Bettina Wilpert – Nichts, was uns passiert

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Bettina Wilpert – Nichts, was uns passiert

Anna weiß noch nicht genau, was sie nach Ende des Studiums anfangen soll, sie bleibt erst einmal in Leipzig und jobbt in einer Kneipe. Da in ihrer Wohnung das Internet nicht funktioniert, geht sie immer noch in die Bibliothek, wo sie über Hannes, einen ehemaligen WG-Mitbewohner und guten Freund, den Doktoranden Jonas kennenlernt. Der hat gerade eine Beziehung hinter sich und da beide nichts Neues suchen, entwickelt sich eine lockere Freundschaft, die auch mal im Bett endet. An Hannes 30. Geburtstag hat Anna einmal mehr zu viel getrunken, weshalb Jonas sie nicht nach Hause bringt, sondern mit zu sich nach Hause nimmt. Als Anna am nächsten Morgen wieder klar denken kann, spürt sie, dass etwas nicht in Ordnung ist. Was ist in der Nacht zuvor passiert? Das war kein einvernehmlicher Sex, den sie hatten, sie war ja gar nicht in der Lage, dem überhaupt zuzustimmen. Aber was war es dann? Anna geht es zunehmend schlechter, aber es dauert Wochen, bis sie aussprechen kann, was ihrer Meinung nach passierte: sie wurde vergewaltigt. Aber das kann doch nicht sein, so etwas passiert ihr doch nicht – und: wie werden ihre Freunde und Familie reagieren?

Bettina Wilpert hat in ihrem kurzen Roman sehr genau auf den Punkt gebracht, was in den Menschen nach einem solchen Vorfall vorgeht. Neben den Emotionen, mit denen Anna aber auch Jonas zu kämpfen haben, ist vor allem auch der Mechanismus im Umfeld der beiden sehr überzeugend geschildert: Unglauben, Parteinahme, übereilter Aktionismus, Unbehagen bei der Thematik und die gesetzliche Maschinerie, die angeworfen wird, nachdem Anna eine Anzeige erstattet.

Man bleibt als Leser hier in keiner Weise unbeteiligt, sondern stellt sich unweigerlich die Frage, wie man selbst damit umgegangen wäre und bemerkt, wie schnell man in die Falle von voreiligen Urteilen tappt. Man schwankt zwischen: „Anna hat auch Schuld, sie hat sich schließlich halb ins Koma gesoffen“ und „egal wie: das ist eine Vergewaltigung und gehört bestraft“. Man hat Mitleid mit den Freunden, die sich genötigt sehen, sich einer Seite zuzuschlagen. Ist Jonas jetzt nur noch der Vergewaltiger – was ist mit all den anderen Aspekten, wegen derer er vorher sympathisch und ein guter Freund war? Alle Erinnerungen erscheinen rückblickend nun in diesem Kontext – aber ist das der richtige Blickwinkel oder könnte man die Dinge auch anders deuten?

Sehr differenziert geht Bettina Wilpert mit Annas Innenleben vor. Sie braucht lange, um die Geschehnisse einzuordnen, ist sich auch zu keinem Zeitpunkt sicher, ob sie es wirklich als „Vergewaltigung“ deklarieren möchte und sie hat eine sehr gute Vorstellung davon, was passieren wird, wenn ihre Anzeige öffentlich wird. Sie will nicht nur „das Opfer“ sein und sie will Jonas auch nicht auf diese Nacht reduzieren – dennoch geht es ihr offenkundig sehr schlecht. Auch Jonas ist nicht eindimensional und streitet alles ab. Er grübelt, überlegt, inwieweit er Mitschuld hat, wann er etwas falsch gemacht hat, kann die Vorwürfe nicht mit seiner Erinnerung in Einklang bringen und eigentlich findet er Anna auch eine attraktive und sympathische Frau.

Alle Widersprüche, die beim Thema sexuelle Gewalt auftauchen, werden in diesem Roman zumindest angerissen. Einer der besten Beiträge zur überhitzten #metoo Debatte.