Antonia Baum – Siegfried

Antonia Baum – Siegfried

Der Erzählerin wird einfach alles zu viel. Sie zieht die Reißleine und begibt sich in die Psychiatrie. Dort muss sie warten und so beginnen die Gedanken zu rotieren. Sie erinnert sich an ihre Kindheit mit Siegfried, dem Mann ihrer Mutter, und dessen strenge Mutter Hilde, bei der sie immer dann bleiben musste, wenn ihre Eltern auf Geschäftsreise waren. Und sie hält ihr jetziges Leben mit Alex und der gemeinsamen Tochter dagegen. Alex ist nicht wie Siegfried, er kann ihr auch nicht das Leben bieten, das Siegfried ihrer Mutter bot. Je länger der Tag und das Warten dauern, desto negativer wird ihr Bild von ihrem Leben und vor allem ihrem Partner.

Antonia Baums Roman „Siegfried“ spiegelt zwei Männer verschiedener Generationen, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Es könnte egal sein, wenn nicht die Erzählerin den Vergleich anstellen würde und unausgesprochene Erwartungen ihr Leben ins Wanken bringen würden. Es ist eine Geschichte von Schieflagen, zwischen den Geschlechtern, den Generationen, auch zwischen Ost und West und je tiefer man eintaucht, desto dominanter wird die kindliche Prägung, die stärker ist, als den Figuren bewusst ist.

Der Titel des Buchs überrascht, ist Siegfried doch eigentlich nicht die zentrale Figur. Erst im Lauf der Handlung wird jedoch deutlich, wie bestimmend der Mann für die Ideale und Erwartungen der Erzählerin ist. Er hat ein Modell vorgelebt, nach dem sie sich mit zunehmendem Alter immer mehr sehnt. Die Strenge seiner Mutter hat ihn erfolgreich werden lassen, auch wenn dies ein unterkühltes Verhältnis zur Folge hatte. Jedoch ermöglicht sein Erfolg einen Lebensstandard, der vor allem mit Sicherheit verbunden ist.

Mit Alex genoss die Erzählerin zunächst die Sorglosigkeit und ein Leben nach eignen Maßstäben. Doch schleichend offenbart sich, dass er ein Kind seiner ostdeutschen Erziehung ist und sie in verschiedenen Welten leben. Unweigerlich treffen zwei sehr verschiedene Sichtweisen aufeinander, die nicht vereinbar sind. Je prekärer die finanzielle Lage des Paares, desto kritischer beäugt die Erzählerin die Leistung ihres Partners und vor allem sein Unvermögen, ihr das zu bieten, was Siegfried ihr bieten konnte.

Die Erzählerin ist eine erfolgreiche und intelligente Frau und dennoch scheitert sie am Alltag und daran, die richtigen Schlüsse aus dem zu ziehen, was sie beobachtet und weiß. Es fehlt ihr der richtige Weg zu kommunizieren, klar zu machen, was sie braucht, stattdessen läuft sie in Eskalation, deren erstes Opfer sie selbst ist.

Auch mich würde Alex wahnsinnig machen, doch er kann nicht aus seiner Haut und kann auch nicht verstehen, was er falsch macht. Die Erzählerin ist jedoch keineswegs in einem Leben mit ihm gefangen. Sie könnte ausbrechen, wie einst ihre Mutter, sie kennt allerdings auch den Preis.

Ein intensiver Roman, der ohne dies groß zu umschreiben eine genaue Analyse vieler westdeutschen Nachkriegsfamilien liefert und Lebensmodelle kontrastiert, die weiter nicht voneinander entfernt sein könnte. Im selben Land zur selben Zeit aufzuwachsen und zu leben, genügt nicht, um auch erfolgreich gemeinsam leben zu können.

Malin Stehn – Happy New Year

Silvester, letzter Tag des Jahres und die Chance, dass im neuen alles besser wird. Doch für die Familien von Lollo und Max und ihren Freunden Fredrik und Nina endet die Nacht im schlimmsten Horror. Ihre Töchter feiern eine Party, am Ende ist eine davon tot. Die Eltern zwischen Vorwürfen und Schuldgefühlen. Haben sie ihre Kinder nicht ausreichend beschützt? Oder tragen sie sogar Schuld? Denn plötzlich drohen alte Geheimnisse ans Licht zu kommen und Gewissheiten zu erschüttern.

Die schwedische Autorin und Übersetzerin Malin Stehn ist in ihrer Heimat vor allem durch Kinder- und Jugendbücher bekannt geworden. Mit „Happy New Year“ wagt sie sich ins Spannungsgenre und kann unmittelbar überzeugen. Aus wechselnden Perspektiven erzählt sie die Geschichte, die immer ein paar Lücken lässt und so Raum für Spekulation eröffnet und die Spannung steigert.

Happy, glücklich, ist leider keine der Figuren. Alle tragen sie ihr Päckchen, stecken fest in verfahrenen Beziehungen, haben den Kontakt zueinander verloren. Ein schreckliches Verbrechen bringt sie auch nicht wieder zusammen, sondern lässt sie noch weiter voneinander entfernen. Die Perspektivwechsel erlauben einen Einblick in die Gedanken und Zweifel der Figuren. Bald scheint alles möglich, jeder zu allem fähig, keine noch so schreckliche Tat mehr unvorstellbar.

Eine spannende Geschichte, die alle Abgründe der menschlichen Natur an die Oberfläche spült und zeigt, wozu Rache fähig.

Takis Würger – Unschuld

Takis Würger - Unschuld

Takis Würger – Unschuld

Vaters zu beweisen. Dieser sitzt im Todestrakt und soll hingerichtet werden. Für einen Mord, den er nicht begangen hat, da ist sich Molly sicher. Ihr bleibt nur eine einzige Chance: sie muss nach Rosendale, wo sie als kleines Kind lebte und direkt in das Auge des Orkans: in die Familie, die dem Ort den Namen gab und deren Sohn Casper zehn Jahre zuvor erschossen wurde. Nur bei der Familie selbst kann die Wahrheit liegen. Ihre Tarnung als Hausmädchen und Journalistin fliegt sofort auf, doch wundersamer Weise sie darf bleiben.

Takis Würgers Roman „Unschuld“ ist eigentlich nach sehr schematischen, vorhersehbaren Strukturen klassisch als Krimi aufgebaut: der angenommenen Unschuld eines unheilbar kranken Mannes, der hingerichtet werden soll; seine Tochter, die in letzter Minute versucht die Wahrheit herauszufinden, um ihn zu retten; eine verquere Familie voller Geheimnisse, bei denen offenkundig der Schlüssel zu den Geschehnissen zehn Jahre zuvor liegt. Und doch liest sich die Geschichte, in der man sofort weiß, wer gut und wer böse ist, nicht wie ein klassischer Krimi.

Man ahnt vom Beginn an, wie alles ausgehen wird. Man erkennt die Motive, kann vorhersehen, welche Wendungen die Figuren erst noch für sich aufdecken müssen. Nichts überrascht wirklich, der Spannungsbogen ist schön gestrickt, wie man es erwarten würde. All das und doch packt einem Takis Würger, entfaltet die Geschichte einen Sog, liest man einfach weiter, will man nicht aufhören, bis die Unschuld endlich bewiesen ist.

Es wäre aber zu kurz gegriffen, nur 300 Seiten Unterhaltung in dem Roman zu sehen. Das verhindert der Autor zudem mit dem Nachwort, wenn es dem Leser nicht schon vorher als fader Beigeschmack bewusst geworden ist. Molly und ihr Vater bilden das untere Ende der amerikanischen Gesellschaft, Aufstieg ist eine Illusion, es kann nur noch weiter bergab gehen. Der Todestrakt und die unheilbare Huntington Krankheit scheinen das natürliche Schicksal des Vaters zu sein.

Im Kontrast dazu die Rosendales, einst in einer Liga mit den Rockefellers können sie sich alles erlauben. Sich freikaufen. Die Regeln bestimmen, die nur zu ihren Gunsten aufgestellt werden. Dass sie ihr eigenes Leben nicht leben, sondern nur mit Medikamenten und esoterischen Retreats aushalten, passt ebenso ins Bild, wie die Vernarrtheit in Waffen und die großzügige Unterstützung der NRA. Doch auch sie sind vom Schicksal verdammt, können vermeintlich den finalen Todesstoß hinausschieben, dabei sind sie schon lange innerlich tot.

Takis Würger zeichnet ein dunkles Bild der gegenwärtigen USA. Es ist nicht mehr das Land der Träume, in dem jeder alles erreichen kann. Es ist ein Sumpf, in dem schon lange moralische Orientierung und Werte versunken sind. So moralinsauer das klingen mag, kommt es aber in der Handlung nicht daher. Beiläufig lässt der Autor die großen Probleme der amerikanischen Gesellschaft aufblitzen, die jedoch zu Ursache und Treiber der Handlung werden.

Ein Roman, dessen Relevanz sich aus der Nähe zu einer brutalen und schonungslosen Realität ergibt.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Buch finden sich auf der Seite der Penguin Random House Verlagsgruppe.

Édouard Louis – Anleitung ein anderer zu werden

Édouard Louis – Anleitung ein anderer zu werden

Mit seinem Roman „Das Ende von Eddy“ ist Édouard Louis 2014 schlagartig zum Star geworden. Der autobiografische Roman, der von seiner ärmlichen und von Gewalt geprägten Kindheit auf einem Dorf in der französischen Picardie erzählt, wurde mit Begeisterung aufgenommen. Es folgten „Im Herzen der Gewalt“, „Wer hat meinen Vater umgebracht“ und „Die Freiheit einer Frau“, die alle Themen seines Lebens aufgriffen – Gewalterfahrung, die schwierige Beziehung zu seinem Vater, das trostlose Leben seiner Mutter. Nun widmet er sich seiner Transformation, dem schwierigen Wegs aus dem unteren Arbeitermilieu über das Bürgertum bis hin zu den Reichen und Adligen, die die anerkanntesten Universitäten des Landes besuchen. Es ist sein Leben, aber nicht nur eines, denn er hat auf dem Weg zum berühmten Schriftsteller zahlreiche Leben gelebt – und das mit nicht einmal 30 Jahren.

Es ist die Geschichte eines Kindes, das anders ist als die anderen, das früh Ausgrenzung und Diffamierung erlebt und nicht die Erwartungen der Familie, des Umfelds erfüllen kann. Er zieht sich zurück, versteckt sich in den Pausen in der Bibliothek, wo er auf den ersten Menschen trifft, der ihm eine Tür öffnet: die Tür zum Gymnasium. Als er Hallencourt hinter sich lässt und nach Amiens zieht, beginnt seine Verwandlung. Seine Freundin Elena zeigt ihm, dass es auch andere Leben gibt als jenes, das er kennt. Er macht Bekanntschaft mit Kunst und Literatur, saugt das bürgerliche Leben auf und ist wie betrunken davon. Zugleich entfernt er sich zunehmend von seiner Herkunft. Als er bei einer Lesung des Philosophen und Soziologen Didier Eribon hört, der einen ganz ähnlichen Weg hinter sich hat, erkennt er, dass er gerade Mal eine einzige Etappe gemeistert hat. Es gibt noch viel mehr, jenseits von Amiens und er entwickelt ein neues Ziel: es kann nicht weniger als die berühmte École normale supérieure für ihn sein, auch wenn alles dagegen spricht, dass er dort aufgenommen wird.

Louis schildert die Geschichte eines Aufstiegs, des Weges von der ärmlichsten Klasse, wo das Essen knapp ist und Fernsehen und Alkohol dominieren, hin zum intellektuellen Olymp Frankreichs. Der junge Eddy merkt bald, dass es nicht alleine die formale Bildung, der Schulabschluss des Abiturs ist, der den Unterschied macht. Mit seiner Herkunft geht auch ein Habitus einher, den er nicht so leicht ablegen kann. Die Sprache verrät ihn, er muss lernen sich richtig zu kleiden, das Besteck anders zu halten – und immer wieder gibt es Grenzen. Jede Stufe höher, jede neue Klasse endet letztlich in der Erkenntnis, dass es noch eine andere darüber gibt.

Die Demütigungen, die er als Kind erlebt hat, die Scham ob seiner bescheidenen Herkunft, aber auch die Wut auf die Eltern, die ihm nicht das gegeben haben, was andere ihren Kindern mitgeben – all das treibt ihn an und immer weiter. Zugleich kann er das Gefühl nicht ablegen ein Eindringling zu sein, nie wirklich dazuzugehören. Am Ende ist nichts mehr von dem kleinen Eddy übrig, als er plötzlich doch wieder alles infrage stellt.

Das Thema des sozialen Aufstiegs ist seit einigen Jahren in autofiktionalen Romanen in Frankreich wie auch in Deutschland populär. Christian Baron schildert seinen Weg in „Ein Mann seiner Klasse“, Deniz Ohde in „Streulicht“ die komplexe Beziehung zum Vater, nachdem sie sich als Kind entfernt hat. Jenseits der Grenze setzen sich beispielsweise der bereits erwähnte Eribon in „Retour à Reims“ oder Annie Ernaux etwa in „La Honte“ mit der Frage von Herkunft, Identität und den sozialen Klassen auseinander. Sie alle zeigen, dass Bildung allein nicht ausreicht, wie sehr die Herkunft prägt und dass nur ein Bruch mit dieser zu dem tatsächlichen Aufstieg führen kann – ein Preis, der hoch ist. Mit einigen Jahren Abstand erkennt das auch Édouard Louis, weshalb seine Bücher nicht nur seine Therapie sind, sondern auch eine Gesellschaftskritik, die nachdenklich stimmt und für Deutschland genauso wahr ist, wie für Frankreich.

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

Ein Dorf im Hunsrück der 1980er Jahre. Ela ist noch ein Kind und versteht nicht alles, was um sie herum geschieht. Offenkundig ist jedoch, dass das Gewicht ihrer Mutter ein Problem ist. Mehr als das, es scheint die Ursache für alles Unglücks ihres Vaters zu sein. Ein Mann, der sich immer für Großes geboren sah und seiner Frau die Schuld dafür gab, dass er nicht befördert wurde, nicht über so viel Geld und Bildung wie sie verfügte, im Dorf nicht so anerkannt war, wie er sich das gewünscht hätte. Aber wie sollte er das auch erreichen, mit einer dicken, nicht präsentablen Frau an seiner Seite? Als Erwachsene Blickt Ela zurück, spricht endlich mit ihrer Mutter über das Jahrzehnte lange Martyrium, das diese stoisch ertragen hat und mit ihrer Gesundheit bezahlte.

Zugegebenermaßen hat mich erst die Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2022 so richtig neugierig auf „Lügen über meine Mutter“ gemacht. Die rheinland-pfälzische Provinz als Schauplatz fand ich eher wenig attraktiv, kenne ich sie doch zur Genüge und weiß um den Horror, der Dorfleben bedeutet. Daniela Dröscher verdichtet den Roman jedoch, die Handlung spielt sich weitgehend im Nukleus der Familie, den eigenen vier Wänden ab, die zur Kampfarena zwischen den Eltern werden mit einem Kind, das zu jung ist, um die Mechanismen des innerfamiliären Krieges zu verstehen. Eine schonungslose Milieustudie, die letztlich das Portrait einer ganzen Generation von Frauen ist.

Als Erwachsene stellt die Erzählerin fest, dass sie ihre Mutter nie verstanden hat und beginnt endlich, mit ihr über die Erinnerungen zu reden. Episoden aus der Kindheit wechseln sich so mit Analysen ab und ordnen den ganzen Schrecken ein, den die Mutter widerspruchslos zum Wohle der Töchter ertragen hat. Immer wieder läuft es darauf hinaus, dass der Vater versucht seine Unterlegenheit und Minderwertigkeitskomplexe zu überwinden, indem er die Mutter klein macht. Als Schlesiendeutsche ist sie keine richtige Deutsche, sie spricht ja nicht einmal den richtigen Dialekt! Das Geld ihrer Familie kann nur illegal erworben sein, Verbrecher müssen sie sein, nie kann man durch ehrliche Arbeit so vermögend werden. Ihre Bildung? Sie will doch nur angeben, das sind gar keine richtigen Diplome die sie hat.

Endlos ist die Liste der Angriffspunkte, zentral wird jedoch immer wieder ihr Gewicht. Vieles kann der Mann kontrollieren, wohin sie geht, wofür das Geld ausgegeben wird, aber ihr Gewicht unterliegt trotz aller Bemühungen – öffentliches Wiegen und Notieren der Zahl in einem Buch! – nicht seiner Macht. Alle Schikanen erträgt sie, frisst alles in wahrsten Sinne des Wortes in sich hinein und kümmert sich doch selbstlos um alle anderen um sie herum.

Es ist beim Lesen oftmals fast unmöglich auszuhalten, was Elas Mutter an psychischer Gewalt angetan wird und man fragt sich, weshalb sie nicht ausbricht, nicht einfach geht. Und zugleich weiß man, dass es so einfach nicht ist und erinnert sich, wie viele dieser kleingeistigen Männer man selbst erlebt hat, die sich für etwas Besseres hielten, wenn sie im ballonseidenen Jogginganzug mit dem Cabrio vorm dörflichen Tennisplatz vorfuhren und sich für den König der Provinz hielten und dabei doch nur alle Peinlichkeit zur Schau trugen.

Was in den 80ern als völlig normales Familienleben erschienen sein mag, würde man heute ganz anders einordnen, wie es die Erzählerin auch tut und womit sie ein Licht auf eine ganze Generation von Frauen wirft, die von ihren Müttern noch zum Schweigen erzogen wurden, ihren eigenen Töchtern jedoch Stimmen mit auf den weg gegeben haben.

Auch sprachlich bietet der Roman viele interessanten Facetten, weshalb er für mich ganz eindeutig ein würdiger Kandidat für den diesjährigen Buchpreis wäre, vor allem, um dem Thema die verdiente Aufmerksamkeit zu schenken.

Stefanie vor Schulte – Schlangen im Garten

Stefanie vor Schulte – Schlangen im Garten

Güldene Kammer Nummer 14, drittes OG rechts. Dort wohnt Familie Mohn. Vater Adam, die Kinder Micha, Linne und Steve. Alles war gut, doch jetzt ist nichts mehr gut, denn Mutter Johanne fehlt und nach und nach lösen sich die Erinnerungen auf und gehen Gegenstände kaputt, die sie mit ihr verbunden hatte. Alles, was der Familie geblieben ist, sind die Tagebücher, die sie nicht lesen, sondern aus denen sie allabendlich Seiten reißen und essen. Jedes der vier Mitglieder geht anders mit der Trauer um, aber niemandem gelingt es wirklich, mit der großen Lücke, die die Abwesenheit reißt, umzugehen.

Stefanie vor Schulte macht in ihrem zweiten Roman Trauerarbeit zum zentralen Thema, bzw. eher nicht stattfindenden Trauerarbeit, denn alle Figuren in „Schlangen im Garten“ sind einfach alleingelassen mit dem Schrecken, der das plötzliche Fehlen in ihnen auslöst.

Der Vater wird apathisch, schafft es nicht, die Strukturen aufrecht zu erhalten. Micha versinkt in einer Traumwelt, Linne reagiert mit Trotz und Wut, die sich in Gewalt äußern. Steve, etwas älter als die Geschwister, versucht aufzufangen, was der Vater nicht leisten kann und leidet doch selbst auch. Die Nachbarn und Lehrer beobachten, was mit den vier passiert, doch statt zu helfen, klagen sie an, beschweren sie sich, versuchen sie zu bestrafen. Warum funktionieren sie einfach nicht mehr? So sind sie untragbar, suspekt.

Die Reaktionen der einzelnen Figuren auf den plötzlichen Tod der Mutter sind für mich gut nachvollziehbar und wirken authentisch. Jeder reagiert auf seine Weise, hat andere Bedürfnisse, gerät auf andere Weise aus der Bahn. Der gegenwärtige Glaube, dass man schon nach zwei Wochen wieder ins alte Leben zurückkehren könne, als wenn nichts geschehen wäre, ist absurd, wusste man früher doch von einem ganzen Trauerjahr, das es erfordert, um das Leben ohne einen geliebten Menschen zu gestalten. Erschreckend, wie empathielos das Umfeld reagiert, dem offensichtlich Verständnis, aber auch Mittel fehlen, um adäquat zu reagieren und mit dem umzugehen, was die Familie durchmacht.

Das Ende stimmt zwar etwas versöhnlich, aber es bleibt ein fader Beigeschmack, denn der Roman zeigt genau das auf, was heute unsere Gesellschaft prägt: niemand will wirklich damit konfrontiert werden, dass es einem anderen nicht gut geht. Alle sollen doch bitte reibungslos funktionieren und die ihnen zugewiesene Rolle ausfüllen. Ausreißer sind ein Problem fürs System, dabei würde ein wenig Zuwendung und Verständnis schon so viel bewirken können.

Sicherlich kein leichter Roman und bestimmt kein Thema, das jeder mal eben nebenbei konsumieren kann und will, aber lesenswert ist er allemal.

Camilla Sten – Das Haus der stummen Toten

Camilla Sten – Das Haus der stummen Toten

Eleanor erlebt das, was niemand erleben sollte: als sie ihre Großmutter Vivianne besuchen will, trifft sie auf deren Mörder. Aufgrund ihrer Gesichtsblindheit kann sie den Täter jedoch nicht identifizieren. Monate später ist sie endlich so weit, sich um den Nachlass zu kümmern und fährt gemeinsam mit ihrem Freund und ihrer Tante nach Solhöga, einem Gut, von dem sie noch nie etwas gehört hat. Ein Notar begleitet sie, um den Bestand des Hofs aufzunehmen. Kaum sind sie angekommen, geschehen seltsame Dinge in den alten Gemäuern. Eleanor scheint ihre Großmutter hören zu können, die sie warnt. Und wo steckt eigentlich der Gutsverwalter? Schnell wird gewiss: ihr Gefühl trügt sie nicht: sie schweben in Lebensgefahr.

Der zweite Thriller der schwedischen Autorin Camilla Sten konnte mich restlos von ihrem Talent, das ihr sicherlich auch durch ihre berühmte Mutter Viveca mitgegeben wurde, überzeugen. „Das Haus der stummen Toten“ zeichnet sich durch eine düstere Atmosphäre aus, die einem immer wieder Schaudern lässt. Man ahnt bald schon, dass vieles nicht so ist, wie es scheint, aber woher die Bedrohung tatsächlich kommt, zeigt sich erst spät.

Der Thriller ist perfekt durchorchestriert: der Mord an der Großmutter, der der jungen Protagonistin noch in den Knochen steckt. Dann das düstere Anwesen, das offenbar mit gutem Grund verheimlicht wurde. Ein mysteriöses Tagebuch, das mehr Fragen aufreißt als es Antworten geben könnte und unerklärliche Vorgänge sowie der Schatten einer Person, die sich offenbar in ihrer Nähe befindet und die Fäden immer enger zieht.

Spannung von Beginn an und ein gut gehütetes Familiengeheimnis, das endlich aufgelöst werden will – ein Psychothriller, wie man ihn sich wünscht.

Anna Burns – Amelia

Anna Burns – Amelia

In Belfast aufzuwachsen und zu überleben erfordert eine gewisse Gelassenheit und Cleverness. Auch wenn man es nicht so nennt, es herrscht Krieg auf den Straßen und in den Häusern und Kinder wie Amelia Lovett lernen schon in jungen Jahren, wer Freund ist, wer Feind ist und wann ein Feind auch mal zu Freund werden kann, weil es einen anderen, gemeinsamen Feind gibt. Gewalt spielt sich tagtäglich vor ihren Augen ab, gehört zu Leben wie die Schule. Da muss man manchmal gedanklich einfach abschweifen, um all das zu vergessen, was sich um einen rum zuträgt, denn sonst schlägt sich das irgendwann nieder.

Ihr Roman „Milchmann“ wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Man Booker Prize, dem National Book Critics Award und dem Orwell Prize, was die nordirische Autorin Anna Burns weit über ihre Heimat hinaus bekannt machte. „Amelia“ ist ihr Debüt aus dem Jahr 2001, welches ebenfalls von den Kritikern begeistert aufgenommen wurde und für zahlreiche Preise nominiert war. Beide Romane haben gemein, dass die Autorin mit einer ungeschönten, direkten Sprache das alltägliche Grauen, dem die Mädchen bzw. junge Frauen ausgesetzt sind, schildert und den Leser damit ins Mark trifft. Es ist manchmal nur schwer auszuhalten – verglichen jedoch mit der Realität, die sie einfängt, ist das Lesen ein Klacks, wenn man es sich realistischer Weise vor Augen führt.

Die Kinder leben während der Troubles eine Normalität, die man sich kaum vorstellen kann. Tote, Blut, Gewaltexzesse – nichts bringt sie mehr aus der Ruhe, weil es so normal ist, dass im Puppenwagen genauso gut eine Bombe wie eine Puppe liegen könnte oder dass der Vater oder Bruder morgen schon zu den Opfern gehören könnte. Die Frauen sind gleichermaßen abgestumpft und tragen ihre Streitigkeiten ebenso gewalttätig aus, wie die Männer. Es wirkt geradezu grotesk, wie Amelia die Tage zählt, bis ihr Elternhaus an der Reihe ist, niedergebrannt zu werden, nun ja, Troubles eben. Dass dies nicht ohne Spuren bleiben kann, gerade auch weil selbst innerhalb der Familie keine Loyalität zu erwarten ist, verwundert nicht. Die Spuren der Verwüstung ziehen sich zwar in anderer Art, aber nicht weniger heftig durch ihr Erwachsenenleben.

Die Geschichte Amelias überspannt mehrere Jahrzehnte, es sind kurze Kapitel, nur Episoden, die jedoch eindrücklich nachwirken. Sie erscheinen wie Flashbacks, böse Erinnerungen, die sich eingebrannt haben und die Amelia nicht mehr los wird. Narben, die sie zeichnen und eine von vielen Geschichten eines Landes im andauernden Ausnahmezustand erzählen.

Danya Kukafka – Notes on an Execution / Michelle Zauner – Crying in H Mart

Danya Kukafka – Notes on an Execution / Michelle Zauner – Crying in H Mart

Zwei Bücher, die unterschiedlicher kaum sein könnten und doch dieselben Fragen stellen: wer bin ich? Wo komme ich her? Welchen Einfluss hat das auf meine Persönlichkeit? Könnte ich wer ganz anderes sein? Michelle Zauners Erinnerungen an ihre Mutter, die für sie ihre koreanische Seite verkörperte, bricht in einem H Mart, einem Supermarkt für asiatische Produkte, aus ihr heraus. Ist sie überhaupt noch Koreanerin, jetzt, wo die Mutter nicht mehr lebt? Danya Kukafkas Protagonist ist nur Stunden vor der Todesspritze. Er ist ein Mörder, daran besteht kein Zweifel, aber hätte er nicht auch etwas Anderes werden können, wenn die Situation seiner Eltern und Kindheit nicht so gewesen wäre, wie sie war?

„Crying in H Mart“ ist nicht nur die Aufarbeitung des Verlustes, sondern vor allem, die Reflexion darüber, wie sehr die beiden Eltern mit ihren unterschiedlichen Kulturen die Tochter geprägt haben. Es sind vor allem die verschiedenen Lebensmittel, mit denen Zauner ihre Mutter verbindet, das typische Essen, das plötzlich fehlt, als die Mutter nicht mehr da ist und sie realisiert, dass sie nie gelernt hat, dieses selbst zu kochen. Es wird ihr auch klar, wie wenig sie die Mutter kannte und verstand, vieles blieb in den USA verborgen, was in der koreanischen Heimat bei Besuchen so selbstverständlich war. Es ist daher nicht nur der Verlust eines geliebten Menschen, sondern ein ganzer Teil ihrer Persönlichkeit, der mit dem Tod aus ihr herausgerissen zu sein scheint.

Danya Kukafka lässt in den Leser an Ansel Packers letzten Gedanken teilhaben, während parallel im Rückblick die Ermittlungen zu den Morden an drei jungen Frauen geschildert werden. „Notes on an Execution“ zeigt den Mörder nicht nur als Monster, sondern zunächst als Kind in einer gewalttätigen Familie, seine Mutter meint es gut, als sie dafür sorgt, dass die Polizei die beiden Söhne herausholt, doch für Ansel reißt das ein emotionales Loch, eine Leere, die er nicht mehr füllen kann, die auch die extremen Erfahrungen von Mord nicht füllen können. Ansel ist nicht nur das Monster, sondern wird geradezu charismatisch geschildert – wenn er andere Entscheidungen getroffen hätte, säße er nun nicht im Todestrakt mit tickender Uhr.

Zwei völlig verschiedene Bücher und doch teilen sie die zentralen Fragen, die einem auch als Leser nicht loslassen. Beide sind emotional herausfordernd, Zauner, weil sie detailliert die letzten Monate der Krebserkrankung der Mutter schildert, das langsame dahinvegetieren bis zum letzten Tag, Kukafka, weil sie den Mörder eben nicht nur einseitig schildert, sondern nahelegt, dass es nicht notwendigerweise zu diesen Taten hätte kommen müssen und nicht nur der Täter selbst Schuld auf sich geladen hat.

Keiichirō Hirano – Das Leben eines Anderen

Keiichiro Hirano – Das Leben eines Anderen

Die ehemalige Klientin Rie wendet sich an den Scheidungsanwalt Akira Kido. Ihr zweiter Ehemann kam bei einem Unfall ums Leben. Sie hatten nicht viel Zeit miteinander, nicht einmal vier Jahre, und nach seinem Tod hat sie zunächst den Wunsch ihres verstorbenen Gatten akzeptiert und dessen Familie nicht über das Unglück informiert. Nur wenig wusste sie über sein Vorleben, er hatte damit abgeschlossen und neu begonnen. Zum ersten Todestag jedoch nimmt sie Kontakt mit dem Bruder auf und muss zu ihrem Schrecken feststellen, dass der Mann, mit dem sie glaubte verheiratet zu sein, nicht der war, als der er sich ausgab. Sie beauftragt Kido mit den Nachforschungen, um die Identität des Verstorbenen herauszufinden.

Schon seit über 20 Jahren ist Keiichirō Hirano eine bekannte Größe in der japanischen Literaturszene und er wurde bereits mit zahlreichen Preisen geehrt. „Das Leben eines Anderen“, der mit dem angesehenen Yomiuri Prize for Literature ausgezeichnet wurde, ist sein erster Roman, der in deutscher Übersetzung erschienen ist und der derzeit fürs Kino verfilmt wird. Im Zentrum steht die Suche nach dem Unbekannten und damit eng verbunden die Frage, wie sehr das eigene Leben von der Familie und der Familiengeschichte bestimmt wird oder bestimmt werden darf.

Die langwierige Recherche Kidos ist der rote Faden der Handlung. Bald schon offenbart sich jedoch, dass das zentrale Thema mehrere der Figuren betrifft. Kido selbst ist koreanischer Abstammung, was im Japan der Gegenwart immer noch mit Vorurteilen behaftet ist. Zainichi kamen während der Kolonialzeit als Arbeitskräfte nach Japan, verloren später jedoch die Staatsangehörigkeit, jedoch werden auch zweite und dritte Generation nach wie vor als Fremde betrachtet und sind immer wieder, gerade in Zeiten von wirtschaftlichen Unsicherheiten verschiedenen Formen von Fremdenfeindlichkeit und Verachtung ausgesetzt. Kido ist sich dessen bewusst, auch die Vorbehalte der Familie seiner Frau vor der Heirat waren ihm bekannt. Er kann seine Herkunft nicht abstreifen, hat aber auch gelernt defensiv mit ihr umzugehen.

Genau diese Herkunft ist es auch, die zum Schlüssel für das Auflösen des Mysteriums um den Unbekannten wird. Er hat sich entschieden das Leben eines Anderen anzunehmen und sein eigenes abzustreifen. Auch Ries Sohn hadert im Laufe der Geschichte damit, wer er ist, ob er mehr von seinem leiblichen oder mehr von seinem Ziehvater mitbekommen hat und was deren Familiengeschichten für ihn bedeuten.

Die Vergangenheit kann man nicht ändern – aber die Zukunft liegt in der eigenen Hand. Ein sehr japanischer Roman, der weitere für mich unbekannte Facetten des fernöstlichen Landes offenbart.