomfortable due to the extent you can recognise yourself in her writing. She does not focus on the exceptional, the outstanding, but finds the aspects worth mentioning in the ordinary, in the well-known and hardly ever actually noticed. It is with her soft voice and quite narration that she hints at what you should look at and think about. Another though-provoking, simply marvellous novel.  

Yoko Ogawa – The Memory Police

Yoko Ogawa – The Memory Police

Eine unbenannte Insel, abgeschnitten vom Rest der Welt. Die Protagonistin ist Autorin und seit dem Tod ihrer Eltern alleine und zurückgezogen in ihrem Elternhaus. Über der Insel liegt ein Fluch, der die Menschen nicht nur vieles vergessen, sondern vor allem immer wieder Dinge verschwinden lässt. Vieles fällt fast gar nicht auf, bei anderen Dingen arrangiert man sich und hat bald schon keine Erinnerung mehr daran, dass es sie einmal gab. Einige Menschen jedoch können nicht vergessen und wissen, was verloren geht. Sie werden von der Memory Police systematisch aufgespürt und verschleppt, wie die Mutter der Protagonistin. Auch ihr Lektor ist davon bedroht, weshalb sie ihn kurzerhand in ihrem Keller versteckt. Mit Hilfe ihres alten Nachbarn versuchen sie, dem Schicksal zu entkommen und immer wieder gibt es kleine Momente, die Vergangenes aufblitzen lassen, aber das Schicksal, das ihnen droht, scheint letztlich unausweichlich.

Yoko Ogawa ist seit dem Ende der 1980er Jahre in ihrer japanischen Heimat eine vielbeachtete und ausgezeichnete Autorin. Der dystopische Roman „The Memory Police“ (dt. Titel: „Insel der verlorenen Erinnerung“) erschien bereits 1994, wurde aber erst 2019 ins Englische übersetzt, womit er auch der westlichen Welt zugänglich, mit Begeisterung aufgenommen und für zahlreiche namhafte Literaturpreise nominiert wurde. Der Roman wird vor allem von der düsteren Atmosphäre getragen, die auf das Ende der Menschheit hindeutet und in der scheinbar nichts die drohende Auslöschung, samt aller Erinnerung an das, was einmal gewesen ist, aufhalten kann.

Die Autorin wählt ein klassisches Szenario, in dem sie ihre Geschichte ansiedelt. Es gibt scheinbar keine Welt außerhalb der Insel, die Kontrolle durch den Staat und die Memory Police ist streng und erbarmungslos. Es kann jeden jederzeit treffen, selbst wer ein unauffälliges Leben gemäß den Regeln führt, kann sie nie ganz in Sicherheit wähnen. Ein paar Auserwählten jedoch ist ein anderer Blick gegönnt, der sie in größte Gefahr bringt.

Ogawas Stil ist schnörkellos und passt zu der unbarmherzigen Umgebung, die nach dem Verlust der Kalender für immer im kalten Winter feststeckt. Die Protagonistin versucht dennoch Routinen aufrechtzuerhalten, auch wenn dies immer schwieriger wird, denn als Schriftstellerin ist sie auch Worte angewiesen, die jedoch mit dem Verschwinden der Dinge immer weniger werden. Die Welt reduziert sich sukzessive. Die Handlung spielt fast ausschließlich in dem kleinen Haus und beschränkt sich weitgehend auf die drei Figuren während die Welt außerhalb verschwindet. Tiere, Pflanzen und bald auch der Mensch.

Die Auslöschung der Welt – bei Yoko Ogawa ist es eine undefinierte Kraft, die jedoch von Menschen unterstützt wird. Kein Vögel mehr? Egal, sind ohnehin bald vergessen. Sprache? Ist auch verzichtbar. Drastisch führt sie uns vor, wohin die Reduktion des Lebensraums führt, was wir mit der Umweltzerstörung riskieren zu verlieren und wie wir unser eigenes Habitat unmenschlich gestalten – bis wir selbst uns letztlich auslöschen. Ein eindrucksvoller Roman, der in bester Tradition des Genres steht und dieses überzeugend ergänzt.

David Lagercrantz – Der Mann aus dem Schatten

David Lagercrantz – Der Mann aus dem Schatten

Nach dem Fußballspiel einer Jugendmannschaft wird der Schiedsrichter Jamal Kabir erschlag in einem benachbarten Wäldchen aufgefunden. Der Verdacht fällt schnell auf einen Vater, der schon während des Spiels ein erhitztes Gemüt gezeigt hat und im Viertel für seine Ausbrüche bekannt ist. Einzig die Beweise oder ein Geständnis fehlen der Polizei, weshalb Micaela Vargas ins Team der Mordermittlung geholt wird. Sie stammt aus demselben Viertel wie der Verdächtige und kennt diesen seit Kindheitstagen; vielleicht kann sie ihn dazu bewegen, die Tat zu gestehen. Micaela kommen jedoch schnell Zweifel, die noch verstärkt werden, nachdem die Polizei den berühmten Psychologen Hans Rekke hinzuzieht. Die junge Polizistin will den Fall aufklären, stößt aber bald auf Widerstände und wird schließlich ganz abgezogen. Scheinbar hat sie die richtigen, aber unerwünschten Fragen gestellt.

Der Journalist und Autor David Lagercrantz konnte mich mit seinen Fortsetzungen der Stieg Larsson Reihe um Lisbeth Salander und Mikael Blomkvist bereits begeistern. „Der Mann aus dem Schatten“ ist die Eröffnung seiner Reihe um den manisch-depressiven Psychologen Hans Rekke und die unerschrockene Ermittlerin Micaela Vargas. Auch wenn der erste Fall in sich abgeschlossen sind, sind doch schon viele Hinweise angelegt, die sogleich neugierig auf die folgenden Bände machen.

Lagercrantz lässt seine Handlung um Jahr 2003 starten, was zunächst verwundert, im Laufe der Geschichte enthüllt sich jedoch, dass sie in einem damals aktuellen politischen Kontext steht und weit über den kleinen Sportplatz in Stockholms Außenbezirk hinausgeht. Das bedauernswerte Opfer, ein aus Afghanistan Geflüchteter, hatte sich scheinbar gut in Schweden eingelebt und sich im Jugendsport engagiert. Dass ein väterlicher Ausraster zu so einer Tat führt, kann schnell verworfen werden. Nun jedoch stellt sich die Frage, ob Jamal Kabir wirklich der Mann war, wie ihn alle kannten.

Die beiden Protagonisten Micaela und Hans könnten gegensätzlicher kaum sein, was sie zu einem nicht unkomplizierten, aber sich hervorragend ergänzenden Team macht. Beide sind mit interessanten Charakterzügen ausgestattet und haben komplexe Familiengeschichten im Hintergrund, die noch viel Raum für Entwicklungen bieten. Mich konnten sie beide unmittelbar für sich gewinnen.

Der Schlüssel zur Lösung des Falls ist nicht leicht zu finden und Lagercrantz integriert geschickt psychologische Aspekte, die durch Rekke eingebracht werden, wie auch die politisch brisante Lage, die durch US-amerikanische Operation „Enduring Freedom“ in Afghanistan ausgelöst wurde. Micaela hingegen ist die Figur, die zwischen den unterschiedlichen Welten der verschiedenen Gesellschaftsschichten wandert und ein feines Gespür für Zwischentöne zeigt und unerschrocken für die Wahrheit kämpft.

Ein packender Politthriller, der fraglos Lust auf weitere Bände der Reihe macht.

Ein herzlicher Dank geht an das Blogger Portal und die Penguin Random House Verlagsgruppe. Mehr Informationen zu Autor und Buch finden sich auf der Verlagsseite.