Christoph Poschenrieder – Ein Leben lang

Christoph Poschenrieder – Ein Leben lang

„Die Frage, die da im Hintergrund lauerte, die aber niemand, auch ich nicht, aussprach, war doch: Kann ein Mörder unser Freund sein und bleiben? Oder, wenn du es noch mal zuspitzen willst: Können wir es mit unserem Selbstverständnis vereinbaren, dass einer von uns einen Mord begangen hat?“

Die zentrale Frage des Romans wird gegen Ende erst offen ausgesprochen. Vier Freunde befragt der Journalist kurz bevor der wegen Mordes an seinem Onkel verurteilte Freund aus der Haft entlassen wird. 15 Jahre zuvor haben sie dem Prozess beigewohnt, seine Unschuld beteuert, alles drangesetzt, ein anderes Bild von ihm zu zeichnen als jenes, das vor Gericht und in den Medien präsentiert wurde. Einer von ihnen, den sie seit der Kindheit kannten, mit dem sie befreundet, sogar liiert waren, der konnte doch nicht heimtückisch seinen Onkel erschlagen haben. Oder doch? In den Gesprächen lassen sie die zwei Jahre des Verfahrens Revue passieren und wissen am Ende doch nicht sicher, ob ihr Freund schuldig ist oder nicht.

Der Journalist und Autor Christoph Poschenrieder hat sich für seinen Roman von einem realen Fall inspirieren lassen, bei dem Freunde eines Angeklagten ohne Wenn und Aber zu ihm gehalten haben und dies während des mehrjährigen Prozesses beharrlich demonstrierten „Ein Leben lang“ reißt die Fragen an, wie gut man wirklich jemanden kennen kann, wie weit Freundschaft geht oder wie bedingungslos diese ist, auch in Momenten der extremen Herausforderung.  

„Die nennen ihn nie beim Namen. Sie sind die Gruppe und er ist er, oder ‚unser Freund‘. Einer von ihnen und doch nicht. Oder nicht mehr.“

Viel Zeit ist vergangen, Zeit, in der Sebastian, Benjamin, Sabine und Emilia nicht nur älter und reifer geworden sind, sondern in der sie sich auch auseinandergelebt und neu positioniert haben. Mit dem Blick des Erwachsenen stellen sie sich nun nochmals jenen Fragen, mit denen sie schon viele Jahre zuvor konfrontiert waren: wie stichhaltig sind die Indizien? Ist der Freund vielleicht doch ein Mörder? Wenn sie sich so von den Kleinigkeiten täuschen lassen konnten, die vor Gericht als Lügen entlarvt wurden, haben sie sich dann nicht vielleicht auch in seinem Charakter getäuscht? Bei allen Zweifeln bleibt jedoch eine Überzeugung: es war richtig zu ihm zu stehen, denn dafür sind Freunde nun einmal da.

Durch die kurzen Interviewsequenzen wirkt der Roman lebendig und das Gesamtbild setzt sich peu à peu zusammen. Die unterschiedlichen Emotionen, die die Figuren durchleben, von fast euphorischem Kampfwillen bis zu tiefgreifenden Zweifeln fängt er dabei überzeugend ein und lässt sie authentisch und glaubwürdig wirken. Poschenrider schildert ein Ereignis, das menschlich maximal herausfordert, und lädt den Leser ein, sich selbst den Fragen zu stellen, die seit vielen Jahren an seinen Figuren nagen.

Adrienne Brodeur – Wild Game

adrienne brodeur wild game
Adrienne Brodeur – Wild Game

Rennie ist 14 als der alles verändernde Kuss geschieht. Nicht sie selbst ist es, sondern ihre Mutter, Malabar, die Ben, den seit Jahrzehnten besten Freund ihres Gatten, küsst und damit alles aus den Fugen gerät. Die schillernde Frau geht eine Affäre ein und macht ihre Tochter nicht nur zur Mitwisserin, sondern zur Gehilfin, um ihre Treffen mit Ben zu decken, und zu ihrer Vertrauten, die sich alles anhören muss. Rennie hat ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem Stiefvater, aber die Sehnsucht nach der Nähe zur Mutter und deren Aufmerksamkeit, lassen ihr keinen anderen Ausweg. Als das Verhältnis droht aufzufliegen, ist sie zur Stelle, wann auch immer ihre Mutter leidet, spendet sie Trost. Dabei vergisst sie selbst jedoch den Abnabelungsprozess, den sie als junge Frau vollziehen sollte und wähnt sich in der Illusion, die geliebte Tochter zu sein. Tatsächlich ist sie nur eins: ein notwendiges Hilfsmittel.

Adrienne Brodeur verarbeitet in ihrem Buch ihre komplizierte Beziehung zur Mutter und schildert, welche drastische Folgen diese toxische Beziehung für sie auch viele Jahre später als eigentlich unabhängige Erwachsene hat. Selbst Kind einer allseits bewunderten, strahlenden Frau, hat Malabar nie gelernt zu lieben oder die Perspektive anderer einzunehmen. Ein Schicksalsschlag in jungen Jahren verhindert letztlich eine bedingungslose Beziehung zu ihren Kindern, die ihrerseits so sehr nach Zuwendung lechzen, dass sie aus diesem fragilen und schädlichen Beziehungsgebilde nicht herauskommen.

Anfangs hat das Geheimnis um das Verhältnis noch spannende und reizvolle Aspekte. Mit der Mutter ein so großes Geheimnis zu teilen, lässt das Mädchen geradezu euphorisch werden und sie deutet dies nicht nur als Vertrauens- sondern als Liebesbeweis. Gerne unterstützt sie das Spiel mit den anderen, unbedarft und nicht berücksichtigend, welche Folgen dies für die beiden anderen Partner haben kann. Doch je älter Rennie wird, desto deutlicher erkennt sie ihre Rolle im Leben ihrer Mutter. Schnell ist sie ersetzbar, ihr eigenes Leben und Leid wird gar nicht wahrgenommen und die psychologische Last, die sie seit Jahren mit sich herumträgt, muss zwangsläufig irgendwann in einer manifesten Erkrankung enden. Was von außen eine völlig klare und nachvollziehbare Entwicklung ist, wird von der Autorin an diesem Punkt nicht erkannt, zu sehr steckt sie fest als dass sie sich lösen und einen Schritt beiseite treten könnte, um einen anderen Blickwinkel zu gewinnen.

Es gelingt Adrienne Brodeur den perfekten Ton zu finden, um nicht verbittert ihre Erfahrungen zu schildern, sondern die verschiedenen Stadien, die sie durchläuft, auch sprachlich widerzuspiegeln. Der lockere, neugierig-heitere Ton begleitet die Anfangsphase, ernstere folgen je älter sie wird, bis schließlich der psychologische Tiefpunkt erreicht wird und sie erkennen muss, was aus ihrem Leben geworden ist. Aus dem naiven Mädchen wird die differenzierter denkende junge Frau und schließlich eine Erwachsene, die sich der unerfreulichen Realität und Erkenntnis stellen muss. So wie sie durch die Literatur sich selbst erkannt hat, kann sicherlich auch ihr literarischer Verarbeitungsprozess andere dazu ermutigen, ihre Beziehungen zu hinterfragen.