Mareike Fallwickl – Die Wut, die bleibt

Mareike Fallwinckl – Die Wut, die bleibt

Helene steht vom Abendbrot-Tisch auf, öffnet die Balkontür und stürzt sich zwölf Meter in die Tiefe. Zurück bleiben ihr Mann Johannes, die fast fünfzehnjährige Lola und die beiden Kleinen Maxi und Lucius. Sarah, Helenes Freundin seit Kindergartentagen, springt ein, übernimmt die Rolle der Mutter und Putzfrau, während Johannes so weitermacht wie zuvor. Lola wird zunehmend wütender, während des Lockdowns ist sie auf feministische Bloggerinnen gestoßen, hat unzählige Bücher gelesen und sieht nun zu, wie die unabhängige Autorin genauso in eine Rolle gezwängt wird, die ihre Mutter nicht mehr ausgehalten hat. Doch nun geht Lola weiter, sie will nicht Opfer werden, sich von Männern erniedrigen lassen und Worte, das hat sie bereits gelernt, reichen im Notfall auch nicht, um sich zu verteidigen.

Mareike Fallwickl verarbeitet in „Die Wut, die bleibt“ das, was inzwischen durch Statistiken mehr als gut belegt ist: all die Jahre des Kampfes um Emanzipation, für Gleichberechtigung und geteilte Familienarbeit wurden mit der Pandemie einfach weggewischt. Die Frauen sind beruflich zurückgetreten, haben Job, Familienarbeit und Homeschooling übernommen, während die Männer maximal das firmeneigene gegen das häusliche Büro getauscht haben. Im Fall von Helene war das Ende der Fahnenstange erreicht und sie hat den brutalen Ausweg gewählt. Die Frage nach dem Warum stellt sich niemandem wirklich.

Ohne Frage ist „Die Wut, die bleibt“ weniger eine Auseinandersetzung mit dem Verlust eines geliebten Menschen als ein radikal-feministischer Roman. Sarahs Reflex, Johannes nicht mit den Kindern allein lassen zu können, ungefragt für die Freundin einzuspringen und deren Rolle zu übernehmen unter Aufgabe ihres eigenen Lebens – niemand wundert sich wirklich darüber oder hinterfragt ihr Handeln. Der Vater muss gar nicht erst versuchen zurechtzukommen, es wird ihm schon abgenommen, bevor er es erkennt. Sarah merkt zwar, dass etwas schiefläuft, aber ihre Erziehung und ihre Rollenbilder erlauben ihr trotz des Glaubens an die vermeintliche Emanzipation nicht, das, was geschieht, ernsthaft infrage zu stellen.

Erst durch Lola und deren deutlich radikalere Ansichten, setzt ein Denkprozess ein. Bei dem Mädchen nimmt dieser durch den nicht verarbeiteten Verlust und die unwirkliche Situation deutlich schneller Fahrt auf. Die schützende Mutter ist weg und auch sonst niemand mehr da, der sich schützend vor sie stellen würde. Das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht treiben sie an, etwas zu ändern. Doch sie schlägt nicht den intellektuellen, sondern den physischen Weg des Widerstands ein und findet Mitstreiterinnen, die sich gegenseitig antreiben.

Sarah und Lola ergänzen und spiegeln sich. Sie gehören zu unterschiedlichen Generationen und agieren entsprechend auch verschieden. Der jeweilige Verlust mag in der Intensität ähnlich sein und doch ist er nicht vergleichbar. Es liegt in der Natur des Teenager Daseins, ohne Rücksicht auf Verluste und Gefühle wahrgenommene Wahrheiten auszusprechen und man muss einräumen: wirklich falsch liegt Lola mit ihren Feststellungen nicht. Das kann natürlich keine Entschuldigung für die Gewalt sein, die sie als Antwort auf Ungerechtigkeit wählt, aber es fällt auch nicht wirklich schwer, ihren Gedanken zu folgen.

Die Positionen Sarahs und Lolas sind nicht weit auseinander und doch: es mag der Altersunterschied, die Erfahrung oder auch einfach die Aufgabe des Kampfes und der Weg des geringeren Widerstands in der Gesellschaft sein, der sie auf scheinbar unterschiedliche Seiten stellt. Sie suchen und brauchen beide ein Ventil. Als Leser spürt man ihre Wut, die verdrängten in ihren Körpern gefangene Emotion, die einen Weg nach draußen braucht, um wieder ein inneres Gleichgewicht herzustellen.

Ein Roman, der einem unmittelbar berührt, mitreißt und zwei starke Protagonistinnen, die man gerne wie beste Freundinnen in den Arm nehmen und drücken möchte, um ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind mit dem, was sie erleben, weil man auch als Leser ganz nah bei ihnen ist.

Sofi Oksanen – Hundepark

Sofi Oksanen – Hundepark

Im Hundepark in Helsinki sieht sie sie zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder. Olenka dachte fernab der Heimat in Sicherheit zu sein, nicht gefunden zu werden, doch jetzt ist Daria aufgetaucht und das kann nichts Gutes bedeuten. Sie blicken auf die glückliche Familie mit den beiden Kindern. Ihren Kindern. Die jedoch nichts davon wissen, wer ihre leiblichen Eltern sind und wie sie gezeugt wurden. Und schon gar nichts wissen sie von den rücksichtslosen Machenschaften in der Ukraine, an denen Olenka selbst beteiligt war und bei denen die prekäre Lage junger, mittelloser Frauen ausgenutzt wurde. Doch nun holt sie die Vergangenheit und das, was sie getan hat, ein und sich muss sich ihren Taten stellen.

Die finnisch-estnische Schriftstellerin Sofi Oksanen thematisiert immer wieder politisch und gesellschaftlich brisante Themen in ihren Romanen und lässt dabei ihre eigene Biografie als Kind einer Einwanderin mit einfließen. Sowohl ihr Debüt „Stalins Kühe“ sowie auch „Als die Tauben verschwanden“ konnten mich bereits begeistern. „Hundepark“ ist jedoch deutlich ausgereifter und ein Text von psychologischer Tiefe, der nachhallt.

Die Handlung hat mehrere Erzählstränge. Zum einen erleben wir Olenka in der finnischen Gegenwart, wo sie sich mit Darias plötzlichem Auftauchen auseinandersetzen muss und offenbar große Angst vor dieser bzw. dem, was sie mit sich bringt, hat. Das Warum erklärt sich durch die Rückblenden, die an mehreren Zeitpunkten in der ukrainischen Vergangenheit ansetzen. Als Model wollte sie einst in Paris große Karriere machen und der Armut entfliehen, doch sie war zu störrisch, um die Tipps anzunehmen, und so fand sie sich bald wieder in der Einöde des Donbass. Ihr Vater war schon viele Jahre zuvor in einer illegalen Mine verunglückt – zumindest ist das die offizielle Version der Familie. Aber es gibt viele Versionen ihres Lebens.

Es entfaltet sich eine Geschichte, von der man weiß, dass sie in der Realität so geschehen kann und vor der man doch lieber die Augen verschließen möchte. Menschenhandel, Organhandel oder wie auch hier, junge Frauen zu Leihmüttern für jene machen, in der Regel aus dem Westen, die es sich leisten können. Nicht nur die finanzielle Not, sondern auch politischen Verstrickungen sind es, die dem Roman auch Spannung verleihen und die komplexe Realität nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den Ländern zwischen Ost und West greifbar machen.

Die Dichotomie von Täter und Opfer ist schwierig hier, denn man kann den Wunsch nach einem besseren Leben, nach einem kleinen Stückchen vom Kuchen des Glücks, gut nachvollziehen. Und es ist ebenso offenkundig, dass man entweder mitspielt und selbst zum Täter wird oder eben auf der Seite der Ausgebeuteten landet. Moral und Ethik haben es schwer in einem solchen Umfeld.

Ein erzählerisch starker Roman, der langsam in einem hineinkriecht und nicht mehr loslässt.

Camille Kouchner – La familia grande [dt. Die große Familie]

Camille Kouchner – La familia grande

Manchmal reicht ja der Autorenname, dass man neugierig auf ein Buch wird. Camille Kouchner, klar, Tochter berühmter Eltern, die über ihre Familie schreibt. Ein wenig Sensationslust und schon öffnet man ein Buch, ohne zu ahnen, dass man die Büchse der Pandora in Händen hält. Daher eine Warnung vorweg – der deutsche Klappentext beinhaltet dies, im französische nicht einmal eine winzige Andeutung – das Buch ist die Schilderung dessen, was ein verheimlichter Missbrauchsfall in der Familie anrichtet.

Camille Kouchner ist die Tochter von Bernard Kouchner, Gründer der Médecins sans Frontières und ehemaliger Außenminister, und Évelyne Pisier, ehemalige Geliebte von Fidel Castro, erste Professorin für Öffentliches Recht an der Sorbonne und hohe Beamtin im Kulturministerium. Ihre Tante, Marie-France Pisier war eine bekannte und vielfach ausgezeichnete Schauspielerin und immer präsent in ihrem Leben, da die beiden Schwestern unzertrennbar waren. Nach der Trennung der Eltern heiratet ihre Mutter Olivier Duhamel, ebenfalls angesehener Jura-Professor aus einer bekannten Intellektuellenfamilie.

Die Autorin wächst mit ihrem Zwillingsbruder Victor und dem 4 Jahre ältere Colin unbeschwert auf, der Vater war zwar überwiegend abwesend und die Mutter und Großmutter hatten sehr eigene Ansichten von Freiheit und Erziehung, doch ihre Erinnerungen sind positiv. Auch als Duhanel zu der Familie stößt, erweitert dies nur den illustren Kreis und vor allem im Sommerhaus in Südfrankreich kommen unzählige Freunde der Eltern zusammen und die Sommermonate werden von der „großen Familie“ mit viel Alkohol exzessiv ausgelebt, Kinder sind dabei immer ein natürlicher Teil des Geschehens.

Was dort auch geschah, beichtet Victor seiner Schwester erst Jahre später als sie beide 14 sind. Diese ist entsetzt, hat den Stiefvater immer vergöttert. Victor bittet sie zu schweigen, denn sie wissen, dass ihre Mutter damit nicht umgehen könnte. Nach dem Selbstmord ihrer Eltern war sie in ein tiefes Loch gefallen, aus dem sie sich nur schwer befreien konnte. Der Vater ist ebenso wenig als Ansprechpartner geeignet und so tragen die beiden ein Geheimnis mit sich, das sie zerstört.

Psychisch und physisch hinterlässt der Missbrauch Spuren bei beiden, erst als sie selbst Eltern werden, drängt Camille darauf zu handeln, um ihre eigenen Kinder zu schützen. Es geschieht das, was Victor immer befürchtet hat: die Tat wird nicht bestritten, aber die Schuld wird den Kindern zugeschoben. Camille, weil sie geschwiegen hat, beiden, weil sie jetzt alles zerstören und so eine Ungeheuerlichkeit ausbreiten. Die große Familie wendet sich ab, nicht aber, um den Täter zu ächten, sondern weil Camille und Victor nicht geschwiegen haben. Nur ihre Tante hält zu ihnen, nimmt den Bruch mit ihrer geliebten Schwester in Kauf, kann mit der Situation in der Familie jedoch auch nicht leben.

Seit einiger Zeit gibt es auffällig viele Berichte von französischen Frauen um die 40, die ihre Kindheitserlebnisse schildern. Gemeinsam haben sie, dass sie im Umfeld von gefeierten Persönlichkeiten aufgewachsen und oftmals durch die Hölle gegangen sind. Vanessa Springora, die ähnlich wie Victor Kouchner missbraucht wurde und man ihr jedoch einredete, dass das alles so richtig sei. Sarah Biasini, die als Tochter von Romy Schneider nach deren Tod zwar familiär behütet aufwuchs, aber von klein auf von der Presse verfolgt wurde. Das jahrelange Schweigen gehörte offenbar in den 70er bis 90er Jahren dazu, wurde von früh auf gelernt, ebenso wie das „stell dich nicht so an“ und eine Umkehr der Schuld. Jedes einzelne Buch erschreckend zu lesen und doch wichtig, für die Autorinnen, die sich damit befreien können, aber auch um eine andere Zukunft für ihre Kinder zu gestalten.

Édouard Louis – Die Freiheit einer Frau

Édouard Louis – Die Freiheit einer Frau

Der junge französische Autor Édouard Louis setzt die Erzählung seiner Familie fort. Nachdem er in „En finir avec Eddy Belleguele“ (dt. „Das Ende von Eddy“) seine eigene Geschichte erzählte, in „Histoire de la violence“ (dt. „Im Herzen der Gewalt“) eine nahezu unerträgliche Gewalteskapade ausführte, näherte er sich in „Wer hat meinen Vater umgebracht“ seinem Vater. Jetzt ist seine Mutter, die auch das Cover ziert, in „Die Freiheit einer Frau“ im Fokus. Genau jenes Bild, das er zufällig entdeckte, war auch der Auslöser für das Buch, das einmal mehr in seiner ganz eigenen literarischen Form zwischen Erzählung, Memoiren und Biografie verfasst wurde.

„Sie war gedemütigt, aber sie hatte keine andere Wahl, oder sie dachte, sie hätte keine, die Grenze dazwischen ist schwer zu bestimmen, (…)“

Moniques Leben gerät früh schon auf die schiefe Bahn. Während der Ausbildung wird sie als Teenager schwanger, bekommt bald schon das zweite Kind. Sie verlässt den Vater der Kinder für einen anderen Mann, der jedoch ebenso gewalttätig und unterdrückend ist. Mit ihm folgen weitere Kinder, darunter auch Édouard. Ihr bleibt das Leben als Hausfrau und Mutter auf dem nordfranzösischen Dorf. Dass sie einmal eine lebenslustige Frau mit Träumen war, davon ist nichts mehr zu spüren. Stoisch erträgt sie das Schicksal, das ihr scheinbar zugewiesen wurde. Sie braucht Jahrzehnte, um sich zu erinnern, dass sie schon einmal geflüchtet ist und dass sie sie diese Möglichkeit wieder hätte.

„Sie war sich ganz sicher, dass sie ein anderes Leben verdiente, dass es dieses Leben irgendwo gab, abstrakt gesehen, in einer virtuellen Welt, so gut wie in Reichweite, und dass ihr Leben in der wirklichen Welt eigentlich wegen eines Versehens so aussah wie es war.“

Was die Erzählungen Édouard Louis‘ auszeichnet, ist die gnadenlose Beschreibung einer unschönen Realität. Er kommt aus einem prekären Milieu, das von Gewalt und Hoffnungslosigkeit geprägt ist und eröffnet mit seinen Büchern einen Blick in diese Welt, vor der man lieber die Augen verschließen möchte. Ihm selbst ist nicht nur der soziale Aufstieg geglückt, er kann mit dem Abstand von Zeit und Raum auch das reflektieren, was er als Kind und Jugendlicher erlebt und gesehen hat und schreibt dies nieder.

Auch wenn die schon bekannte endlose Spirale, die sich von Generation zu Generation wiederholt –  geboren in Gewalt und Armut, den Ausweg nicht finden, den Weg der Eltern reproduzieren, selbst gewalttätig werden und mit prekären Jobs gerade so überleben – auch hier geschildert wird, erlaubt der Blick auf die Mutter doch auch einen Funken von Hoffnung. Und Versöhnung, denn der Sohn ist älter und reifer, erkennt seine eigenen Fehler gegenüber der Mutter, seine Fehleinschätzungen, die blinden Flecken, die er in jungen Jahren nicht sehen oder richtig deuten konnte. Somit wird der Bericht auf eine Reflektion über das eigene Denken und das Eingeständnis von selbst ausgeübter Gewalt, die in seinem Fall eher psychologisch denn physisch war.

Eine Hommage an eine letztlich starke Frau, keine schöne Lebensgeschichte, aber eine aus dem echten Leben, das nun einmal nicht immer rosarot ist.

Ethan Hawke – Hell strahlt die Dunkelheit

Ethan Hawke – Hell strahlt die Dunkelheit

Der bekannte Filmschauspieler William Harding erhält eine Rolle am Broadway in Shakespeares „Heinrich IV“. Doch es ist nicht diese, die ihn in die Schlagzeilen bringt, sondern die Tatsache, dass er seiner Frau fremdgegangen ist, was natürlich nicht verborgen blieb, und die ebenso berühmte Sängerin nun die Trennung öffentlich in den Klatschblättern ausschlachtet und die ganze Welt auf ihrer Seite hat. Emotional im Ausnahmezustand soll William nun eine herausfordernde Rolle spielen und das neben ausgebildeten Bühnenschauspielern, die zwar weitaus weniger bekannt, aber deutlich besser sind als er. Von Selbstzweifeln geplagt versucht er, die Rolle auszufüllen und zugleich auch fern der Bühne die Rolle des Vaters für seine beiden kleinen Kinder erfolgreich auszufüllen. Eine emotionale Tour de Force, die ihm alles abverlangt und ihn weit über seine Grenzen gehen lässt.

Ethan Hawke ist seit den 90ern ein vielbeschäftigter und mit verschiedensten Preisen ausgezeichneter Schauspieler. In den vergangenen Jahren hat er sich auch als Autor einen Namen gemacht. Seine Hauptfigur in „Hell strahlt die Dunkelheit“ weist unzählige Parallelen zu seinem Leben auf: zunächst die Erfolge im Film, später auch Engagements auf der Bühne, die Ehe mit einer ebenso erfolgreichen Künstlerin und die öffentliche Schlammschlacht der Trennung. Am interessantesten sind jedoch nicht diese Äußerlichkeiten, sondern das Innenleben der Figur, eine Seite, die man normalerweise nicht zu sehen bekommt und die hinter der strahlenden Fassade verborgen bleibt. Es liegt daher nahe, dass der Roman auch sehr viele persönliche Eindrücke des Schauspielers offenbart und seine verletzliche Seite zeigt.

Es sind zwei zentrale Punkte, die die Selbstzweifel Williams nähren. Zum einen die gescheiterte Ehe, dabei hatten sie sich doch einmal stürmisch geliebt. Auch die Ehe seiner Eltern war schon gescheitert und die Beziehung zu seinem Vater danach schlecht bis nicht existent. Er selbst will ein besserer Vater sein, bemüht sich um die Kinder, um sie nicht unter der Situation leiden zu lassen. Eine selbst gestellte Aufgabe, die er nicht immer erfolgreich ausfüllt. Er macht keinen Hehl daraus, dass er selbst dazu beigetragen hat, dass seine Familie vor einem Trümmerhaufen steht, aber kann er doch noch irgendetwas retten?

Noch mehr beschäftigt ihn jedoch sein Talent und seine Rolle. Er trägt eine unbändige Wut in sich, genährt von seinem eigenen Unvermögen und Verärgerung über sich selbst. Zwar kann er dies in die Figur kanalisieren und diese mit unglaublichem Leben füllen, das tägliche extreme Ausleben der Emotionen jedoch zehrt an ihm und laugt ihn aus, schadet seiner Stimme und lässt ihn wichtige Warnsignale seines Körpers übersehen. Wie ein Besessener steigert er sich in seine Rolle als Hotspur und lebt sie förmlich aus.

Interessant ist vor allem das, was sich hinter der Bühne abspielt, die Routinen und Gepflogenheiten am Theater, aber auch der harte Konkurrenzkampf und vor allem die Selbstzweifel, denen die Figuren ganz unterschiedlich begegnen. Das Transferieren eines Jahrhunderte alten Textes in eine lebendige Aufführung, die das Publikum mitreißt – eine Kunst für sich, in die Hawke hier spannende und erhellende Einblicke gewährt.

Ja, William lamentiert und jammert ganz schön viel und bemitleidet sich selbst. Aber der Roman wird dadurch lebendig, die Figur greifbar und authentisch und vor allem zeigen sie eine Seite, die man selten sieht. Für eine Erzählung, die sofort gefesselt hat und nicht mehr losließ.

Lydia Sandgren – Gesammelte Werke

Lydia Sandgren – Gesammelte Werke

Der Göteborger Verleger Martin Berg ist immer auf der Suche nach interessanten und außergewöhnlichen Büchern. Als ihm ein Bestseller aus Deutschland angeboten wird, bittet er mangels Sprachkenntnissen seine Tochter Rakel, diesen zu lesen und eine Einschätzung abzugeben. Das Buch ist wie die Büchse der Pandora, Martin ahnt nicht, was er Rakel in die Hände gedrückt hat. Dafür hat er aktuell auch nur wenig Gedanken, sein Wallace Projekt kommt nicht voran, er sorgt sich um seinen Freund, den Maler Gustav Becker, den er seit einiger Zeit nicht mehr erreichen kann und auch sein Sohn, gerade volljährig und die Pariser Bohème entdeckend, die ihn selbst einst faszinierten und zum Studium in die französische Hauptstadt führten, bereitet ihm Sorgenfalten. Zwischen Erinnerung und dem Jetzt klafft jedoch noch eine große Wunde: Cecilia, seine Frau und Mutter der Kinder ist seit Jahren spurlos verschwunden und scheinbar lebt nur noch in seinen Erinnerungen weiter.

Lydia Sandgrens Debüt ist nicht nur aufgrund der immensen Seitenzahl – mehr als 900 – ein gewaltiges Werk. Die schwedische Psychologin hat mit „Gesammelte Werke“ sogleich den renommiertesten schwedischen Literaturpreis, den Augustpriset, gewonnen und wird sicherlich auch hierzulande die Kritiker begeistern. Es ist eines dieser Bücher, in das man auf der ersten Seite versinkt und nicht mehr auftauchen möchte, bis man den Schlusspunkt erreicht hat. Einer dieser ganz großen, außergewöhnlichen Romane, auf die man nur alle paar Jahre mal trifft und die man nicht mehr vergisst. Ihre Geschichte um die verschwundene Ehefrau ist auch eine Hommage an das Lesen, an die Literatur und die Begeisterung, die diese im Leser auslösen kann.

Zentrale Figur ist Martin, der nicht aus einer Akademikerfamilie stammt und dennoch schon in der Schulzeit von der Literatur ebenso wie von der Philosophie begeistert wird. Sein bester Freund Gustav lässt schon früh sein malerisches Talent erkennen, das ihn zu einem der größten zeitgenössischen Künstler werden lässt. Erst die Schulzeit, dann das Studium, mit einem Intermezzo in Paris – Martin und Gustav sind vom ersten Tag an unzertrennbar, auch Martins Beziehung zu Cecilia führt nicht zum Bruch, im Gegenteil, sie bildet so etwas wie das fehlende Puzzleteil, das die beiden ergänzt und komplettiert. Geistig ist sie Sparringspartner für Martin, brillant in ihrem Fachgebiet und große akademische Hoffnung, für Gustav wird sie zur Muse und Hauptmotiv. Doch dann ist sie eines Morgens spurlos verschwunden.

Die Kinder eifern ihnen nach ohne es zu wollen, leicht erkennt man die Parallelen zwischen dem jungen Martin und seinem Sohn. Auch Rakel ähnelt der Mutter zunehmend und schlägt eine ähnliche Laufbahn ein. Doch dann liest sie den beiläufig erhaltenen Roman, der plötzlich Fragen aufwirft, die sie nie gestellt hat, die jedoch bestimmend werden für ihr weiteres Leben.

Man gleitet durch die Seiten, merkt kaum, wie die Zeit vergeht, wächst mit Martin auf, verfolgt die literarischen und philosophischen Diskurse und vergisst den banalen Alltag um einen herum. Die Frage nach Cecilias Verbleib schafft zudem ein Spannungsmoment, lenkt jedoch nicht von den innerfamiliären und freundschaftlichen Dynamiken ab, die die Handlung im Wesentlichen bestimmen.

Ohne Frage eines der absoluten Highlights dieses Jahres und in einer Liga mit nur ganz ganz wenigen Büchern. Es wird interessant werden, ob es der Autorin gelingt, noch einmal einen solch herausragenden Roman zu verfassen.

Caroline Albertine Minor – Der Panzer des Hummers

Caroline Albertine Minor – Der Panzer des Hummers

Drei Geschwister, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Ea ist schon vor Jahren aus der dänischen Heimat geflohen, erst nach Italien, aber nach dem Tod der Eltern war das auch noch zu nah, inzwischen lebt sie in San Francisco. Sidsel und Laura schlagen sich gemeinsam durchs Leben, die Restauratorin hat ihrer Tochter jedoch nie verraten, wer ihr Vater ist, ebenso wie jener nichts von dem Mädchen weiß. Der Jüngste, Niels, ist gerade erst von langer Wanderschaft zurück nach Kopenhagen gekehrt. Ihn hat weniger Heimweh als viel mehr die Depression seines besten Freundes hierzu bewogen, als Plakatierer überbrückt er die Zeit, bis es ihn wieder in die Ferne zieht. Über den Kindern schweben jedoch immer noch die Eltern, die in jeder Hinsicht freie Mutter ebenso wie der immer absente Vater. Auch als Erwachsene können sie sich nicht wirklich von den Prägungen ihrer Kindheit lösen.

Die dänische Autorin Caroline Albertine Minor wurde bereits mit zahlreichen Preisen für ihre Kurzgeschichten ausgezeichnet. Ihr Familienroman „Der Panzer des Hummers“ erzählt nur fünf Tage aus dem Leben der drei Gabel Geschwister, nicht einmal eine Woche, die Einblick in verlorene Verbindungen, unerfüllte Erwartungen und das Leben als Ganzes geben. Die äußere Hülle, die Familienbande, hält die drei Geschwister zusammen, doch ebenso wie beim Hummer ist ein Loslösen von diesem Panzer erforderlich, um zu wachsen und neue Bindungen einzugehen.

Jede der Figuren hat ihre eigene Geschichte zu erzählen und einen eigenen Blick auf das Leben. Ea, die mit ihrem Partner Hector und dessen Tochter Coco glücklich ist, jedoch keine eigenen Kinder möchte. Sidsel, die sich von der Begegnung mit Lauras Vater etwas anderes erwartet hatte und letztlich nur wenige Tage Urlaub von ihrem Leben nimmt. Niels, der seinem Freund ebenso wie seiner Tante helfen will und doch nicht weiß, wie er das genau tun soll, wo er sich selbst ja noch gar nicht gefunden hat. Weitere Figuren kommen hinzu, auch die verstorbenen Eltern melden sich aus dem Jenseits.

So interessant die unterschiedlichen Charaktere mit ihren Lebensansichten sind, so schwer wird es jedoch auch, daraus eine stimmige Geschichte zu machen. Für mich blieben sie weitgehend lose nebeneinanderstehen, die kurzen Momente der Interaktion zwischen ihnen sind zu knapp, um wirklich tragfähige Bande zu schaffen, die über jene der familiären Zwangsverbindungen hinausgehen. Auch wenn sich entscheidende Momente in der geschilderten Zeitspanne abspielen, nehmen sie keine Entwicklung, sind am Ende genauso ratlos wie zu Beginn.

Trotz den ansprechenden Schreibstils und beachtenswerter Familienkonstellation konnte mich der Roman nicht wirklich erreichen. Es waren leider nur lose Fäden, die sich nicht miteinander verwebten und mich etwas ratlos zurückließen.

Svealena Kutschke – Gewittertiere

Sveanlena Kutschke – Gewittertiere

Cornelia, genannt Colin, und ihr Bruder Hannes waren ihr Leben lang Außenseiter. In der Schule sind sie gemobbt worden und waren regelmäßig den Gewaltexzessen ihrer Mitschüler ausgesetzt. Nur die Tatsache, dass sie sich gegenseitig hatten, hat ihnen Halt gegeben. Ihren Eltern konnten die davon nichts erzählen. Beide verwiesen immer nur auf ihre eigene schwere Kindheit; der Vater, dessen Familie nach dem Krieg nichts für ihn hatte außer Geschimpfe und die Mutter, die bei einer nicht-sorgenden Alkoholikerin aufgewachsen ist, die sie bis ins Erwachsenenalter hinein schikaniert und ihr ein schlechtes Gewissen macht. Anfang der 90er Jahre versinkt der Vater dann vollends in einer Parallelwelt, in der er sich bedroht fühlt, von den Flüchtlingen, der Regierung, die sich nicht kümmert, und den Druck spürt, für seine Familie Verantwortung zu übernehmen. Also beginnt er, im Garten einen Schutzbunker zu bauen.

Svealena Kutschkes Roman „Gewittertiere“ lässt sich inhaltlich nicht auf einen einzigen Punkt reduzieren, viele verschiedene Themen greift sie auf, während die beiden Protagonisten beim Erwachsenwerden und –sein begleitet werden: Mobbing und Ausgrenzung; dysfunktionale Familien, in denen Eltern ihre eigenen negativen Erfahrungen ungefiltert an die Kinder weitergeben; das Leben als lesbische Frau oder mit Migrationshintergrund in einer zunehmend homophoben Welt; große Träume, die an der Realität scheitern und schlichtweg die Suche nach dem Platz in der Welt. Colin und Hannes sind keine außergewöhnlichen Menschen, die sind eigentlich authentische Durchschnittskinder und –jugendliche in einer Gesellschaft, die jedoch schon minimales Abweichen von der Norm als Bedrohung empfindet und bekämpft.

Die Eltern taugen als Vorbilder nicht. Zwar bewundert Colin ihre Mutter Nora für deren Attraktivität und die Tatsache, dass diese stets hübsch zurechtgemacht ist, sie sieht aber auch, dass es den Alkohol, zunehmend mehr, benötigt, damit diese den Alltag erträgt. Weder ihrer Mutter hat sie sich widersetzt, noch tut sie das bei ihrem Ehemann. Nora fügt sich und leidet leise in einem Leben, dass sie sich nicht gewünscht hat. Der Vater steigert sich völlig in seine Prepper-Phantasie, der Bau des Bunkers gibt ihm jedoch Beschäftigung und ein Ziel, auch wenn er immer wieder zurückgeworfen wird.

Hannes und Colin haben nie wirkliche Freunde, zu hässlich die selbstgestrickten und ältlichen Klamotten, die unförmigen Haarschnitte und Körper. Über ihr Leid schweigen sie, den Schmerz ertragen sie schweigend und nehmen die Demütigungen mit ins Erwachsenenalter. Colin ist eigentlich eine gute Schülerin und schafft erfolgreich das Studium, fühlt sich jedoch als Verkäuferin in ihrem Späti wohler als vor einer Klasse als Lehrerin. Weder im Beruf findet sie den Platz, der angemessen wäre, noch ist sie in Beziehungen fähig, sie selbst zu sein. Es bleibt immer die Angst, nicht zu genügen, etwas falsch zu machen. Hannes muss den Traum vom Zugführer früh begraben und wird schließlich Gerichtsvollzieher. Endlich hat er ein bisschen Macht, kann andere demütigen und das heimzahlen, was er selbst erleiden musste. In seiner schäbigen Hinterhauswohnung ohne Partnerin und Freunde, findet er jedoch auch kein Glück.

Es ist die Geschichte einer Familie, die es eigentlich gut hätte haben können. Keiner von ihnen hat den Krieg erlebt, mit dem Mauerfall war auch die diffuse Bedrohung des Kalten Krieges beendet und so führen sie ihren innerfamiliären Krieg, einen psychologischen, der jedoch vielleicht noch viel schlimmere Wunden hinterlässt. Nach außen wird der Schein gewahrt, es erfolgt die Abgrenzung als Schutz vor der Bedrohung, dabei liegt die größte Gefahr hinter den eigenen Mauern. Eine schonungslose Geschichte aus Deutschland, die sich so überall zutragen konnte, aber immer im Schutz des vermeintlich trauten Heims, das so gar keine Geborgenheit lieferte.

Katrine Engberg – Das Nest

Katrine Engberg – Das Nest

Ein Teenager, der am Wochenende nicht nach Hause kommt. Grund zur Beunruhigung oder völlig normales Verhalten? Oscars Eltern sind besorgt, zwei Jahre zuvor waren die Inhaber eines erfolgreichen Auktionshauses schon einmal bedroht worden und ein mysteriöser Brief lässt sich nur schwer deuten. Jeppe Kørner und Anette Werner begeben sich auf die Suche, unsicher, was sie von den Eltern mit seltsamen Erziehungsansichten halten sollen. Als in einer Müllverbrennungsanlage eine Leiche auftaucht, befürchten sie Schlimmstes, doch der Fall ist viel komplexer als sie anfangs vermuten.

Bereits zum vierten Mal lässt Katrine Engberg ihr Ermittlerduo in Kopenhagen auf Verbrecherjagd gehen. Neben dem undurchschaubaren Fall geraten beide auch in emotionale Verwirrungen und stellen ihre Beziehungen in Frage. Mit jedem Band gewinnen Jeppe und Anette an Facetten hinzu ohne dabei in bekannte und schon abgedroschene Schemata zu passen. Menschliche Schwächen lassen sie authentisch wirken ohne dabei auf Kosten der Spannung zu gehen.

Der Fall wird ist clever konstruiert und schon zu Beginn schickt sie die Leser geschickt auf eine falsche Fährte, die sich zwar rasch auflöst, aber nur um durch weitere Fragezeichen ersetzt zu werden. Es ist nicht das eine Motiv, die eine Tat, die die Geschichte antreibt, es sind niedere menschliche Instinkte, Ursünden, denen gleich mehrere Figuren verfallen und denen sie sich ergeben, ohne auch nur den geringsten Gedanken daran zu verschwenden, wer die Opfer ihrer Taten sein werden.

Es braucht keine detaillierten Beschreibungen von brutaler Gewalt, um das alltägliche Grauen, das sich hinter hübschen Fassaden versteckt, zu visualisieren. Katrine Engberg nutzt das alltägliche Grauen, das so naheliegt und von dem man sich kaum distanzieren kann, um die Spannung zu erzeugen und den Leser zu erschüttern. Dies gelingt ihr auch in diesem Band fraglos hervorragend.

Daniela Krien – Der Brand

Daniela Krien – Der Brand

Viele Jahrzehnte schon gehen Rahel und Peter gemeinsame Wege, doch nachdem die Kinder erwachsen und ausgezogen sind, haben sie immer weniger gemeinsam. Rahel hofft, im Urlaub wieder zueinander zu finden. Drei Wochen werden sie auf dem Bauernhof eines befreundeten Paares verbringen und sich dort um alles kümmern, während diese in einer Reha sind. Sie schätzen und respektieren sich, aber die Liebe, die einmal da war, scheint sich verflüchtigt zu haben, in getrennten Betten liegen sie wach, sinnieren über sich, ihr Leben, ihren jeweiligen Beruf und natürlich auch darüber, was die Pandemie so verändert. Mal scheinen sie sich anzunähern, dann jedoch driften sie so weit auseinander, dass das Hand Reichen unmöglich erscheint.

Daniela Krien greift in ihrem Roman ein schwieriges Thema auf: wie geht man nach mehreren Jahrzehnten gemeinsamem Leben mit möglichen Rissen in der Beziehung um? Kann man jenseits der Mitte des Lebens nochmal neu beginnen, allein oder zu zweit, was ist wirklich wichtig, wenn plötzlich gleich von mehreren Seiten Bedrohungen aufziehen? Rahel wie auch Peter sind reflektierte Akademiker, die sich nicht von ihren Emotionen leiten lassen, im Gegenteil, diese scheinen oftmals gar nicht zugänglich, doch nicht auf alle Fragen des Lebens gibt es rationale Antworten.

Als Leser ist man bei Rahel, die als Psychoanalytikerin täglich ihren Klientel hilft klar zu sehen, Konflikte zu erkennen und zu lösen, in ihrer eigenen Beziehung, aber auch jener zu ihrer Tochter, ebenso hilflos dasteht, wie diejenigen, die bei ihr Hilfe suchen. Sie liebt Peter immer noch, ist sicher aber unsicher, ob er das genauso empfindet. Ihr Körper sendet Signale aus, doch sie kann sie nicht lesen und so auch kaum Antworten darauf finden, wo sie selbst steht.

Der Alltag auf dem Bauernhof ist konkret, die Pflanzen müssen gegossen, die Tiere versorgt werden, so ganz anders als ihr theoretisches Dasein Zuhause. Aber der idyllische, einfache Hintergrund liefert auch Ablenkung und Flucht, so dass sie kaum dazu kommen das anzusprechen, was besprochen werden muss. Es ist ein zögerlicher Tanz, keiner von beiden will verletzen oder Grenzen übertreten, doch genau das Unausgesprochene verursache gleichermaßen Schmerz.

Die Autorin fängt die widersprüchlichen Empfindungen, die feinen Wahrnehmungen und Verletzlichkeiten der Figuren überzeugend ein. Gerade die Unfähigkeit die großen Gefühle anzusprechen setzt sie so überzeugend um. Rahel wie auch Peter wirken authentisch, ebenso ihre Konflikte. Eine detailgenaue Studie menschlicher Empfindungen an einem möglichen Wendepunkt im Leben.