Eric Sanvoisin – Le Parloir

Yan, gerade erst 18 geworden, sitzt im Gefängnis. Die Anklage lautet auf Mord am Vater seiner Freundin Déborah. Yan schweigt, weder mit seinem Anwalt, jung und hochmotiviert, noch mit seiner Mutter oder seiner Schwester spricht er. Sein Leben wird bestimmt durch die Besucher, die auf ihn einreden, doch er weigert sich beharrlich, etwas zu dem Vorfall zu sagen. Auch nach Angriffen von Mithäftlingen schweigt er weiter. Laure kann nicht glauben, was man ihrem Bruder vorwirft – und am Ende kommt die furchtbare Wahrheit doch ans Licht.

Ein bedrückendes Jugendbuch der besonderen Art. Eine ungewöhnliche Umgebung, auch die Charaktere sind alles andere als gewöhnlich. Man leidet mit Yan, mit seiner Familie und wartet gespannt, ob irgendwann der Knoten platzt und der Junge erzählt, was sich wirklich zugetragen hat. Die Kargheit und Rohheit des Gefängnisses ist bedrückend und lässt den Leser lange nicht mehr los.

Bram Stoker – Das Haus des Richters [Hörspiel]

Malcolm Malcolmson will sich zum Lernen für sein Mathematikexamen zurückziehen. In einem kleinen Dorf findet er eine Unterkunft in einer Pension und schon bald entdeckt er ein leer stehendes Haus, das ihm der Makler sogar kostenlos überlässt. Die Pensionsbesitzerin ist erschüttert, dass der junge Mann in das Haus des Richters ziehen möchte – wie jeder weiß, spukt es dort. Doch Malcolm lässt sich nicht einschüchtern und beginnt mit den Umzugsvorbereitungen. Auch seine Haushaltshilfe warnt ihn und lehnt das Angebot, mit in das Haus einzuziehen, direkt ab. Die erste Nacht beginnt erst spät, denn die Ratten halten Malcolm wach, doch dann fällt er in einen tiefen Schlaf und erwacht erst wieder zur Mittagszeit. In der zweiten Nacht findet er gar keinen Schlaf, besonders eine große, dicke Ratte macht Eindruck auf ihn. Alle anderen Viecher scheinen auch Angst vor ihr zu haben. In der dritten Nacht schließlich kommt es zum Showdown und dem Gruselhaus.

Eine klassische Gruselgeschichte in alter Tradition. Das 19. Jahrhundert ist hier mit seinem Aberglaube, mystischen Auferstehungen und verwunschenen Umgebungen überall spürbar. Unschlagbare Unterhaltung.

Thomas Sailer – Die Aktivistin

Die EU hat beschlossen das Bargeld im Euroraum abzuschaffen. Fortan gibt es nur noch die elektronische Währung. Die Bevölkerung scheint im Dämmerschlaf, doch in Johanna Perls Familie wird deutlich, dass man unmittelbar davon betroffen sein wird. Die Studentin fasst den Mut, sich gegen die große Reform und das Monstrum EU zu stellen und nicht klaglos alles über sich ergehen zu lassen. mit einem kleinen Blog und privaten Gedanken beginnt, was sich bald zu einer multinationalen Widerstandsbewegung auswächst. Immer mehr Befürworter stehen hinter der jungen Frau, doch auch in Brüssel ist man auf sie aufmerksam geworden und not amused. Gegen die Gallionsfigur muss etwas unternommen werden.
Thomas Sailer wagt ein Gedankenexperiment und arbeitet dieses an der Figur der Studentin Johanna ab. Inhaltlich finde ich den Roman mit seinem Ansatz hochinteressant – könnte ein einzelner stark genug sein, Massen zu mobilisieren und eine solche Entscheidung zu verhindern? Leider bleibt er mir dabei oft zu oberflächlich und reißt nur an, ich hätte mir ein tieferes Durchdrungen der Thematik auch fiktiv gewünscht, um die Gefahren einer solchen Idee deutlich zu machen. Auch bleibt mir Johanna zu diffus, oftmals scheint sie den Anschluss an die Entwicklung verpasst zu haben und wirkt geradezu dümmlich, immer wieder muss ihr jemand einfachste Dinge erklären. Eine Aktivistin hätte ich mir hier nicht nur ausnehmend hübsch, sondern auch mit etwas mehr Intelligenz gesegnet und forscher vorgestellt. Auch die anderen Figuren sind nur schablonenhaft gezeichnet ohne wirklich zum Leben erweckt zu werden. Das größte Manko ist für mich der Sprachstil. Der Text holpert vor sich hin, wirkt gestelzt, die Dialoge unglaubwürdig. Möglicherweise liegt das daran, dass der Autor Österreicher ist, aber mir wäre bislang nicht aufgefallen, dass man in unserem Nachbarland eine Gesprächskultur wie der deutschen Vorkriegszeit pflegen würde.

Das Fazit ist schwierig. Die Idee ist die Stärke des Buchs, mich hat interessiert, wie dieser Gedanke fortgeführt wird. Die Umsetzung ist insgesamt für mich jedoch eher mäßig und nur begrenzt überzeugend gelungen. 

Carin Bartosch Edström – Der Klang des Todes

Eine beschauliche Schäreninsel, auf der das klassische Quartett die Aufnahmen beenden möchte. Doch dann ist der Starviolinist Raoul Liebeskind tot und die vier Damen alle mehr als verdächtig. Helena, seine alte Geliebte; deren Halbschwester Caroline, die neueste Flamme des Geigers, die ihm sogar ein Kind schenken wollte; Louise, Besitzerin der Schäreninsel und noch Partnerin von Caroline; Anna, die ebenfalls mit Raoul die Liebe wiederentdeckte. Möglicherweise war es aber auch keine der Damen, denn in der Tatnacht befand sich neben den unverdächtigen Tontechnikern auch noch ein weiterer Mann auf der Insel, der durchaus Motive haben könnte.
Liebe und Tod sind in der Krimiwelt oft miteinander verbändelt, hier finden sie fast zu häufig zueinander. Ein komplexes Gebilde von Beziehungen, Enttäuschen, Hoffnungen und Erwartungen wird aufgebaut, dass letztlich alle Figuren enttäuscht und verärgert zurück lässt. Die Frauen alle mit ihren individuellen Zügen gezeichnet, verbunden durch Raoul und die Musik, bilden den Dreh- und Angelpunkt und lange Zeit herrscht beim Leser Verwirrung und Unklarheit, mit jedem neuen Verhör scheint man der Täterin ein Stück näher und zugleich ein Stück ferner zu sein.

Brigitte Aubert – Die vier Söhne des Doktor March

Jeanie wird trotz krimineller Vergangenheit bei Familie March angestellt. Beim Aufräumen stößt sie auf das Tagebuch eines der vier Söhne – dieser ist offenbar ein Mörder. Nur welcher ist der Übeltäter? Vierlinge, die sich ähnlich sehen, aber im Charakter verschieden sind. Aufgrund der Handschrift kann sie ihn nicht identifizieren, also beschließt sie, die Sache zu beobachten. Doch der Täter ist cleverer als sie glaubt und merkt schon bald, dass sie ihn beobachtet. Er nötigt sie, in seinem Tagebuch zu antworten und so treten beide in Konversation und einen Wettkampf. Kann Jeanie den nächsten Mord verhindern? Kann der Täter auch Jeanie zum Opfer machen?

Ein perfider Thriller, der das Opfer leiden und hoffen lässt und dem Leser auch nichts erspart. Eine interessante Lösung präsentiert Brigitte Aubert, die so nicht vorhersehbar war, aber keiner Plausibilität mangelt. 

Torkil Damhaug – Feuermann

Im April 2003 erschüttert eine Reihe von Bränden Norwegen. Doch der „Feuermann“ ist nicht zu fassen. Den jungen Karsten belastet das wenig, er kämpft mit sich und seinen Mitschülern. Zaghaft schließt er erste Bande mit Jasmeen, wobei er unterschätzt, wie eine pakistanische Familie zu so einer Verbindung stehen wird. Auch macht er sich Sorge um seine kleine Schwester Synne. Schnell gerät Karsten in Gefahr und die Familie Jasmeens verfolgt ihn. Einzig der Referendar Adrian hält zu ihm und verspricht Hilfe. Doch dann verschwindet Karsten spurlos. Acht Jahre später macht sich seine Schwester auf, die Umstände von damals zu klären.

Die zwei Zeitebenen wären besser zu zwei Büchern geworden, zu unterschiedlich sind sie in der Gestaltung und im Fokus. Abgesehen davon fand ich die Figurenzeichnung und –entwicklung sehr gelungen. Auch die Spannung kam nicht zu kurz und mehr als einmal wurde man als Leser nicht nur in die Irre geführt, sondern auch die Nerven bis zum Zerreißen angespannt. Insgesamt überzeugende Unterhaltung.

Prosper Mérimée – Carmen

In Andalusien trifft der Erzähler auf einen Unbekannten, der sich als gesuchter Ganove herausstellt. Zwar kann er ihm noch zur Flucht verhelfen, doch einige Zeit später trifft er ihn in Haft wieder und erfährt dort von ihm seine Lebensgeschichte. Als aufstrebender Offizier trifft er auf die Romni Carmen, die ihn zugleich verzaubert und der er zur Flucht bei der Verhaftung verhilft. Von da an geht sein Leben stetig bergab. Jede Begegnung mit Carmen, der er restlos verfallen ist, führt ihn weiter ins Verderben. Erst verdingt er sich als Schmuggler, doch bald schon wird er morden – und Carmen wird ebenfalls mit dem Leben bezahlen.

Die Geschichte ist in Opernform weithin bekannt, eine klassisch tragische Liebesgeschichte. Interessant waren für mich vor allem Mérimées Überlegungen und Beobachtungen im letzten Kapitel zu den Roma bzw. führt alle zur damaligen Zeit gebräuchlichen Bezeichnungen für die Obergruppe der „Zigeuner“ auf. Aus heutiger Sicht mit gedrilltem politisch korrektem Sprech eher verwunderlich, aber in der Detailbeobachtung durchaus interessant, gerade der Vergleich zwischen Deutschland und Spanien. 

Joris-Karl Huysmans – Monsieur Bougran in Pension

M. Bougran ist ein vorbildlicher Beamter, vor kurzen erst wurde er ausgezeichnet. Doch er muss Platz machen für einen Günstling und so wird er kurzerhand in Pension geschickt. Alle beteuern ihm, wie toll es ist, jetzt so viel Zeit und Freiheit zu haben, doch schon nach wenigen Tagen im Park überfällt ihn eine unsägliche Langweile. Nach einem Besuch im Büro erfasst in Tatendrang und er richtet sich zu Hause ein Büro ein, wo er mit festen Arbeitszeiten selbst gestellte Aufgaben bewältigt. Doch der Austausch fehlt, also wird sein ehemaliger Laufbursche Huriot bei ihm privat eingestellt. Er kennt die Vorgaben genau und weiß, wie wichtig Sorgfalt ist – und so arbeitet er sich schließlich zu Tode.

Huysmans greift in seinem Text aus dem Jahre 1888 Kafka vor, denn seine Figur des M. Bougran ist gefangen im Bürokratenjargon und kann gar nicht anders, als bis an sein Ende der vorgegebenen Taktung folgen. Seine eigene Erschöpfung verarbeitet er hier in der Figur des Bougran. Interessant ist die Grundfrage des Textes auch heute noch: wie sehr definieren wir uns über unsere Arbeit und was bedeutet es, wenn wir dort keine Anerkennung mehr finden?

Massimo Carlotto – Die dunkle Unermesslichkeit des Todes

Silvio Contin muss den vermutlich schlimmsten Schicksalsschlag überhaupt hinnehmen: bei einem Überfall werden seine Frau und sein 8-jähriger Sohn ermordet. Doch nur einer der Verbrecher kommt hinter Gitter, der andere, der mutmaßliche Schütze bleibt in Freiheit und Raffaello Beggiato schützt seinen Komplizen, denn der hat das Geld. Nach fünfzehn Jahren Haft ist Beggiato jedoch am Ende, unheilbarer Krebs zeichnet seine letzten Tage. Durch Begnadigung könnte er freikommen, doch dafür braucht er Contins Unterschrift. Dieser will den Mord an seiner Familie rächen und sieht seine Chance auf Rache gekommen.

Ein typischer Carlotto, der in die Abgründe der menschlichen Seele steigt und Gefühle unermesslicher Intensität hervorholt. Sein Protagonist wandelt sich vom Opfer, dem man das Leben zerstört hat, zum Racheengel, der das vollendet, wozu die Polizei nicht imstande war. Kein Krimi, bei dem man den Täter sucht, denn die sind alle bekannt. Die Frage bleibt nur: wer ist am Ende härter und grausamer als die anderen. Und der Leser muss sich fragen, ob aus Opfern auch Täter werden und ob Täter nicht auch Opfer sein können.

Anne-Laure Bondoux – Le temps des miracles

Das Leben im Kaukasus der Nachsowjetzeit ist alles andere als einfach, das lernt auch der kleine Koumaïl schon früh. Mit seiner Adoptivmutter Gloria ist er auch der Flucht vor Krieg und Vertreibung in Richtung Frankreich, dem Land der Menschenrechte, wo Egalité, Fraternité und Liberté noch gelebt werden. In seinem grünen Atlas hat er sich das Land seiner Träume bereits angesehen. Aber es gibt noch einen Grund für dieses Ziel: er selbst ist Franzose und heißt eigentlich Blaise Fortune. Seine Mutter kam bei einem schweren Zugunglück ums Leben und Gloria hat sich seiner angenommen. Allabendlich erzählt sie ihm seine Lebensgeschichte und schenkt ihm Hoffnung, seine Mutter und sein Geburtsland eines Tages zu sehen. Die Reise ist gefährlich. Schlepper müssen bezahlt werden, das tägliche Überleben ist ein Kampf, mühsam verdienen sie sich das Essensgeld und der Krieg rückt stetig näher. Doch schließlich sitzen sie in einem Transporter, der sie das entscheidende Stück mitnehmen wird. Kurz hinter der deutsch-französischen Grenze jedoch wird Koumaïl von der Polizei aufgegriffen und Gloria ist verschwunden. Erst Jahre später wird er seine wahre Lebensgeschichte erfahren.

Ein Jugendbuch, das von einem ganz anderen Leben erzählt, als man es in Westeuropa kennt. Ohne wirklich Gräuel darzustellen ist der harte Kampf ums schiere Überleben jedoch präsent und kommt eindrücklich beim Leser an. Nichtsdestotrotz gibt die Figur der Gloria Hoffnung – immer wieder tröstet und ermutigt sie den Jungen, nach vorne zu blicken und auf die Zukunft zu schauen, die besser sein wird. Das Ende, das wie ein Schock auf ihn wirkt, geht auch am Leser nicht spurlos vorbei. Man kann sich die Not der Menschen vorstellen und auch wozu sie bereit sind, um den Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.