Michael Wildenhain – Das Singen der Sirenen

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Michael Wildenhain – Das Singen der Sirenen

Der Literaturwissenschaftler Jörg Krippen wird als Gastdozent nach London eingeladen. Schon bei der Ankunft in seiner Bleibe begegnet er einer jungen Frau, die zugleich etwas Bekanntes wie auch etwas Faszinierendes hat. Als sie in seinem Seminar auftaucht und ihn dann auch noch auf Deutsch anspricht, ist er mehr als verwundert, lässt sich aber auf eine Affäre ein. Bald schon muss er jedoch feststellen, dass sie sich nicht zufällig über den Weg gelaufen sind, sondern dass Mae dies alles geplant hat und ihn tatsächlich schon aus Berlin kannte. Berlin, seiner Heimat, wo auch seine Frau Sabrina und sein Sohn Leon sind und eigentlich das gemeinsame Leben stattfindet, aus dem sich Jörg gerade mehr und mehr flüchtet. Schnell entfremdet er sich von seinem alten Leben, doch die Vergangenheit holt ihn ein, eine Vergangenheit, die noch vor der mit Sabrina lag.

Sirene, die, ein weibliches Fabelwesen der griechischen Mythologie, das mit seinem Gesang die Männer betört und schließlich tötet.  Auch bei Michael Wildenhain singen die Sirenen und locken Jörg Krippen an, der scheinbar den Verlockungen der Frauen nichts entgegenzusetzen hat und sich wehrlos ausgeliefert sieht. Sabrina lockt ihn und kann ihn für ihre Ideale einnehmen, auch Mae ergibt er sich unmittelbar. Was in der Mythologie einen gewissen Reiz hat, weil immer die Hoffnung besteht, dass eines dieser Fabelwesen seinen Willen nicht bekommt, wird bei Wildenhain jedoch zu einem lahmen Männerbild, das mich nur teilweise überzeugen kann.

Jörg Krippen als Figur ist schwach. Beruflich weitgehend gescheiter, privat auch nur wenig vorzuweisen, als Vater versagt. Statt sich der Realität zu stellen, flüchtet er: in ein anderes Land, in eine andere Beziehung. Immer wenn es gilt, Verantwortung zu tragen, läuft er weg. Was soll mir diese Figur sagen? Dass es schwache Menschen gibt? Ja, natürlich. Dass es feige Menschen gibt? Sowieso. Aber wo bleibt die Lösung? Der Roman liest sich sehr gut, sprachlich tadellos und überzeugend. Aber auch ein wenig zu glatt, zu smooth, um Reibungspunkte zu erzeugen. Er kann an einigen Stellen überraschen, aber insgesamt für mich der Roman, der bezogen auf Handlung, Figuren, Thema und auch Sprache von den Nominierten der Longlist zum Deutschen Buchpreis der blasseste und am wenigsten überzeugende Roman ist.

Robert Prosser – Phantome

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Robert Prosser- Phantome

2015, Wien. Sara und ihr Freund kennen die Geschichte von Saras Mutter Anisa nur aus deren Erzählungen. Die Flucht aus Bosnien, wegen des Krieges aus der Heimat vertrieben. Der Konflikt, der plötzlich Nachbarn zu Feinden machte und Familien auseinanderriss. Die beiden Jugendlichen machen sich auf nachzuforschen, vor Ort, im Süden, da wo einst ein Land war und was inzwischen in unzählige Kleinstaaten zersplittet ist. Schnell wird das Leben von damals wieder lebendig und der Leser befindet plötzlich im Jahr 1992 und auf der Flucht vor dem Krieg. Anisa, die als Flüchtling hofft in Sicherheit zu kommen und ihr Freund Jovan, der von der Armee eingezogen werden soll und zwischen die Fronten gerät. Anisa kann die schrecklichen Kriegserlebnisse auch im fernen Wien nicht hinter sich lassen, die Ungewissheit, was mit dem Freund und dem Vater ist, lähmt sie immer wieder. Doch sie muss auch nach vorne blicken, sich in der Fremde ein neues Leben aufbauen – doch wie?

Robert Prosser greift in seinem Roman, der auf der Longlist des Deutschen Buchpreis 2017 stand, einen Konflikt auf, den man in Europa nur zu gerne verdrängt, weil es der erste Krieg auf europäischen Boden nach Ende des Zweiten Weltkrieges war. Dieser Konflikt hat jedoch auch unzählige Menschen gen Norden flüchten lassen und sie vor die schwierige Aufgabe gestellt, in der Fremde ein neues Leben beginnen zu müssen, obwohl das alte weder abgeschlossen war noch man dieses freiwillig aufgegeben hatte.

Die Schilderungen der Kriegserlebnisse von Anisa und ihrem jungen Freund sind grausam. Der Autor gibt sich nicht mit Andeutungen zufrieden, sondern schildert das, was sich in solchen Zeiten nun einmal zuträgt schonungslos und direkt. Auch das Leben im Flüchtlingsheim, wo man das Schlimmste eigentlich hinter sich gelassen hat, ist kein angenehmes und entspanntes Dasein. Andere Konflikte und Sorgen bestimmten den Alltag und soziale Gruppenprozesse, wie sie auch in jeder Dorfgemeinschaft zu finden sind, greifen auch dort und setzen den Bewohnern zusätzlich zu.

Im Rückblick etwas verwunderlich der Vorspann des Romans, der sehr auf den Graffiti sprayenden Freund von Anisas Tochter fokussiert und dessen nächtlichen illegalen Aktionen sehr ausufernd schildert. Ob es der Kontrast sein soll zwischen den beiden jungen Pärchen? Das eine, das den Nervenkitzel sucht, weil das Leben womöglich nicht genug zu bieten hat, das andere, das unmittelbare Kriegserfahrung machen muss – ich weiß es nicht, aber vom Ende an blickend ist dieser ganze Abschnitt eigentlich irrelevant.

Was jedoch auf jeden Fall gelungen ist, ist das Thema Balkan und die vielen ungelösten Fragen aufzugreifen und zu mahnen, dass man nicht nur die aktuellen Krisen im Blick haben sollte, sondern auch die vor unserer Haustür befindlichen, die auch 20 Jahre nach dem Friedensschluss noch immer nicht aufgearbeitet sind und liebsten offenbar vergessen wären. Aber viele der Betroffenen leben unter uns und sollten viel mehr daran erinnern.

Ein thematisch interessantes und sprachlich eindringliches Buch, das für mich nicht unbedingt durch besondere literarische Kniffe oder eine auffällige Sprache punkten kann, sondern das mit einer authentisch wirkenden Geschichte und politischer Relevanz überzeugt.

Zoe Whittall – The Best Kind of People

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Zoe Whittall – The Best Kind of People

Avalon Hills, Connecticut. The Woodbury family is a kind of an institution in the small community. George’s father has helped to set up the town, George himself is a popular teacher and a hero since he prevented a school shooting ten years ago. His wife Joan works as a nurse and actively contributes to different kinds of charity work, their son Andrew is a successful lawyer in New York and their 17-year-old daughter Sadie a real prodigy. Their life is just perfect. Until one day, a bomb explodes and blows up their whole life: some underage girls accuse George of having tried to rape them during a school trip. What seems to be unbelievable is taken serious by the police and George has to go to prison. Slowly, the family’s confidence in the father’s innocence falls apart. Is he really the man they believed he was?

Zoe Whittall’s novel is a masterpiece in character study. She does not focus on sensationalist facts, actually the accusations, the arguments and the evidence brought forward to support George’s guilt just play a random role in the novel. The centre are Joan and Sadie, wife and daughter who are confronted with the question if they have been fooled and who have to struggle with conflicting emotions within themselves. Their development from absolute supporter, via sceptical but still loyal to building a life without him is remarkably and convincingly portrayed.

It is especially Sadie who can persuade me as a reader. A teenager who is completely knocked off the track, whose life was well organised, everything prearranged and clear in every respect has now to cope with uncertainties, with shades of grey, gets to know her former friends from a completely new and absolutely hostile side. Confused over whom and what to believe, she loses contact to her inner self, tries out pot and pills to numb down her irritating feelings. Strong only for hours or moments, then thrown back again. She is a very authentic character and her struggles appear to be quite authentic.

Since we only get one perspective, the one of the family, we do not really know what actually happened, we never really hear George’s point of view and thus the reader is kept in the dark throughout the novel. There are hints that all might have been set up, yet, then, there is evidence that George is guilty and has not been faithful – in this way, there is an underlying suspense which keeps you going on reading. I enjoyed the novel, for me, it absolutely fulfilled the expectations.

Thomas Lehr – Schlafende Sonne

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Thomas Lehr – Schlafende Sonne

Normalerweise habe ich eine recht feste Art, Rezensionen zu Büchern zu schreiben. Bei Thoms Lehrs Buch „Schlafende Sonne“ funktioniert dies nicht, mich hat aber auch selten ein Buch so ratlos am Ende zurückgelassen und auch schon beim Lesen verärgert.

Dass man etwas Zeit braucht, um sich in ein Buch reinzulesen, ist bei anspruchsvollerer Literatur nicht ungewöhnlich. Manche Bücher muss man sich auch erarbeiten, was ich völlig ok finde, auch wenn ich ein Buch in meiner Freizeit zur Unterhaltung lese. Als ich etwas ein Drittel der 640 Seiten hatte, war mir jedoch immer noch nicht klar, worüber ich eigentlich gerade lese. Also habe ich mir nochmals die Verlagsseite mit der Kurzzusammenfassung angesehen. Aha. Hm. Nun ja. Aufgeben und das Buch weglegen ist nicht so meins, also weiter in der Lektüre.

Bei der Hälfte angekommen und immer noch genauso ratlos und völlig im Inhalt verloren, der mir episodenhaft und unzusammenhängend erscheint, der den Erzähler fröhlich wechselt und den Leser in keiner Weise begleitet oder ihm wenigstens ein kleines rotes Fädchen zur Orientierung bieten würde, also die nächste Strategie: was denken denn andere über das Buch?

Es steht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2017 und im Kommentar der Jury wird ein Labyrinth erwähnt – ja, genau so kommt es mir vor, und ich habe mich darin völlig verlaufen. Dann folgt die Erwähnung einer spannenden Erzählung und ästhetischen Wagemutes – nein, hier frage ich mich, ob ich ein anderes Buch lese. In einem kurzen Artikel der Zeit zu den Nominierten wird der Vergleich zu Robert Musil gezogen – ein Hinweis, dass der Roman vielleicht definitiv nichts für mich ist. In zahlreichen weiteren Besprechungen wird die außergewöhnliche Konstruktion des Romans hervorgehoben, die Form des Romans, die immer wieder neue Perspektiven bietet und sich spiralförmig um die Figuren legt. Ok, vermutlich ist mir etwas entgangen und ich sehe das Große Ganze nicht. Allerdings fand ich bei meiner Recherche Anne-Dore Krohns Kommentar auf der Seite des Kulturradios sehr sympathisch in diesem Zusammenhang. Die beginnt ihre Rezension mit dem Verweis auf Pennacs Rechte des Lesers, von denen sicherlich einige Gebrauch machen werden.

Nach der Erkenntnis, dass es keine klassische Handlung gibt, bleiben mir noch immer 300 Seiten, die ich nun aber eher großzügig überfliege, episodenhaft reinlese – manche Geschichten in der Geschichte sind wirklich interessant, toll, überzeugend geschrieben und können mich überzeugen, aber ich versuche nicht mehr weiter, irgendeinen Zusammenhang dazwischen zu konstruieren. Das Buch hat mich verloren und ich sehe mich am Ende nicht einmal in der Lage, in wenigen Sätzen die grobe Rahmenhandlung zusammenzufassen Ja, ich habe es inzwischen mehrfach gelesen und könnte es entsprechend wiedergeben, aber mir hat sich dies in nicht erschlossen.

Man kann in der Literatur experimentieren, soll man auch. Das wird nicht die großen Mengen an Lesern anziehen und begeistern, muss es aber auch nicht, so ist das in der Kunst nun einmal. Mich beschleicht jedoch in der Rezeption des Romans der Verdacht, dass hier einmal mehr ein besonders unlesbarer Roman hochgelobt wird und damit nicht nur zum heißesten Kandidaten für den Buchpreis gemacht wird, sondern auch einmal mehr zur Entfremdung zwischen profaner Leserschaft und hochintellektueller Buchkritik beiträgt. Das Volk versteht’s halt nicht. In meinem Fall ist das ganz sicher so, allerdings habe ich auch die Leseerfahrung gemacht – und ein Literaturwissenschaftsstudium und tausende gelesene Bücher reichen dafür allemal aus – dass wirklich große Literatur beides kann: literarisch innovativ und herausfordernd sein und gleichzeitig unterhalten.

Jakob Nolte – Schreckliche Gewalten

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Jakob Nolte – Schreckliche Gewalten

Eine Frau wird zum Werwolf, zerreißt ihren Mann und hinterlässt die beiden Zwilligskinder sich selbst. Iselin bleibt in Norwegen, versucht das, was ihre Eltern ihr mitgegeben haben, zu vergessen und wird Mitglied einer lokalen Terrorzelle, die jedoch lange Zeit wenig erfolgreich ist. Erst als Moira zu ihr stößt, wird es gefährlich. Die beiden Frauen treffen sich nicht zufällig, Moira hat dies geplant, denn sie kennt Iselins Familiengeschichte und fühlt eine Seelenverwandtschaft. Der Bruder Edvard hingegen verschwindet in den Schutz der sozialistischen Sowjetunion, wo er sich mit seinem Freund und Geliebten auf die Reise ins entfernte Afghanistan begeben will. Dazwischen liegen unzählige Ereignisse und Daten und Fakten, die einem den Kopf über diese abstruse Geschichte verlieren lassen.

Jakob Noltes Roman hat mein Interesse durch die Nominierung auf der Longlist des Deutschen Buchpreis 2017 geweckt. Schon die Kurzbeschreibung hatte mich eher abgeschreckt, das Cover machte mich ratlos. Aber nun gut, man soll ja seine Vorurteile nicht pflegen, sondern hinterfragen und so habe ich das Buch dennoch aufgeschlagen.

Diesen Roman zu fassen, ist nicht einfach. Wir haben die Geschichte – oder eher Geschichten – der beiden Geschwister. Sowie ein paar Vorinformationen der Eltern, die ganz und gar nicht irrelevant sind, aber eher Randnotizen bleiben. Dann wird Moiras Geschichte eingeschoben, die nicht minder interessant, nein eigentlich sogar wie ich finde, die spannendere Geschichte ist. Dazwischen verliert sich der Autor völlig in seinem Roman. Einzelne Begriffe scheinen ihn abzulenken und reißen einem aus der Handlung raus, um pseudowissenschaftliche Fakten zu referieren. Die wechselt sich mit den historischen Realitäten der Gewaltvollen 70er Jahre ab.

Es ist vor allem die Darstellung von Gewalt, die so nebenbei geschieht und doch brutal deutlich präsentiert wird, die einem verstört:

[als] „später als Licht den Mond erreichte, und dieser Mond, der nicht wirklich ein Planet ist und nicht wirklich ein Stern, sondern ein Mond, voll erleuchtet am Himmel stand, erblickte ihn die Mutter von Iselin und Edvard Honik, war erfasst von seiner Sanftmut, verwandelte sich in ein wölfisches Wesen, biss ihrem Gatten den Nacken durch, zerfleischte Teile seines Oberkörpers und schlief wieder ein.“

Auch Moira alias Sofia wird gewalttätig, aber sie ist nicht vor sich selbst erschrocken, sondern fasziniert von den Auswüchsen der menschlichen Seele. Sie fühlt sich bewohnt von einem Tier, das sie leitet und ihr Befehle erteilt. Diese Aufspaltung ermöglicht ihren blitzgescheiten Verstand, sich von ihrer dunklen Seite zu trennen und auch keine Schuld zu empfinden.

Die Kinder hingegen haben Angst, dem selben Schicksal wie die Eltern zu erliegen und flüchten sich daher in ihre eigenen Welten, die sie sich schaffen:

„Um sich nicht eines Nachts in ein Unheil und Schrecken verbreitendes Ungetüm zu verwandeln, versuchte er, so wenig wie möglich zu empfinden. Er dachte, dass das Eindämmen seiner Gefühle ein Überborden derselben praktisch unmöglich machen würde. Denn das, glaubte er, war die Tierwerdung seiner Mutter — ein bis in die Absurdität oder Absolutheit des Extremen übertriebenes Überborden von Gefühlen.“

Viele Formulierungen sind pointiert, exakt treffen sie in Schwarze und lassen einem erstaunen ob der Sprachgewalt des Autors. Auch die Konstruktion, ausgesprochen eigenwillig und daher eher gewöhnungsbedürftig, schließt sich am Ende und ist durchaus gelungen. Ein Roman wie eine Collage, vieles kennt man aus anderen Zusammenhängen, es wird von Nolte neu arrangiert. Fast surreal treffen die Versatzstücke aufeinander und ergeben so etwas Neues, das für sich steht und vom Leser über die Bausteine entschlüsselt werden muss.

Helen Sedgwick – The Growing Season

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Helen Sedgwick – The Growing Season

With FullLife’s service, women can finally get rid of all the negative aspects of pregnancy. No more sickness, no more pain during child birth and no more abstaining from alcohol and cigarettes and all the fun. And the best: the men can play a part, too! Simply use the pouch and have your baby cuddled in the perfect environment for 9 months. It does not take too long to convince the people that this is real evolution, the next step that makes mankind throw away the ballast and dangers connected to a pregnancy and child birth. And not to forget: this is how non-traditional families can finally fulfil their dream of having a baby. That’s what science is for, to lift mankind to a higher level, isn’t it? But progress normally also demands a price to be paid, it never goes for free. Up to now, however, only few people know how high the price really is.

Helen Sedgwick’s novel which is somewhere between Brave New World and The Handmaid’s Tale, raises a lot of questions. First of all, how far do we want to go for comfort and the fulfilment of our wishes. It only sounds too attractive to overcome all the negative side effects of being pregnant. And of course, the line of argumentation that now men and women are really equal since women cannot be reduced to reproduction anymore is also tempting at first. Second, we see scientists who – for different kinds of reason – act against their conscience and subordinate everything to alleged progress. Ethics cannot be ignored, undeniably, but sometimes there seems to be the time and space when you can sedate these thoughts and mute them in a way. Yet, quite naturally, this does not make the questions go away.

The novel tells the story from a very personal point of view which allows the severe topic to come across in a very human way with characters who have feelings and who suffer. In this way, you get involved in what they go through, the loss, the hopes, the fears. It does not provide easy answers to huge ethical dilemmas, but it adds some perspectives and reveals that quite often, there is much more than just black and white and that it is the different shades of grey which make it difficult for us to decide on the core questions of life. Lively characters portray this dilemma in a convincing way thus the novel can take it on with the great names of the genre.

Christine Wunnicke – Katie

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Christine Wunnicke – Katie

Was ist los mit Florence Cook? Schon als Kind benimmt sie sich seltsam, bindet sich an ihrem Bett fest und hat komische Wahnvorstellungen. Ein Gutachten muss her, sie könnte ein Medium sein. Florence zieht also zu Familie Crookes, deren Oberhaupt Sir William Crookes viel Erfahrung mit allerlei Gutachten hat und ein gefragter Mann im London des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist. Im Hause Crooks zeigt sich dann, was mit Florence los ist: sie wird von Katie Morgan bewohnt, dem Geist einer seit 200 Jahren untoten Piratentochter, die den Weg ins Jenseits noch nicht gefunden hat. Katie kann regelrecht aus ihr heraustreten, wissenschaftlich ist das sogar nachweisbar, denn Florence wiegt weniger und ihre Körpertemperatur sinkt. Ein Faszinosum und Highlight der Stadt.

Was aus heutiger Sicht natürlich völliger Humbug ist, zeichnet Christine Wunnicke mit der zeitgemäßen Ernsthaftigkeit nach. Der Wissenschaftler hält seine Erkenntnis wie folgt fest:

„Die psychische Elektrizität unseres Mediums«, fuhr Crookes langsam fort, »erzeugt neuerdings ebenfalls eine Emanation von stark wechselnder Stofflichkeit. Diese sitzt einer Verkennung auf, welche wohl ein Residuum erlernten Aberglaubens des Mädchens ist. Sie hält sich für den Nachhall einer ehemals Lebenden. Sie glimmt dito. Sie bewegt auch das Radiometer. Sie geht umher und spricht.”

Der Autorin gelingt es in jeder Hinsicht, die Atmosphäre Londons vor rund 150 Jahren einzufangen und ihren Figuren in den Mund zu legen. Dabei legt sie einen ironischen Ton an, der einem beim Lesen einfach begeistert. Insbesondere in Bezug auf Katie. Die mysteriöse Erscheinung ist kein freundliches Fräulein, das man befragen könnte, sondern ein durchtriebenes Gör:

„Auch für das, was der Geist tat, fand Pratt keine Worte. Er saß auf Pratt und drückte ihn mit leibhaftigem Menschengewicht in die Matratze. Zuvor hatte er andere Dinge getan, die ein Mensch nicht tun darf oder nur im Hafen der Ehe. Pratt drehte sich mühsam um. Jetzt saß der Geist auf seinem Rücken und Pratt konnte ihn nicht mehr sehen. Das war gut so.“

Es hat durchaus seinen Grund, dass Katie gerade Florence bewohnt. Auch für alle anderen Figuren, die mit ihr Kontakt haben, spiegelt sie jeweils das wider, was sie erwarten und in ihr sehen wollen. Wie bei jeder anderen Séance ist hier der Wunsch und Eindruck des Betrachters maßgeblicher als das, was real vorhanden ist. Die Figuren basieren auf realen Tatsachenberichten, es fällt nicht besonders schwer zu glauben, dass sich vieles genau so zugetragen hat, auch wenn es heute eher amüsant bis absurd anmutet.

Die Parodie der Schauerromane ist nicht zu verkennen – das jungfräuliche Mädchen, das besessen ist, der Forscher, der ihr helfen will, der abgeschlossene Handlungsort im hause Crooks, der böse Geist – und dann ein sehr modernes Verhalten der Figuren, die den wirtschaftlichen Nutzen des Ganzen erkennen und daraus zu Profit schlagen wissen: aus dem umherwandernden Geist Katie wird „Katie King“, die in öffentlichen Auftritten vorgeführt wird.

Christine Wunnickes Roman stand auf der diesjährigen Longlist für den Deutschen Buchpreis. Dies finde ich eher ungewöhnlich, denn weder Genre noch Umsetzung passen in die Reihe der üblichen Erwählten.

Catherine Lacey – Niemand verschwindet einfach so

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Catherine Lacey – Niemand verschwindet einfach so

Elyria tut das, wovon viele träumen, sich aber nie wagen in die Tat umzusetzen: sie verschwindet. Sie setzt sich in einen Flieger und reist von den USA nach Neuseeland. Sie weiß, wovor sie wegläuft, wohin sie will ist schon schwieriger. Zunächst einmal auf die Farm eines Mannes, den sie kennenlernte und der ihr leichtsinnigerweise anbot, bei ihm in der Abgeschiedenheit zu leben und arbeiten. Trampend bestreitet sie den Weg, Gelegenheitsjobs bringen immer wieder ein wenig Geld ein.- Was ihr Ehemann und ihre Mutter machen, interessiert sie nicht, das hat sie hinter sich gelassen. Was sie jedoch nicht zurücklassen kann, ist die Erinnerung, vor allem an ihre Stiefschwester, deren Tod sie nie überwunden hat. In der Ferne sucht sie nach etwas, sich selbst, und sie versucht ihrem alten Ich und all seinen Erinnerungen zu entkommen.

Catherine Lacey hat einen ungewöhnlichen Roman geschrieben, der einem direkt packt und mitreißt. Zunächst ist man verwundert über den Mut der Protagonistin, einfach alle Zelte abzubauen und in eine ungewisse Zukunft zu reisen. Dann kommen Zweifel, ob ihr Handeln wirklich durchdacht ist – nein – ob die Suche nach ihrem Selbst so erfolgreich ist – zweifelhaft – ob sie einfach leichtsinnig oder gar verrückt ist – naheliegend. Die Reise ist viel weniger eine Suche denn ein Weglaufen. Sie stellt sich nicht den Dingen, die sie dringend besprechen und bearbeiten müsste. Jede Begegnung mit einem Menschen wird zur Qual, weil sie Fragen zu sich beantworten soll, dabei will sie nichts weniger sein als sie selbst. Aus der mutigen wird plötzlich eine eher feige Frau, die nicht den Schneid hat, ihrem Leben entgegenzutreten.

Elyria muss dies im Laufe ihrer Reise erkennen. Hier liegen die besonderen Stärken des Romans. Die Handlung bewegt sich zwischen den Stationen in Neuseeland und den kurzen Episoden des Kontakts mit eigentlich fremden Menschen, zu denen Elyria nie eine Verbindung aufbauen kann, bleibt so recht überschaubar. Spannender und interessanter indes ihre psychische Entwicklung. Nach und nach reift jedoch in ihr die Erkenntnis, dass ihr Ziel verfehlt werden wird:

„damals, als ich noch dachte ich hätte herausgefunden, wer ich war und warum ich anscheinend mit dem Leben nicht so gut umgehen konnte, wie andere Leute das taten“ (S. 148) und

„Selbst wenn niemand mich je fände, wenn ich den Rest meines Lebens hier verbrächte und für immer verschwunden bliebe, von anderen für vermisst erklärt, könnte ich aus meinem eigenen Leben doch nie verschwinden; ich könnte nie den Verlauf meiner Geschichte löschen, sondern wüsste immer genau, wo ich war und gewesen war (…) das, was ich die ganze Zeit gewollt hatte, vollständig verschwinden, doch eben das würde mir nie gelingen – niemand verschwindet einfach so, niemand hat diesen Luxus je gehabt oder wird ihn je haben“ (S. 160)

Sie muss zurückkehren in ihr altes Leben, sich diesem wieder stellen oder etwas ändern, denn weglaufen und verschwinden funktioniert nicht.

Burhan Sönmez – Istanbul, Istanbul

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Burhan Sönmez – Istanbul, Istanbul

Istanbul, eine Gefängniszelle irgendwo unter der Stadt. Der Student Demirtay, der Doktor, der Babier Kamo und Küheylan Dayi werden in der zwei mal ein Meter großen Zelle unfreiwillig Schicksalsgenossen. Sie warten, nicht auf die Freilassung, damit rechnet keiner von ihnen, sondern auf die Wärter, bis diese zum nächsten Mal die Zelle aufschließen, einen von ihnen rausholen und wieder foltern. Dann warten sie, bis der Zellengenosse schwer verletzt zurückgeschleift und wieder zu ihnen geworfen wird. Es ist kalt da unten, sie haben kein Licht und nur wenig zu essen. Sie erzählen sich nichts von ihrem Leben, was sie in die Zelle geführt hat, das wäre zu gefährlich, denn schon bei der nächsten Befragung könnte einer der Mithäftlinge etwas preisgeben. Also verbringen sie ihre Zeit mit dem Geschichtenerzählen, wie es seit Menschengedenken Tradition ist, um die Zeit des Wartens zu verkürzen.

Burhan Sönmez hat seinen dritten Roman bereits 2015 im Original veröffentlicht. Auch wenn man dies weiß, kommt man nicht umhin die aktuelle politische Lage beim Lesen des Buchs mitzudenken. Die Grundkonstellation, dass Menschen wie Tiere zusammengepfercht unter der Erde sitzen, dass außer neuen Folterungen sie nichts aus den Zellen herausführt und dass ihr Schicksal ungewiss ist, für sie selbst und für ihre Familien draußen – man zweifelt heute nicht an der wahrheitsgemäßen Darstellung der Situation.

Die vier Schicksalsgenossen und das Mädchen in der gegenüberliegenden Zelle machen das Beste aus der Gefangenschaft. Sie phantasieren sich nach draußen, nutzen ihre Erinnerung, um sich wenigstens zeitweise von den Schmerzen der Verletzungen und der Enge des Raumes wegzuträumen und diese zu vergessen. Daneben erzählen sie die Geschichten, die sie von den Vätern gehört haben und die schon Jahrtausende lang mündlich tradiert werden. Schnell ist man erinnert an Tausendundeine Nacht oder das Decamerone, die Figuren nehmen selbst Bezug darauf:

„Die Leute im Dekameron hatten allerdings mehr Glück als wir. Durch die Flucht aus der Stadt entgingen sie dem Tod. Uns hat man auf den Grund der Stadt in die Finsternis gestoßen. (…) uns verfrachtete man gegen unseren Willen hierher. Schlimmer noch, während sie sich vom Tode entfernten, sind wir ihm näher gerückt.“ (S. 158)

Tapfer ertragen sie ihr Schicksal, ihre Handlungsmöglichkeiten sind ohnehin begrenzt. Die einzige Abwechslung stellen die Folterungen durch die Wärter dar, die brutal und menschenverachtend sind, aber die vier Protagonisten nicht brechen können. Doch die Wärter haben noch eine andere, perfidere Idee, um an die Geheimnisse der Insassen zu kommen. Und diese nutzen sie.

Der Roman ist eine Hommage an Istanbul, wo alles möglich ist, ebenso wie sich die gefangenen gedanklich überall hinbewegen können. Sie überkommen die Grenzen des Körperlichen, ignorieren den Schmerz und lösen sich dank ihres Geistes. Wie einst die Flaneure durch die europäischen Großstädte schickt Sönmez seine Insassen los, wie in der europäischen Tradition des Geschichtenerzählens im Decamerone oder auch bei den Canterbury Tales lässt er sie berichten – Burhan Sönmez schafft so die Verbindung zwischen Orient und Okzident genau da, wie die Grenze schon immer lag und wo beide aufeinandertreffen und verschmelzen: in Istanbul.

Robert Menasse – Die Hauptstadt

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Robert Menasse – Die Hauptstadt

Eine neue Sau wird durchs Dorf getrieben – oder so ähnlich. Ein Schwein, Mitten in Brüssel, der europäischen Hauptstadt. Die Gemüter sind erregt, die Gazetten stürzen sich auf das Thema. Derweil plagen die Beamten der Europäischen Kommission ganz andere Sorgen als Schweine auf Brüssels Straßen. Schweineohren sind interessant, aber nur, weil man damit auf dem chinesischen Markt Geld verdienen kann und aktuell die Nationalstaaten im Alleingang mit dem asiatischen Riesen verhandeln und sich gegenseitig reihenweise ausbooten und schaden. Ist das im Sinne der EU? Die könnte etwas für ihr Image tun, da kommt Fenia Xenopoulou das Big Jubilee Project gerade recht. Außerdem könnte das ihr Sprungbrett in ein wichtiges Ressort sein, Kultur ist mehr so das Abstellgleis. Apropos Gleis, als Kind ist David de Vries von einem Zug gesprungen, einem Deportationszug nach Auschwitz, der ihn in den sicheren Tod befördern sollte. Sein Leben lang war er Zeuge dessen, was Hass und Nationalstolz verursachen können, doch jetzt kann er sich kaum mehr erinnern, was er zehn Sekunden zuvor noch gedacht hat. Sein geistiges Erbe droht zu verfallen. Ähnlich verfällt auch der Körper von Kommissar Brunfaut, der eigentlich einen Mord aufklären will, den es aber plötzlich nicht mehr gegeben haben soll und der ihm einen unplanmäßigen Urlaub einbringt.  Sie alle haben das Schwein gesehen, wie viele andere in der Hauptstadt der derzeit unpopulären Union, ein Schwein, über das alle reden und das die Leute in der Suche nach einem Namen zusammenführt und so wenigstens in einem Thema vereint.

Es ist nicht einfach, Robert Menasses Roman auf den Punkt zu bringen. Sehr viele Figuren, sehr viele Einzelhandlungsstränge, viel Geschichte und Politik – aber vielleicht ist es doch ganz einfach: es lebe die EU. Was wie ein chaotisches Kaleidoskop undurchdringlich scheint, schillert jedoch und entsteht in jeder Sekunde neu und kann bestaunt und bewundert werden. Die Menschen sind es, die das gemeinsame Europa entstehen lassen und die Vielfalt ausmachen.

Die Figuren sind durchdacht und vielschichtig kreiert. Die Karrieristin, der brave Beamte, der leidenschaftliche Volkswirt – es mangelt nicht an Stereotypen, jedoch bleiben sie dabei nicht stehen, sie haben Brüche und zeigen Facetten, die sie aus der Schablone herauslösen und zu Individuen werden lassen. Ihre Wege kreuzen und überschneiden sich, lösen sich dann wieder und oftmals bleiben die Begegnungen unentdeckt. Ein buntes Treiben geradezu, genau wie man es in Brüssel auch erleben kann.

Zweifelsohne ist der Roman ein Lobgesang auf die nachnationale Staatengemeinschaft, auch wenn die Mitarbeiter der Kommission weniger an der großen politischen Idee als an dem persönlichen Weiterkommen interessiert zu sein scheinen. Geradezu ad absurdum wird dies durch die Figur Alois Erharts geführt, der ein rauschendes Plädoyer auf eine neue europäische Hauptstadt singt, die aus Ruinen auferstehen müsse und daher nur an dem Ort entstehen könne, an dem die größte Niederlage Europas zu beklagen war: in Auschwitz. Leider verstirbt kurz danach der letzte Überlebende der Tragödie. Ein Humor, der begeistern kann, wenn man über eine gewisse Morbidität hinwegsieht, die sich durch das ganze Buch zieht. Menasse versteht sein Handwerk und setzt seine Sprachfertigkeit gekonnt ein, nein, er steht sogar über dem gängigen literarischen Diskurs und kann sich eine Eröffnung mit „Wer hat den Senf erfunden?“ erlauben.

Dass „Die Hauptstadt“ auf der Shortlist des Deutschen Buchpreis 2017 gelandet ist, ist keine große Überraschung. Thematisch am Puls der Zeit – das Schwein soll hier nochmals ganz am Ende eine grenzwertige politisch relevante Rolle spielen und den Verdruss der Bürger zu einer unsäglichen Klimax führen – und doch leicht und unterhaltsam. Es macht tatsächlich wieder Lust auf das europäische Miteinander, das Europa von Menschen, die hier bei Menasse auch äußert menschlich sein dürfen.