Atia Abawi – A Land of Permanent Goodbyes

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Atia Abawi – A Land of Permanent Goodbyes

The family is at home, even if it is war outside, they still have themselves; Tareq, his younger brother Salim, the girls Farrah and Susan and the baby twins. He respected his mother Nour and his father Fayed and of course also his grand-mother. When a bomb hits their house, only Tareq and Susan can be saved, luckily their father was at work and is also alive. They decide it is time to leave the country, after such a loss, what is it that keeps them still there? But first, they need to go to Raqqa where Fayed’s brother lives who can lend them money. Yet, Raqqa is deep in the Daesh controlled area and going there is highly risky. But this is only the beginning of a journey which hopefully ends somewhere in Europe in peace and safety.

Atia Abawi, an American journalist who spent many years in the middle east as a correspondent and is a daughter of Afghan refugees, has chosen the number one topic in the news of the last two years for her second novel. It is her background, both personal and professional, which can be found throughout the novel; you feel in every line that she knows what she is writing about and that neither the emotions she puts in her characters nor the experiences they make are just invented, but exactly what people undergo. At times, the style of the novel has some traces of journalistic work, leaves the pure fiction, but this does not reduce the quality of the novel at all.

First of all, what I really appreciated was the fact that she does not victimize her characters. Already at the beginning of the novel, they are hit by a major loss, but they keep on fighting and do not rely on others. The risk a lot, see evil deeds committed by Daesh fighters, but still remain human themselves. The part I found especially interesting was Tareq’s time in Turkey. It is not only the large number of Syrians being stranded there and setting up a kind of community parallel to the Turkish, but first and foremost the way they are exploited, how people are trying to make profit from their fate which is annoying. Yet, I guess this is just reality.

It is just the story of one family, however, it represents what many people all over the world go through. None of them wanted to leave their country, none of them wants to live in another country of which they neither know the language nor the culture, many of them believe that those who have died are blessed because they do not have to undergo this. Considering all the negative news about refugees, we should not forget their perspective. Atia Abawi has given them a beautiful and engrossing voice.

Daniel Magariel – Einer von uns

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Daniel Magariel – Einer von uns

Endlich haben sie den Krieg gewonnen. Der „Krieg“ ist die Scheidungsschlacht zwischen den Eltern und nun sind die beiden Söhne und der Vater auf dem Weg nach Süden, Hauptsache weg aus Kansas und weg von der Mutter. Sie gehen auf eine neue Schule, der Große spielt vielversprechend Basketball, das Leben könnte endlich wieder in ruhige Bahnen kommen. Doch der Vater ist launenhaft. Immer wieder schließt er sich in seinem Zimmer ein. Es dauert, bis die Jungs kapieren, was dort vor sich geht; wie sehr ihr Vater immer tiefer im Drogensumpf versinkt. Und wenn er rauskommt, ist er unberechenbar. Zwischen liebevoll zugewandt und zerstörerisch brutal. Sollen sie die Mutter um Hilfe bitten? Die Frau, die sie mit gefälschten Fotos beim Jugendamt betrogen haben? Was wird der Vater tun, wenn er davon erfährt? Inzwischen ist sein Verhalten geradezu bizarr und paranoid geworden und er scheint zu allem bereit.

Daniel Magariels Debütroman „Einer von uns“ geht unter die Haut und blickt hinter die Türen, die sich neben unseren befinden und die meistens verschlossen bleiben und keinen Einblick bieten. Er zeigt das, was eigentlich niemand sehen und wissen will, was aber doch tagtäglich sowohl in den USA, wo der Roman spielt, aber auch hier bei uns passiert. Innerfamiliäre Gewalt, physisch wie psychisch, ist ein bekanntes Phänomen, schwer zu fassen, da die Eltern und Kinder ihr Verhalten gegenüber der Außenwelt perfektionieren und nach ihren eigenen Regeln leben.

Mit subtilem Druckmacht der Vater die Jungs gefügig:

«Du kannst auch hier in Kansas bleiben», sagte mein Vater und wandte sich ab, schon halb auf dem Weg zur Tür. «Dann fahren dein Bruder und ich eben ohne dich. »

Wenn du nicht für mich oder uns bist, musst du gegen uns sein. Welche Wahl hat ein 12-Jähriger hier schon? Alternativ Verbrüderungstaktiken:

«Aber dass sie euch so eine schreckliche Mutter war, das verfolgt mich jetzt schon seit Jahren. Erinnert ihr euch nicht an die Zeit, als ihr noch klein wart? Ehe der Krieg anfing? » Krieg war sein Wort für Scheidung. «Ihr habt das Kind in mir geweckt. Wir haben immer zusammen gespielt. Wir drei, wisst ihr noch? » Ja, dachte ich.

Man ist eine Gemeinschaft und muss sich gegen den Feind wappnen. Bisweilen wird die Logik ins Absurde verkehrt; der Vater bringt den Söhnen Schuldgefühle für Dinge bei, an denen sie keine Schuld haben. Aber sie fühlen sich schuldig, obwohl sie brutal verprügelt wurden und üble Verletzungen davongetragen haben:

Als ich heranschlurfte, hätte ich am liebsten mein Gesicht verborgen, mich für mein Aussehen entschuldigt. Ich hatte Angst, ihn daran zu erinnern, was er mir angetan hatte. (…)

«Das von gestern ist vergeben und vergessen, klar? »

«Ja. »

«Ich vergebe dir doch immer, stimmt’s? »

Der Erzähler durchschaut zwar zunehmend das Verhalten der Eltern, wie sie die Kinder gegeneinander ausspielen, sie als Instrumente für ihre Streitigkeiten missbrauchen und sie immer wieder belügen und betrügen. Aber sie sind nun einmal ihre Kinder. Und als solche lieben sie die Eltern. Egal, was diese tun. Das ist bisweilen unerträglich zu lesen, aber wirkt dadurch authentisch und glaubwürdig.

Kein einfacher Roman, aber eine wichtige Geschichte, die erzählt werden sollte.

Vitu Falconi – Das korsische Begräbnis

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Vitu Falconi – Das korsische Begräbnis

Eine Schreibblockade bringt den Pariser Autor Eric Marchand nach Korsika, wo er in der Natur ausspannen und wieder zu seinem Buch finden will. Aber es gibt noch einen zweiten Grund: in den Hinterlassenschaften seiner verstorbenen Mutter hat er unter anderem ein Tagebuch und ein Amulett gefunden; nie haben seine Eltern über ihre Vergangenheit auf der Insel gesprochen, nie war er als Kind dort, noch weiß er etwas über Verwandte. Wenn er schon einmal dort ist, kann er auch ein paar Nachforschungen anstellen. Ein falscher Schritt beim Wandern macht ihn rasch mit der Heilerin Laurine bekannt – und mit dem Nachfolger eines der brutalsten Mafia-Clans. Marchand nimmt die Dinge nicht so ernst, Blutfehde, Jahrhunderte alte Traditionen – das ist doch längst alles überkommen. Doch er täuscht sich und bald schon ist seine Anwesenheit auf der Insel für viele Bewohner ein Problem – doch warum?

Noch eine Reihe Krimis in der französischen Provinz – mein erster Gedanke. Allein aufgrund der Anzahl der Serien über Ermittler abseits der Metropolen muss man ja den Eindruck gewinnen, dass man in unserem Nachbarland nicht sicher sein kann. Leider leiden auch viele der Krimis an stereotypen Ermittlern, flachen Geschichten und viel zu viel Landschafts-, Essens- und Weinbeschreibungen. Vitu Falconi, Pseudonym des Autors Thomas Thiemeyer, der bisher vorwiegend mit Jugendbüchern bekannt wurde, bildet hier eine lobenswerte Ausnahme. Im Zentrum stehen der Fall und die Figuren, das liebliche Wohlfühl-Frankreich und ausufernde Liebschaften des Protagonisten sucht man vergeblich. Dafür gibt es einen klassischen Mafia-Krimi mit Spannung und rasantem Finish.

Das Setting als solches ist überzeugend, Korsika ist eine Insel mit eigener Sprache und eigenen Gesetzen, ideal für die Handlung um einen alten Clan und Fehden, die nie ein Ende nehmen werden. Für den Außenstehenden nicht durchschaubar und somit tappt der Leser gemeinsam mit Marchand zunächst im Dunkeln. Die Figur des Autors ist ebenfalls recht plausibel gestaltet, sowohl sein Hintergrund wie auch seine Motivation sind stimmig. Dass er nach einem beinahe tödlichen Unfall mit Rippenbruch etc. trotzdem jung und fit durch die Berge klettern kann, sei ihm verziehen. Die Handlung lebt von den Ereignissen in der Vergangenheit, die nach und nach erarbeitet werden müssen, besticht bisweilen mit kuriosen Ritualen und wird glaubwürdig zu Ende geführt. So entsteht ein runder Krimi, der die Erwartungen erfüllt.

Jamie Quarto – Fire Sermon

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Jamie Quarto – Fire Sermon

He was her first partner and is supposed to be her last. Meggie and Thomas have been married for more than 20 years, raised to nice children and, if looked at from the outside, a perfect life. When Meggie discovers the poet James and writes to him because he seems to be the one who can express what she, too, feels, she sets in motion a chain of events. Months of e-mails, James and Maggie get closer and closer on an emotional basis. Then they finally meet and the faithful believer Maggie and -especially her body – reacts in a way she has never believed to be possible. It is a short encounter, and a second, not even a real affair, but a bond has been created which threatens their lives as they have known it.

Fire Sermon – a discourse delivered by Buddha in which he describes that you need to burn to achieve liberation from suffering. Only if you detach yourself from your senses through the burning process can you reach a higher level of existence. The burning can occur through passion, aversion, delusion and suffering. Meggie, Jamie Quarto’s protagonist in whose head we find ourselves as the reader, goes through all four of them.

She feels passion, after so many years married not anymore for her husband, but for the poet with whom she feels connected immediately. Aversion is what she experiences in bed, aversion towards her husband, whom she loves but not in those moments when he is selfish and she either complies with his wishes to find peace or opposes him and risks a fight. Delusion – she is thinking of what her life could be, how it could have been and what she might get if she gives up her family. Last, suffering. She suffers a lot, from remorse and guilt, but also physically and emotionally. At times she goes through hell.

Jamie Quarto does not narrate a love story, but a story about love. Different kinds of love. Love full of passion, love full of emotion, love that goes deep, love that is stronger than anything else. And love that hurts. There are different layers of love, different types which are experienced with different people. And looming around the corner is always the question: does love require faithfulness and singularity? Or can you love different people in different ways at the same time? And how can this be reconciled with the Christian idea of marriage? The author does not provide you with answers, just with the example of one woman and how she finds answers to those questions.

I really liked the novel even though at times I found it hard to endure. But it is so easy to sympathise and identify with Meggie and her worries that you can easily immerge into it.

Alexander Oetker – Retour

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Alexander Oetker – Retour

Da sein Vater schwer krank ist, lässt sich Commissaire Luc Verlain von Paris in seine Heimat in Aquitaine zurückversetzen. Dort hofft er auf eine ruhige Zeit und die Möglichkeit, sich um seinen Vater zu kümmern. Doch kaum ist er angekommen, wird die Leiche eines jungen Mädchens gefunden, erschlagen am Strand. Der Stiefvater ist sich sicher, dass es der junge algerische Freund war, den sie verlassen hatte und der ihr immer noch hinterherlief. Die Indizien, die zunächst gegen Hakim sprechen, erweisen sich jedoch schnell als entlastend und so rückt der unbekannte reiche Liebhaber des Mädchens in den Fokus der Ermittlungen.

Die Liste der Ermittler in der französischen Provinz wird immer länger. Alexander Oetker hat mit Luc Verlain nun einen weiteren Kommissar ins Rennen um die Gunst der deutschen Leser geschickt und setzt dabei auf bewährte Versatzstücke: aus Paris in die Provinz versetzt; dort schwieriger Start mit den Kollegen; den Fall kann der Superermittler quasi im Alleingang lösen, auch acht teilweise bewaffnete Gegner sind für ihn kein Problem und zwischendurch wird viel über Weinberge, Wein und Essen geredet. Natürlich darf die hübsche junge Frau aus der Provinz, die dem gestandenen Ermittler aus der Großstadt den Kopf verdreht, auch nicht fehlen. Viel Neues war hier leider nicht zu entdecken.

Der Fall selbst ist recht vorhersehbar, zwar mit ein zwei vermeintlichen Fährten gespickt, ist es jedoch recht schnell offenkundig, wer hier welches Spiel spielt. Die Figurenzeichnung beschränkt sich weitgehend auf stereotype Schwarz-Weiß-Malerei, so etwa der böse Bulle, der in Korruption verstrickt war als Widersacher des Helden – der sich allerdings recht schnell selbst ins Aus schießt. Anouk, die zwar zunächst als talentierte Polizistin eingeführt wird, dann aber nur noch in Form des assistierenden Häschens auftreten darf und deren Relevanz und Beschreibung sich auf ihren Hintern, Busen und Haare und den Wunsch Verlains, sie endlich ins Bett zu zerren, beschränkt. Für ihr berufliches Geschick bleibt leider bei dem Ego des Protagonisten nicht viel Platz.

Dieser trotzt nur so vor Klischees, an kaum einer Frau kommt er vorbei, ohne ausführlich ihre optischen Qualitäten zu eruieren und bei Gelegenheit mit ihr das Bett zu teilen. Natürlich hat er in Paris auch noch eine Partnerin, die sich aber auf einen Kurzurlaub seinerseits beschränken muss und ansonsten nicht einmal eine SMS verdient hat. Ausnahmslos alle Frauen werfen sich an seinen Hals, er bleibt dabei aber der coole rauchende Surfer, der sich auf nichts Festes einlassen will. Ach ja, da war ja noch sein Vater, wegen dessen Krankheit er die Versetzung erwirkte. Der muss sich mit einem wenige Minuten dauernden Besuch mehrere Tage nach seiner Ankunft zufriedengeben.

Für mich keine Reihe, die ich weiter verfolgen werde, zu platt Handlung wie Figuren und viel zu viel sexistische Flachheit, um daran Gefallen zu finden.

Mirko Zilahy – Nachjäger

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Mirko Zilahy – Nachjäger

Ein bestialischer Serienmörder versetzt Rom in Angst und Schrecken. Heimlich schlägt er zu, aber nicht genug, dass er Menschen ermordet, nein, er nutzt die leblosen Körper, um Skulpturen zu schaffen, er inszeniert ihren Tod regelrecht. Figuren der griechischen Mythologie sind seine Vorlage und sein Geschick ist bemerkenswert. Zu dem Schrecken mischt sich auch Bewunderung für seine Kunst. Die Polizei steht unter Hochdruck und ausgerechnet jetzt schein Enrico Mancini wieder eine Auszeit zu benötigen und sich nicht auf den Fall konzentrieren zu können. Noch immer hat der Kommissar den Tod seiner Frau nicht verwunden und depressive Phasen lähmen ihn und sein Denken. Wie sollen sie in dieser Situation einem solchen Monster gegenübertreten?

„Nachtjäger“ ist der zweite Roman der Reihe um Enrico Mancini, der sich jedoch problemlos auch ohne Kenntnis des ersten lesen lässt. Mancinis Vorgeschichte wird ausreichend beleuchtet, um auch quer in die Reihe einsteigen zu können.

Der Thriller hat einen ansprechend gestalteten Plot, der die nötige Spannung liefert, um den Leser unter permanenter Erwartung zu halten. Das Katz und Maus Spiel zwischen Jäger und Gejagtem wird im Wechsel gezeigt, bisweilen kommen sie sich bedrohlich nah, aber die finale Konfrontation muss noch warten. Ein wenig hat mich vieles des Romans an Dan Browns „Illuminati“ erinnert: Rom als Schauplatz, eine Hetzjagd quer durch die Stadt, die religiösen Bezüge und Anspielungen, die Inszenierung der Toten. Zwar findet Zilahy eine andere Auflösung – und hat hierbei noch eine wirkliche Überraschung in Petto – aber die Parallelen sind doch frappierend.

Insgesamt war die Handlung rund um den Serienmörder glaubwürdig motiviert, überzeugend konstruiert und auch mit dem passenden Tempo inszeniert. Allerdings wurde dies immer wieder durch die Depression den Protagonisten unterbrochen. Der Versuch, dem Kommissar durch sein individuelles Schicksal mehr Persönlichkeit zu verleihen, ist nachvollziehbar –  ging mir phasenweise aber etwas auf den Zeiger. Nein, ich will einen Thriller lesen und kein Gejammer wegen verpasster Chancen und gemachter Fehler. Viele Autoren scheinen diesem Schema regelrecht zu verfallen, der ermittelnde Kommissar darf offenbar heute nicht mehr bei Sinnen sein und mit scharfen Verstand ermitteln, sondern muss aufgrund einer privaten Tragödie kurz vor dem Suizid stehen und nebenbei auch noch gerettet werden.

Fazit: ein lesenswerter Thriller mit bekannten Versatzstücken, aber ohne Frage unterhaltsam.

Daniel Kehlmann – Tyll

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Daniel Kehlmann – Tyll

Tyll Ulenspiegel, als Junge Zeuge der Willkür der Oberen, die seinen Vater öffentlich hingerichtet haben, entschließt sich das dörfliche Leben zu verlassen und zusammen mit der Bäckerstochter Nele zu fliehen. Als Wanderer und Schausteller, später auch Hofnarr kommt er zu Berühmtheit im ganzen Land. Auf seinem Weg während des 30-jährigen Krieges führt er so manchen Gelehrten vor, trifft auf Fürsten und Könige und kann den Menschen immer wieder vorführen, wie schnalle sie sich von Gauklern hinters Licht führen lassen.

Daniel Kehlmann verlegt die Handlung der Sage um Till Eulenspiegel um einige Jahrhunderte und lässt den Schalk nun im 17. Jahrhundert auf seine im intellektuell unterlegenen Mitmenschen treffen. So stellt er nicht nur ihre Unzulänglichkeiten heraus, sondern kritisiert auch die Gesellschaftsstruktur und vor allem die Macht der Herrscher – gewagt in Zeiten eines der am schlimmsten Wütenden Kriege auf deutschem Boden.

Die Handlung folgt Tyll nicht chronologisch, viel mehr bleibt auch Kehlmann bei einer episodenhaften Sammlung von Ereignissen, die letztlich alle dem übergeordneten Zweck dienen, die Relevanz Till Eulenspiegels und seine bis heute gegebene Popularität zu begründen. So ist es denn auch weniger die Geschichte selbst, die mich überzeugen konnte, als die herrlichen Dialoge, die Worte und vor allem der Unsinn, den Kehlmann seinen Figuren in den Mund legt, die einem mehr als einmal zum Schmunzeln bringen. So zum Beispiel die Diskussion um die Hässlichkeit der deutschen Sprache, der man keine Zukunft voraussagt – wie auch, wird die Welt nach eingehender Berechnung ohnehin in wenigen Dekaden zugrunde gehen.

Literatur soll unterhalten und nicht zwingend Abbild der Realität sein, so gesehen ist die historische Ungenauigkeit im Roman durchaus akzeptabel und schmälert nicht das Vergnügen beim Zuhören.

John Darnielle – Rekorder

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John Darnielle _ Rekorder

Der 16-jährige Jeremy arbeitet bei Video Hut, einer kleinen Videothek in dem Örtchen Nevada in Iowa. Es sind die späten 1990er, die Menschen leihen noch Videos aus, die Zeit der DVD und Streamingdienste kommt erst noch. Die Arbeit ist weder besonders anspruchsvoll noch zukunftsträchtig, aber besser als nichts. Die Abende verbringt er mit seinem Vater; seit seine Mutter starb, sind die zwei ein Team, das gut funktioniert und in Ruhe miteinander auskommt. Eines Tages kommt die Lehrerin Stephanie recht verstört, um ein Leihvideo zurückzubringen. Es sei noch etwas auf der Kassette, das da offenkundig nicht hingehöre. Jeremy will zunächst nichts von der Sache wissen, aber als dies zum zweiten Mal geschieht, schaut er sich die Tapes doch an. Der normale Film wird von kurzen Sequenzen unterbrochen, Szenen, in denen man eine Scheune erkennt und eine Frau, die womöglich misshandelt wird. Jeremy und Stephanie beginnen zu forschen.

Die Kurzbeschreibung von John Darnielles Roman klingt nach einem spannenden Thriller, erinnert ein wenig an das Blair Witch Project und verspricht Hochspannung. Bis zum oben geschilderten Moment ist dies auch der Fall. Langsam baut er Autor die Handlung auf, der gottverlassene Ort fernab der Großstädte, ein Jugendlicher mit etwas Neugier und Wagemut und ein mysteriöses Vorkommnis. Spannend geschrieben, passende Zutaten.

Doch dann plötzlich scheint ein völlig anderer Text zu beginnen. Darnielle springt in die Vergangenheit und erzählt die Lebensgeschichte einer Frau, die ausbricht aus dem gutbürgerlichen Leben, das man von ihr erwartet. Sie schließt sich einer Sekte an und tauscht ein ungewisses Schicksal gegen die vorsehbare Kleinstadtfamilie. Man ist irritiert, verwundert und ein wenig verärgert. Dank der Schreibkunst des Autors ist dieser Abschnitt kein Deut schlechter geschrieben, aber wo bitte bleibt die Suche nach den Videosequenzen?

Teil drei führt uns wieder zurück zu Jeremy und Stephanie, deren Suche langsam bedrohlicher wird und einer vielversprechenden Spur folgt. Allerdings nur so lange bis Teil 4 beginnt und wir wieder eine ganz andere Geschichte bekommen, die in keinem Zusammenhang zu den vorherigen zu stehen scheint. Es erklärt sich zwar, aber mir sind die Brüche hier zu extrem, um noch von einem runden Roman sprechen zu können.

Das Handlungsgerüst ist experimentell, um es positiv zu beschreiben. Mich konnte es nicht wirklich überzeugen, ich bin ein Freund von einem roten Faden, der den Leser durch die Geschichte führt. Und ich bevorzuge zudem relativ eindeutige Genrezuordnungen. Dass mitten im Text sowohl Genre wie auch Handlung völlig ausgetauscht werden, hat mich schlichtweg zu sehr irritiert um es mit Begeisterung aufzunehmen. Auch wenn sich am Ende vieles fügt, dies war einfach ein wenig too much. Das ist schade, vor allem vor dem Hintergrund eines wirklich tollen Anfangs, der weiterverfolgt einen herausragenden Thriller ergeben hätte.

Fazit: ein toll geschriebener Roman, der leider durch seinen Aufbau eine Chance vertan hat.

Michela Murgia – Chirú

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Michela Murgia – Chirú

Viele Jahre sind vergangen seit Eleonora zuletzt einen Schüler angenommen hatte. Zu stark war der Schmerz nach dem Selbstmord Nins. Als die Chirú zum ersten Mal begegnet, sieht sie sofort, dass sie den 18-Jährigen Violinisten begleiten, ihn in das Leben der Kunst einführen muss. Unbedarft ist Chirú, aber ein gelehriger Schüler, doch seine Lehrerin unterschätzt ihn. Zunehmend und schmerzhaft muss sie erkennen, dass er nicht nur schnell lernt, sondern vor allem eine scharfe analytische Beobachtungsgabe besitzt, die er in Worte umzusetzen vermag, die nicht nur ins Schwarze treffen, sondern dort auch wie Dolche einstoßen und die Brutalität der Wahrheit geäußert durch seine Jugend umso schlimmer erscheinen lassen.

Michela Murgias Roman liest sich ausnehmend langsam. Voller leiser Töne, einzelner Sätze, die ihre Zeit einfordern aufgrund der Bedeutungsschwere, die ihnen innewohnt. Man kann nicht oberflächlich über sie hinweggehen, zu viel liegt darunter, was sich nach und nach entfalten will.

Ihre beiden Protagonisten sind ein ungewöhnliches Paar. Eleonora, erfolgreiche Theaterschauspielerin und Freigeist, lässt sich weder gedanklich einsperren noch von Konventionen begrenzen und doch lebt sie genau jene wiederum und bringt sie ihren Schützlingen bei. Chirú, der sich unweigerlich in diese attraktive und unnahbare Frau verlieben muss, bewundert sie und saugt ihre Worte regelrecht auf. Doch die Nähe, die zwischen beiden entsteht, wird durch ihre Tournee unterbrochen und ihre über Monate gepflegte Nähe erfährt nun eine plötzliche Loslösung.

Eigentlich sind die Rollen klar verteilt: sie die ältere, weisere, die Lehrerin. Er der jung, vielleicht noch naive Schüler. Doch früh schon zeigt sich, dass mehr in ihm steckt. Er durchschaut sie: das äußere Bild einer Bürgerin, einer Frau, die nicht gefallen will, die im Inneren jedoch einsam ist und unglücklich. Die Maske, die sie auf der Bühne trägt, hat sie auch im Leben für sich gefunden. Sie ist verletzt von seinen Worten und muss doch die Treffsicherheit anerkennen.  Ihm kann sie nichts vormachen. So auch nicht ihre Beziehung zu Martin verheimlichen. Doch sie kann den jungen Schüler nicht einfach aufgeben, auch wenn dieser offenkundig für sie schwärmt. Zu sehr reizt sie das Gefühl der Allmacht, den Einfluss, den sie auf ihn hat. Für diesen Hochmut wird sie bezahlen, sie ahnt es und doch rennt sie sehenden Auges weiter.

Deborah Levy – Was ich nicht wissen will

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Deborah Levy – Was ich nicht wissen will

Deborah flieht aus Südafrika nach Mallorca, Mitten im Winter, um zu schreiben. Doch schon das Ankommen ist so beschwerlich, dass sie keinen richtigen Anfang findet. Mit einem chinesischen Ladenbesitzer kommt sie ins Gespräch. Er genau wie sie fern der Heimat, der Landessprache nicht mächtig, fremd. Sie erzählt ihm von ihrer Kindheit in Südafrika, zur Zeit der Apartheit, als man ihren Vater wegen seiner Aktivitäten für den ANC verhaftete und sie zu einer entfernten Tante schicke, wo sie als jüdischen Mädchen bei Nonnen unterrichtet wurde. Sprach sie zuvor schon nicht viel, verstummt sie nun fast gänzlich. Nach Jahren des Wartens wird der Vater freigelassen und die Familie flieht nach England. Zwar spricht man dieselbe Sprache, aber das Mädchen findet immer noch keine Worte, um sich auszudrücken. Erst durch das Schreiben kann sie das, was in ihr vorgeht, nach außen dringen lassen.

Deborah Levys literarischer Durchbruch gelang ihr 2012 mit Heim Schwimmen, für das sie auf der Shortlist des Man Booker Prize 2012 stand. Dasselbe konnte sie im vergangenen Jahr mit Hot Milk wiederholen. Als Südafrikanerin hat sie die Rassentrennung miterlebt, die auch zentral für „Was ich nicht wissen will“ ist. Der Untertitel, der leider bei der deutschen Ausgabe fehlt, unterstreicht die realen Bezüge, dass es ihre Gedanken sind und ihre Erklärung dafür ist, weshalb sie zur Schriftstellerin wurde: A reponse to George Orwell’s 1946 essay ‚Why I write‘.

Es sind zwei Phasen in ihrem Buch, die mich besonders beeindruckt haben. Die erste zu ihrer Kindheit in Johannesburg, wo sie mit der den Kindern eigenen Naivität die Welt beobachtet und erfasst, ohne zu verstehen, was sie sieht und was dies bedeutet:

Der Koffer, den mein Vater packt, ist sehr klein. Bedeutet das, er kommt bald wieder? Die Männer haben ihm ihre breiten Hände auf die Schultern gelegt. (…) Und jetzt wird er zügig abgeführt von Männern, von denen ich aus mitgehörten Gesprächen zwischen Mom und Dad weiß, dass sie andere Menschen foltern und dass sie manchmal am Handgelenk ein Hakenkreuz eintätowiert haben.

Vor allem die innige Beziehung zu ihrem Kindermädchen Maria und deren Tochter Thandiwe und das nur langsame Begreifen, dass sie zwar im selben Haus, aber nicht in derselben Welt leben, wird durch ihren kindlichen Blick nicht verwässert, sondern geschärft:

Thandiwe durfte eigentlich nicht bei uns zu Hause sein, denn sie war schwarz, und ich hatte versprechen müssen, es keiner Menschenseele zu sagen. Ich nannte Thandiwe manchmal Doreen, aber nur hin und wieder. Doreen weinte auch noch, als Maria mit ihr den Bungalow verließ und sie zur Bushaltestelle »Nur für Schwarze« brachte, von der aus sie in die »Township« zurückfahren sollte, in der sie lebte.

Zum anderen ihre Zeit in England, wo sie sich wie im Exil fühlt, zwangsverfrachtet, da in der alten Heimat kein Leben mehr möglich ist. Auch nach Jahren ist sie in der neuen Heimat nicht angekommen und vermisst das, was sie aufgeben musste:

Seit sechs Jahren lebte ich jetzt in England und war fast so englisch wie eine eingefleischte Engländerin. Trotzdem war ich von anderswo. Mir fehlten der Geruch der Pflanzen, für die ich keine Namen hatte, die Stimmen der Vögel, für die ich keine Namen hatte, das Gemurmel in Sprachen, für die ich keine Namen hatte.

Gerne erinnert sie sich zurück, doch als Erwachsene muss sie erkenne, dass ihre Erinnerungen sich womöglich nicht mit den Eindrücken der anderen Menschen decken:

Nur eine Erinnerung möchte ich behalten: Maria, die auch Zama ist, wie sie abends auf den Verandastufen sitzt und Büchsenmilch trinkt. Die afrikanischen Nächte waren warm. Die Sterne leuchteten hell. Ich liebte Maria, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie mich ebenfalls liebte. Politik und Armut hatten sie von ihren leiblichen Kindern getrennt, und sie war ausgelaugt von den weißen Kindern in ihrer Obhut.

Auch wenn der Verlag ihn als Roman führt, ist es doch eher ein Essay über das Dasein als Schriftsteller, in dem Deborah Levy genau wie auch Orwell autobiographisch begründet darlegt, weshalb sie gar nichts anderes tun kann, als schreiben. Orwells vier Motive gelten meines Erachtens gleichermaßen für Levy: Egoismus, da man gerne auch über sich schreibt; ästhetischer Enthusiasmus, ein historischer Impuls und die politische Absicht – all dies findet sich hier uns in anderen ihrer Werke wieder.