Jahresrückblick 2018

Am letzten Tag des Jahres drängt sich ein Rückblick auf das vergangene Lesejahr natürlich auf. Wenn man viele verschiedene Genre liest, lässt sich nicht so leicht sagen, was denn nun das beste war, daher meine Top 3 für unterschiedliche Kategorien, wobei ich bei manchen locker zwei oder gar dreimal so viele herausragende Bücher gelesen habe. Die Nennung ist daher auch nicht als Ranking zu verstehen.

Kategorie: Was war das für ein Geräusch, ich hatte doch abgeschlossen, oder?

Jo Nesbo – The Snowman

Ein skandinavischer Thriller, der genau das alles bietet, was man von ihm erwartet.

Tito Topin – Casablanca im Fieber

Ein klassischer crime noir, der vor allem von der aufgeheizten Atmosphäre Casablancas lebt.

You-Jeong Jeong – The good son

Das vermutlich verstörendste Buch, das vor allem auch durch seine sehr asiatische Schreibart besticht.

Kategorie: Wo sind die Taschentücher, ich brauch Taschentücher!

Frederik Backman – Us Against You

Ich neige nicht zu großer Gefühlsduselei beim Lesen, aber Backman hat mich dann doch in den emotionalen Ausnahmezustand versetzt.

Emmanuel Carrère – D’autres vies que la mienne

Carrère steht Backman in nichts nach. Eine unglaublich traurige Geschichte.

Bettina Wilpert – Nichts, was uns passiert

Macht eher wütend als traurig, selten sind fiktive Gedankengänge so authentisch niedergeschrieben.

Kategorie: Komm, lies mir was vor

Liane Moriarty – Nine Perfect Strangers

Nachdem sie mich zuletzt etwas enttäuscht hatte, konnte mich Liane Moriarty mit diesem Buch wieder restlos packen.

Volker Kutscher – Der nasse Fisch

Es hat eigentlich keines weiteren Beweises bedurft, dass das öffentlich-rechtliche Radioprogramm in Deutschland hervorragende Hörspiele produziert. Die Umsetzung vom Volker Kutschers Roman ist aber ganz klar das Beste, was man im Radio wohl jemals hören konnte.

Robert Harris – Fatherland

Der amerikanische Meister des historischen Stoffes bleibt sich auch hier treu.

Kategorie: Bücher, die die Welt erklären

Jan Stocklassa – Stieg Larssons Erbe

Mir war der Olof Palme Mord nur rudimentär präsent, aber nicht nur in diesem nach wie vor ungeklärten Mordfall gab es für mich viele bislang unbekannte Aspekte, sondern vor allem die Person Stieg Larssons bekam für mich gänzlich neue Facetten.

Artur Isarin – Blasse Helden

Kann man Russland 2018 verstehen ohne das, was nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in dem Land vor sich ging? Nein. Und Artur Isarins Reise in die 1990er sind trotz aller Fiktionalität ausgesprochen erhellend hierfür.

Ijoma Mangold – Das deutsche Krokodil

Ich schätze Mangold als Literaturkritiker, der treffsicher kein Blatt vor den Mund nimmt. Hier mal eine ganz andere Seite von ihm, die den Menschen hinter dem Kritiker zeigt.

Kategorie: Was passiert da gerade nebenan?

Delphine de Vigan – Loyalitäten

Seit vielen Jahren schon schätze ich Delphine de Vigan, mit ihrem kurzen Roman beweist sie einmal mehr, dass sie einen Blick für den Rand unserer Gesellschaft hat und dahin schaut, wo andere den Kopf abwenden.

Tommy Orange – There there

Wer schon immer mal versuchen wollte, die Kultur und vor allem Gedankengänge der Natives nachzuvollziehen, kommt an diesem Roman schwerlich vorbei.

Michael Donkor – Hold

Noch eine junge Stimme, die im englischsprachigen Raum völlig zu Recht 2018 mit viel Jubel begrüßt wurde.

Kategorie: Die alternative Realität ist irgendwie auch nicht besser

Karin Boye – Kallocain

Weshalb dieser Roman seit Jahrzehnten in den Schubladen verstaubte, ist mir ein Rätsel. Er gehört aber sofort in den sch8ulsichen Kanon und zur Pflichtlektüre gemacht.

Timur Vermes – Die Hungrigen und die Satten

Der humoristische Beitrag zur Flüchtlingsdebatte, der einem jedoch den Atem stocken lässt.

Andreas Eschbach – NSA

Wie gut, dass so manche Technik erst Jahrzehnte später entwickelt wurde…

Kategorie: Was Leichtes für Zwischendurch

Oyikan Braithwaite – My Sister the Serial Killer

Das Buch erzählt genau das, was der Titel ankündigt.

Jo Piazza – Charlotte Walsh likes to win

Man kann stutzig werden, wenn die Werbemaschinerie für ein Buch allzu offensiv ist. Das hätte dieses gar nicht nötig, denn es zeigt den Wahlkampfalltag einer Politikerin hautnah.

 Zaza Burchuladze – Der aufblasbare Engel

Das Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, Georgien, hat so einiges an beachtenswerten Romane nach Deutschland gebracht. Dazu gehört diese absurde Geschichte auch ganz unbedingt.

Kategorie: Für ein Jugendbuch ist man doch nie zu alt

Wlada Kolosowa – Fliegende Hunde

Ein schräger Titel, der nur ahnen lässt, wie sehr der Inhalt zum Schmunzeln einlädt.

Manja Präkels – Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß

Ohne Frage, der Preis für das Jugendbuch des Jahres hat dieser Titel ganz klar verdient.

Alex Lake – Wovon du nichts ahnst

alex-lake-wovon-du-nichts-ahnst
Alex Lake – Wovon du nichts ahnst

Sarah Havenant hat alles, wovon andere nur träumen: einen sie liebenden Ehemann, drei bezaubernde Kinder und als Ärztin ist sie ebenfalls angesehen und erfolgreich. In Maine leben sie in einer Kleinstadt, wo jeder jeden kennt und das Leben einem gemächlichen Takt folgt. Als eine alte Schulfreundin sich bei ihr meldet, ist sie irritiert, nicht nur, weil Rachel nach vielen Jahren wieder Kontakt aufnimmt, sondern weil diese sie fragt, welches ihr richtiges Facebook Konto ist. Offenbar gibt es noch ein zweites und als Sarah beginnt zu recherchieren, ist sie schockiert von dem, was sie findet: jemand hat in ihrem Namen einen Account mit intimen Bildern von ihr und ihrer Familie erstellt. Jemand, der sich in ihrer unmittelbaren Nähe aufhalten muss.  Sie ahnt nicht, dass dies nur der Anfang ist und ihr die schlimmsten Monate ihres Lebens bevorstehen…

„Wovon du nichts ahnst“ ist bereits der dritte Roman, der unter dem Pseudonym Alex Lake erschienen ist. Der Psychothriller kann von der ersten Seite an packen, er spielt mit den schlimmsten Ängsten, die man haben kann: jemand drängt sich heimlich in das eigene Leben und übernimmt die Kontrolle darüber.

Die Protagonistin Sarah ist überzeugend entworfen: als Ärztin neigt sie eher zu rationalen Erklärungen und weniger zu emotionalen Kurzschlussreaktionen, nichtsdestotrotz bietet ihre Vorgeschichte mit Angstzuständen Potenzial für Aussetzer und psychische Probleme. Im Laufe der Handlung wird sie immer panischer, vor allem als ihr klar wird, dass nichts hat, das sie dem Stalker entgegensetzen kann und als sie spürt, dass ihr Umfeld zunehmend Zweifel an ihr hegt. Glaubwürdig aber kein bisschen weniger erschreckend ist auch die Entwicklung, die ihre Ehe nimmt: steht Ben zunächst voll auf ihrer Seite, wachsen Skepsis und Sorge um seine Frau und er entfernt sich immer weiter von ihr, da er selbst auch nicht mehr weiß, was er glauben soll.

Mysteriös die kurzen Einschübe des Täters; für den Leser ist klar, dass Sarah nicht an einer dissoziativen Störung leidet, aber neben der Gefahr, die von dem Unbekannten ausgeht, macht ihr die Machtlosigkeit und wachsende Verzweiflung gegenüber ihrem nahen Umfeld zusätzlich zu schaffen. Es zeichnet sich bald ab, wer nur hinter diesem perfiden Spiel stecken kann, Alex Lake nutzt hier einen unerwarteten, aber völlig plausiblen Fortgang der Handlung, um die Spannung aufrechtzuerhalten, sie aber in eine andere Richtung zu lenken.

Ein fesselnder Psychothriller, der vielleicht in der Extremität letztlich nicht ganz authentisch wirkt, aber in weiten Teilen doch Ängsten spielt, die jeder, der moderne Medien nutzt, auch kennt.

Maria Adolfsson – Doggerland: Fehltritt

maria-adolfsson-doggerland-fehltritt
Maria Adolfsson – Doggerland: Fehltritt

Nach dem großen Austernfest auf Doggerland kehrt die Kommissarin Karen Eiken Hornby verkatert nach Hause zurück. Sie sieht noch ihre Nachbarn Susanne aus der Ferne bevor sie in Tiefschlaf fällt aus dem sie brutal ein Anruf reißt: sie soll zum Tatort kommen, Susanne wurde ermordet. Nicht genug, dass die allein lebende Frau bestialisch hingerichtet wurde, sie ist auch noch die Ex von Karens Chef, der natürlich als einer der ersten unter Verdacht gerät. Doch er scheidet als Täter, aber nun ebenso als Ermittler aus, weshalb Karen die Verantwortung für die Aufklärung des Falls tragen muss. Keine leichte Last, denn es gibt quasi keinerlei Spuren, die zu einem Schuldigen führen könnten. Der Druck wächst auf Karen, ist sie der Aufgabe, der sie so lange entgegengesehnt hatte, doch nicht gewachsen?

Dass Schweden reihenweise hervorragende Krimiautoren hervorbringt, ist nichts Neues. Dazu gehört sicherlich auch Maria Adolfsson, die mit ihrer Doggerland Reihe ein wirklich beachtliches Debüt vorlegt. Ungewöhnlich an der Reihe – Ullstein hat bislang drei Bände angekündigt – ist der Handlungsort: die fiktiven Doggerschen Inseln, die sich in der Nordsee zwischen Dänemark, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich befinden.

In „Fehltritt“ stimmt schlicht und ergreifend alles: eine interessante Protagonistin, die weder Übermensch noch psychisch völlig am Ende ist, die ihre guten wie auch die weniger sympathischen Seiten hat, aber durch die Handlung hindurch menschlich und authentisch wirkt und zunehmend an Profil gewinnt. Ein Fall, der sehr lange offen bleibt und nur durch systematische und gute Polizeiarbeit gelöst wird und keinerlei Kommissar Zufall erfordert, der den Ermittlern mal eben aus der Patsche hilft. Die Handlung war für mich auch völlig ausgeglichen zwischen dem Privatleben der Figuren und der eigentlichen Krimihandlung, Karens Leben außerhalb des Reviers war perfekt dosiert, um sie als Figur greifbar zu machen aber nicht zu stark den Fokus vom eigentlichen Geschehen abzulenken. Der Schreibstil überzeugt ebenfalls, der Roman ist kein Psychothriller mit dauerhafter Anspannung am Anschlag, sondern ein solider Krimi, bei dem die Polizeiarbeit im Vordergrund steht.

Für mich jedoch am beeindruckendsten war der Handlungsort: die Autorin hat eine fiktive Welt erschaffen, die jedoch durch und durch glaubwürdig und vorstellbar erscheint. Es ist nicht nur die Landschaft, die natürlich eine gewisse skandinavische Prägung aufweist und zu dem rauen Nordseeklima passt, sondern auch die Menschen, die als Siedler verschiedenste Einflüsse Dänemarks, Norwegens und Schwedens, aber auch der Niederlande aufweisen und die fiktive Sprache, die mit einigen Worten eingeworfen wird, so als Mischung herausbilden. Die Autorin hat Details erschaffen wie eine mystische Sage, die die Entstehung des Eilands begründet, wie auch Vorbehalte und Vorurteile zwischen den Bewohnern im Norden und im Süden. Zu keiner Sekunde hat man Zweifel daran, dass es diesen Ort real geben könnte.

Auf die weiteren Fälle wird man leider in deutscher Übersetzung noch einige Zeit warten müssen – das ist aber auch der einzige Wermutstropfen.

Tony Parsons – Die Essenz des Bösen

tony-parsons-die-essenz-des-bösen
Tony Parsons – Die Essenz des Bösen

Detective Max Wolfe ist nur kurz im Einkaufszentrum Lake Meadows als die Hölle über ihn hereinbricht: ein Hubschrauber, von einer Drohne abgeschossen, stürzt in das Gebäude und löst ein Inferno aus. Es dauert nicht lange, bis die beiden Khan Brüder als Täter identifiziert sind, doch bei der Festnahme kommt es zum Schusswechsel und eine Polizistin stirbt durch die Waffe des Islamisten. Die Bevölkerung ist außer sich und schwankt zwischen Trauer um die junge Polizistin und Mutter von zwei Kindern und Hass auf die Khan Familie. Die Eltern der Attentäter und eine Nichte wollen trotz ausdrücklicher Warnung nicht unter Polizeischutz bleiben, sondern in ihr altes Haus, in ihr altes Leben zurück und so passiert, was passieren muss: ein weiteres Leben wird ausgelöscht. Nur dieses Mal findet die Polizei den Täter nicht so schnell.

Auch im fünften Teil seiner Reihe um den Londoner Detective greift Tony Parsons aktuelle Themen auf und baut um diese eine überzeugende und vor allem spannende Geschichte. Pünktlich zum Erscheinungstermin könnte die Story auch kaum aktueller sein, ist doch mit London Gatwick einer der wichtigsten europäischen Flughäfen wegen wiederholter Störungen durch Drohnen für mehrere Tage lahmgelegt worden. Und an der unmittelbaren Gefahr, die von fanatischen Islamisten auch in Europa ausgeht, zweifelt inzwischen ohnehin niemand mehr.

Neben der Aktualität hat mich vor allem die Differenziertheit, mit der Parsons die Problematik darstellt, überzeugt. Einerseits jagt die Polizei Terroristen, aber nicht alle Familienmitglieder sind Täter und dürfen nicht als solche behandelt werden. Der Vater, der auf sein Recht auf sein altes Leben pocht, weil er alles für seine Integration getan hat, tut einem Leid. Neben den Opfern, die durch die Attentate zu beklagen sind, ist er der Hauptleidtragende, denn so sehr er sich auch bemüht, die englische Gesellschaft wird ihn nie aufnehmen und seine Söhne versetzen diesem Wunsch den letzten Dolchstoß. Die Polizei muss ihn vor den eigenen Leuten schützen – wahrlich kein leichtes Unterfangen, weder praktisch noch moralisch.

Auch Layla, die 16-jährige Nichte ist gefangen zwischen den Erwartungen und kann letztlich keine erfüllen. Niemand hilft ihr, nimmt sie an die Hand, um ihren Weg zu finden und so bleibt ihr nur die Verzweiflungstat als letzter Ausweg.

Auch Max Wolfe steckt in einem Dilemma: seine Ex will nach Jahren plötzlich die gemeinsame Tochter zurück. Er will sie nicht aufgeben, will aber auch ihr Bestes und ihr vor allem nichts vorenthalten. Gleichzeitig liebt er seinen Beruf – doch als alleinerziehender Vater Verbrecher jagen ist zeitlich nicht immer koordinierbar und geht unweigerlich zu Lasten des Mädchens. Was also tun?

Auch wenn Max Wolfe so einiges einstecken kann, er ist nicht der Superheld, der im Alleingang alle Gegner besiegt. Gerade sein kompliziertes Privatleben hindert ihn an dieser Rolle. Das macht aber die Reihe aus und liefert immer das kleine bisschen mehr, das Tony Parsons‘ Romane auszeichnet.

Annie Ernaux – Erinnerung eines Mädchens

annie-ernaux-erinnerung-eines-mädchens
Annie Ernaux – Erinnerung eines Mädchens

Annie wächst behütet in der Kleinstadt auf, in ihrer katholischen Schule lernt sie die in den 1950er Jahren wesentlichen Dinge für eine Frau. Im Sommer vor ihrem 18. Geburtstag will sie als Betreuerin in einer Ferienkolonie arbeiten und endlich dazugehören, so den Großen, Erwachsenen, die die Kinder dort betreuen. Mit Jungs hat sie keinerlei Erfahrung, aber das will sie nachholen und die Gelegenheit ergibt sich schneller als gedacht. Doch es ist nicht das, was sie erwartet hat und auch fünfzig Jahre später noch verfolgen sie die Ereignisse dieser Nacht.

Annie Ernaux‘ autobiographisch basiertes Buch ist die Geschichte eines Mädchens im Erwachsenwerden. Auch wenn die Handlung Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre angesiedelt ist, sind die Probleme und Sorgen doch diejenigen, die viele jungen Menschen auch heute kennen. Annie wächst in einem kleinbürgerlichen Haushalt auf, ihre Eltern haben einen kleinen Lebensmittelladen in der Provinz. Dem Mädchen fehlt es an nichts, aber sie hat auch nie Kontakt zu intellektuellen Milieus und kann ihr Interesse an Literatur und Philosophie mit niemandem teilen. In der Schule hat sie beste Noten, aber richtig gefordert wird sie in diesem Umfeld auch nicht.

In der Ferienkolonie trifft sie erstmals auf Jugendliche aus anderen sozialen Schichten, was sie verunsichert. Sie kennt die geheimen Codes nicht, weiß nicht, wie sie sich verhalten soll, welche Meinung sie haben muss, um auch dazuzugehören. Schnell wird sie zum Gespött. Die fehlende sexuelle Erfahrung versucht sie durch Freizügigkeit aufzuholen und versteht dabei nicht, dass dies ebenfalls nicht richtig ist und sie wiederum der Verachtung der anderen aussetzt.

Die angehenden Lehrerinnen sind ihr Vorbild, weshalb sie sich selbst auch für das Lehramtsstudium einschreibt. Annie will sein wie sie, um im nächsten Sommer mithalten zu können, dabei vergisst sie völlig, dass sie weder geeignet noch interessiert ist an diesem Beruf und das Fiasko im Praktikum lässt nicht lange auf sich warten. Auch der Au Pair-Aufenthalt in London erfüllt die Erwartungen nicht: ihr Englisch verbessert sich nicht und ihr Vater wirft ihr letztlich treffend an den Kopf, dass sie eigentlich dort nicht mehr war als ein Dienstmädchen.

Es dauert Jahre, bis sie erkennt, was sie gut kann und was sie im Leben will. Der Weg dahin ist schmerzlich und ihre Entscheidung erfüllt nicht die Erwartungen der Eltern, denen jedoch gefangen in ihrer überschaubaren Welt der notwendige Weitblick fehlt. Annie muss sie freischwimmen, um ihren Horizont zu erkennen und ihre eigenen Ziele zu finden.

Maren Kroymann liest Annie Ernaux‘ Erinnerung mit überzeugend prononcierter Stimme und verleiht sowohl dem Mädchen Annie die notwendige Naivität wie auch der erwachsenen Frau die immer noch schmerzliche Gebrochenheit, die die Geschichte ausmachen.

Davit Gabunia – Farben der Nacht

davit-gabunia-farben-der-nacht
David Gabunia – Farben der Nacht

„An diesem 21. September 2012 hat sich die Welt verändert und wird nie wieder sein wie zuvor. Auf geht’s, an die Arbeit, denkt er.“

 

Vier Wochen zuvor. Surab kann nicht schlafen, zu heiß ist der Sommer in Tiflis, weshalb er und Tina die Kinder auch zur Oma aufs Land geschickt haben. Gegenüber wohnt ein neuer Mieter, ein junger Mann, der nachts regelmäßig Besuch bekommt. Von anderen Jungen. Und Männern. Surab beobachtet sie, beginnt irgendwann Fotos zu machen und auszukundschaften, wer wann kommt und wer diese Männer sind. Tina schläft derweil, zu lange und anstrengend sind ihre Tage im Büro. Und bei der Hitze hat man eh keine Lust auf körperliche Nähe. Je näher Surab den Menschen in der gegenüberliegenden Wohnung kommt, desto weiter entfernen er und Tina sich voneinander. Und dann kommt der 21. September, der alles verändern wird in ihren beiden Leben.

Davit Gabunia gilt derzeit als einer der populärsten georgischen Autoren. „Farben der Nacht“ ist der erste Roman, den man in deutscher Übersetzung von ihm lesen kann. Im Zuge des Gastlandauftritts Georgiens auf der Frankfurter Buchmesse 2018 ist auch er hierzulande bekannt geworden und mit diesem Roman konnte er mich überzeugen.

Man weiß von Beginn an, dass die Geschichte auf einen dramatischen Höhepunkt hinlaufen wird. Zunächst wird die Handlung durch die Großstadthitze und das nächtliche Wachsein bestimmt. Surab hat das Wort, neben der Beschreibung seiner Beobachtungen ist jedoch auch die Introspektion und die Analyse seines Daseins etwas, das ihn beschäftigt. Er hat keine Arbeit, seien Frau muss mit ihrem Bürojob die Familie ernähren und er kümmert sich um die beiden Söhne. Was als Lebensmodell für unzählige Frauen völlig in Ordnung geht, kratzt jedoch an seinem männlichen Ego, dass sein Freund den Haushalt und die Kundenbetreuung nicht als Arbeit anerkennt, macht dies nicht einfacher. Erst durch das Treiben in der fremden Wohnung bekommt er wieder eine Aufgabe und sein Tag eine Struktur – wenn auch eine gänzliche gegensätzliche als die seiner Frau.

Aber auch die anderen Figuren kommen zu Wort: Merab, der nächtliche Besucher, dessen homoerotischen Abenteuer unter keinen Umständen öffentlich werden dürfen. Die alte Nachbarin, die glaubt, dass man ihr übel mitspielt und sie nicht mehr ernst nimmt. Schotiko, der junge Mieter, dem scheinbar gar nicht auffällt, dass er heimlich beobachtet wird. Und Tina, die eine ganz andere Geschichte zu erzählen hat als Surab. Fünf Figuren, die alle ihrem Leben nachgehen und deren Wege sich unbewusst kreuzen. Fünf Figuren, die nach der unheilvollen Nacht nicht mehr in ihr altes Leben zurückkehren können. Der Fokus liegt auf den Menschen, die politischen Umwälzungen in Georgien, die täglichen Demonstrationen in Tiflis kommen nur als Randnotiz vor.

Ein typischer Großstadtroman der modernen Welt. Auf engstem Raum sitzt man zusammen und doch könnte man kaum weiter voneinander entfernt sein. Man teilt unweigerlich das Leben miteinander, aber letztlich ist sich jeder selbst am nächsten.

Ellen Sandberg – Der Verrat

ellen-sandberg-der-verrat
Ellen Sandberg – Der Verrat

Am Zorn festhalten ist wie Gift trinken und erwarten, dass der andere daran stirbt.

Zwanzig Jahre hat Nane im Gefängnis gesessen wegen Mordes. Sie hat ihre Strafe verbüßt, aber ihrer Schwester Pia und deren Mann Thomas scheint das immer noch nicht genug, doch Nane hat Fragen, die sie über all die Jahre beschäftigt haben und diese will sie nun stellen. Als sie zu Thomas‘ und Pias Weingut kommt und ihrem ehemaligen Liebhaber gegenübertritt, erleidet der einen schweren Herzinfarkt und ihre Schwester jagt sie davon. Warum hegt Pia so einen Groll und weshalb will sie das, was in der unsäglichen Nacht geschah, unbedingt für immer totschweigen? Nane riskiert alles, sogar ihre Bewährung, um endlich Gewissheit zu haben, ob sie wirklich eine Mörderin ist, denn ihre Zweifel scheinen berechtigt.

Ellen Sandbergs zweiter Roman ist ein überzeugendes Spiel zwischen starken Figuren. Interessant ist dabei, dass es vor allem die Frauenfiguren sind, die das Spiel gegeneinander austragen und aus völlig verschiedenen Motiven, aber mit allen verfügbaren Mitteln in den Kampf gehen und zum Äußersten bereit sind. Parallel lässt sie die Geschehnisse Ende der 90er Jahre und die aktuellen Ereignisse ablaufen, der Leser muss so die Puzzleteile nach und nach zusammensetzen, um den perfiden Komplott zu durchschauen, der durchaus noch einmal Figuren in einem anderen Licht erscheinen lässt.

Der Roman beginnt mit einem recht gemächlichen Tempo und bietet einiges an Vorlauf, bevor so wirklich Spannung aufkommt. Für das Agieren der Figuren ist dies jedoch wichtig, denn in genau dieser Phase liegt das entscheidende Motiv. Die Handlung ist insgesamt clever aufgebaut und überzeugend konstruiert, mir fehlten jedoch ein wenig die Sympathieträger, mit denen man mitfühlt und für die man sich Gerechtigkeit wünscht. Die Protagonistinnen Pia und Nane ebenso wie Thomas‘ Schwester sind von negativen Emotionen zerfressen, die sie zwanghaft bedienen. Keine kann vergeben, keine kann loslassen und keine gönnt einem anderen Glück. Es gibt diese Menschen, aber es ist erschreckend, wie sehr die drei darin gefangen sind und aus purem Egoismus auch bereitwillig das Leben der anderen zerstören und sogar deren Tod in Kauf nehmen. Die Töchtergeneration ist noch zu naiv und schwach, um diesen Frauen etwas entgegenzusetzen, ihre einzige Handlungsoption ist das Weglaufen.

Insgesamt ein runder und spannungsreicher Roman, der zwar nicht als Psychothriller kategorisiert ist, aber durchaus auch in diesem Genre angesiedelt sein könnte, denn die Handlung lebt von dem Psychospiel der Figuren. Abzug gibt es von mir einzig wegen der wenig überzeugenden erotischen Passagen, die sprachlich wie auch bezogen auf die Handlung etwas gestelzt wirken und bei denen weniger sicher mehr gewesen wäre.

 

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. mehr Informationen zum Titel und der Autorin finden sich auf der Internetseite der Verlagsgruppe Random House. 

Mads Peder Nordbo – The Girl Without Skin

mads-peder-nordbo-the-girl-withoiut-skin
Mads Peder Nordbo – The Girl Without Skin

Journalist Matthew has left his Danish home after with wife and their unborn daughter died in an accident. In Greenland he tries to make a new start. When an old, in ice conserved body is found, he believes to have found the story of his life: a new iceman just like Ötzi might be the scoop of his career. But it soon turns out that the body isn’t several hundred but only forty years old. His first deception leads him to old Greenland murder cases that were never solved. Four men had been killed and sliced open. When he starts to investigate, he doesn’t know what kind of hornets’ nests he is stirring up with his questions.

At first, “The Girl Without Skin” attracted me since the description sounded like a typical Scandinavian thriller set in the Greenland ice. As it turns out, there is much more to it than just brutal murders that need to be unravelled. Apart from the suspense and the clever story about these long time unsolved cases, it gives insight in a hardly known culture and the way the small community works – which is even worse than any of the violent killings.

I liked how the story slowly unfolds, one thing leads to another and you end up somewhere completely other than expected. All steps are well motivated and the highly complex case is solved satisfactorily. There is just one aspect that was a pity a bit: the protagonists, the Danish journalist, and his Greenlandic female helper resembled by far too much Stieg Larsson’s characters. The fearless investigative reporter who is eagerly ready to risk his life for a story and the inscrutable tattooed woman who is said to be a murderer and who easily hacks into official and highly protected computers – we have read that before. However, the parallels did not diminish any of the story’s appeal and suspense.

Michaela Kastel – So dunkel der Wald

michaela-kastel-so-dunkel-der-wald
Michaela Kastel – So dunkel der Wald

Vor Jahren schon wurden sie entführt und leben nun als Kleinfamilie fernab anderer Menschen im Wald. Jeder Fluchtversuch ist sinnlos, Paps würde sie aufhalten und dann droht ihnen das, was so viele andere Mädchen zuvor auch erlebt haben: sie bezahlen mit ihrem Leben für den Ungehorsam. Doch Ronja kann und will nicht mehr, aber Jannik kann sie nicht auf ihre Seite ziehen, obwohl er genauso gelitten hat wie sie. Doch dann ergibt sich die Chance und sie packt die beiden Kleinen ein, irgendjemand wird ihnen helfen. Doch statt der Hilfe erleben sie die Wut des Ersatzvaters, der Ungehorsam als unverzeihliche Sünde erachtet. Es kommt zur Eskalation und nur durch den Tod können sie sich befreien. Doch die Freiheit, die sie sich vorgestellt haben, wartet auch da nicht…

Michaela Kastels Thriller greift den grausamsten Alptraum aller Eltern auf: die Entführung des Kindes, jahrelange Ungewissheit und der schlimmste vorstellbare Missbrauch durch einen Psychopathen, der die Kinder manipuliert und einschüchtert, so dass diese gar nicht mehr an die Welt außerhalb der Kleinfamilie abgeschieden im Wald glauben. Die Autorin spart die furchtbarsten Szenen aus, deren Beschreibung ist auch gar nicht erforderlich, man weiß und kann es sich lebhaft vorstellen, was hinter den verschlossenen Türen geschieht. Das Grausame besteht nicht in den physischen Taten, sondern in dem, was diese mit den Seelen der Kinder machen, wie diese sich entwickeln und was sich nach der vermeintlichen Befreiung von ihrem Täter erst als Folgen offenbart.

Der Thrill ist ohne Frage gegeben, der Roman lebt jedoch nicht wie so oft vom Kampf zwischen Polizei und Täter, auch wenn dieser geschildert wird, sondern davon, wie die Kinder plötzlich selbst drohen Täter zu werden. In Ronja zeigt sich die jahrelange Qual besonders deutlich: sie weiß eigentlich, was richtig und falsch ist, aber das verschobene Weltbild erlaubt ihr und Jannik jedoch nicht, das Richtige zu tun. Zu sehr wurden sie indoktriniert als dass sie an die Menschen jenseits ihrer kleinen verqueren Familie glauben könnten. Zu groß die Angst, selbst als Täter wahrgenommen zu werden, obwohl sie doch Opfer sind. Dass ihre Eltern sie suchen oder gar vermissen könnten, daran glauben die beiden schon lange nicht mehr.

Die größte Überraschung ist ohne Frage, dass der eindeutige Täter schon früh im Roman aus dem Leben scheidet und die unmittelbare Bedrohung eigentlich gebannt zu sein scheint. Doch dann beginnt der tatsächliche Thriller erst. Eine interessante und sicher ungewöhnliche Konstruktion, die „So dunkel der Wald“ klar von anderen Romanen abhebt und mich nicht nur überraschen, sondern vor allem überzeugen konnte.

Yael Inokai – Mahlstrom

yael-inokai-mahlstrom
Yael Inokai – Mahlstrom

Mahlstrom – ein Gezeitenstrom zwischen den Lofoten Inseln, sagenumwoben und seit Menschengedenken angsteinflößend. Im übertragenen Sinne eine Situation großer Verwirrung, voller Gewalt und Zerstörungskraft.

Ein idyllisches Dorf, dorthin zieht es die Eltern von Yann aus der Großstadt. Doch sie bleiben den Einheimischen fremd, Yann findet keinen Anschluss zu den Kindern seiner Schule, nicht zu den Zwillingen Annemarie und Hans, nicht zur Nachbarstochter Nora und schon gar nicht zu den Geschwistern Adam und Barbara. Erst ignorieren sie ihn, dann machen sie sich über ihn lustig, dann überfallen und verletzen sie ihn schwer. Doch das Dorf legt den Mantel des Schweigens über die Tat. Für viele Jahre spricht man nicht darüber. Erst als eine weitere Gewalttat die kleine Gemeinschaft aufschreckt, lösen sich die Zungen und es kommt ans Licht, was in dieser Nacht geschah und wie es damals wirklich war. Barbara muss dafür sterben, sie stürzt sich in den Fluss und befreit die Bewohner damit aus ihrer selbst auferlegten Sprachlosigkeit.

„Im Winter vor elf Jahren hätten wir ihn beinahe getötet.

Wir wollten ihm eine Lektion erteilen.

Wir hatten nicht mit uns selbst gerechnet.“

Yael Inokais zweiter Roman wurde 2018 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet und zeichnet auf ganz eigene Weise das typische Dorfleben nach. Dieses hat wenig von der Idylle, die man in Zeitschriften wie „Landlust“ vorgegaukelt bekommt, es ist nicht das friedliche Leben im Einklang mit der Natur, wo die böse Welt weit weg ist und man die Sorgen verdrängen kann. In Inokais „Mahlstrom“ schwimmen die Menschen um ihr Leben, sie wollen sich aus einer ausweglosen Lage befreien und wissen doch, dass sie nicht herauskommen werden, es sei denn sie stellen sich selbst dem Wasser und setzen dem irdischen Dasein mit eigener Hand ein Ende.

Der kurze Roman zeichnet sich durch seine Unmittelbarkeit, seine Direktheit aus. Die Figuren erhalten im Wechsel das Wort und da sie das Beschönigen, das Vertuschen hinter sich haben, berichten so ohne Umschweife von den Gehässigkeiten und den unterschiedlichen Formen von Gewalt, die sie erlebt haben. Was als etwas harte Erziehungsmethoden beschönigt werden könnte oder auch mal als „so sind Kinder eben“ abgetan wird, erscheint nun als tiefgreifende Verletzung, die Spuren auf den Körpern und Seelen hinterlässt und lebenslange Wunden schafft. Die Reaktion ist vorprogrammiert: erst wendet sie sich gegen die schwächsten Glieder der Gemeinschaft, dann gegen sich selbst.

Das Ganze ist letztlich mehr als die Puzzleteile der unterschiedlichen Erzähler. Es ist auch weit mehr als das kleine abgeschiedene Dorf. Man kann den Roman durchaus sinnbildlich für unsere Zeit lesen, wo das Verschwinden eines Menschen selbst von dessen Familie tagelang unentdeckt bleibt, wo man lieber auf Schwächere eindrischt als sich seinen Unzulänglichkeiten zu stellen, wo Schweigen und Wegschauen akzeptierte Wege zum Umgang mit Problemen sind, in der Hoffnung, dass diese sich schon irgendwie von selbst lösen werden.