Nora Seeds Leben hätte wahrlich besser verlaufen können, mit 34 ist sie einsam und hat auch noch ihren Job verloren. Eines Abends klingelt es an ihrer Tür, ihre Katze Voltaire wurde überfahren. Wozu nun noch weiterleben? Sie beschließt dem Drama ein Ende zu setzen und findet sich plötzlich in einer Bibliothek wieder, in der die Uhr immer Mitternacht zeigt. Erwartet wird sie dort von Mrs Elm, ihrer ehemaligen Schulbibliothekarin, die erklärt, dass jedes Buch ein anderes mögliches Leben Noras erzählt. Jede Entscheidung führt zu einem anderen Verlauf. Nora befindet sich gerade in der Zwischenwelt und kann ausprobieren, wie ihr Leben ausgesehen hätte, wenn sie einen anderen Weg genommen hätte. Plötzlich können die Träume der ehemaligen Schwimmerin und Sängerin doch noch wahr werden.
Matt Haigs „The Midnight Library“ ist ein fantastisches Buch, das aktuell genau jene Flucht vor der Realität erlaubt, die man 2020 verzweifelt sucht. Es ist eine Reise in unterschiedliche Leben, die sich Nora als Kind und Jugendliche erträumte und die nun Realität werden könnten. Ganz unterschiedliche Verläufe darf sie ausprobieren, mal erfolgreiche Musikerin, mal Gletscherforscherin mit lebensbedrohlichem Eisbärenkontakt, mal Mutter – doch jedes Leben hat auch seine Schattenseiten wie sie feststellen muss. Jeder erfüllte Wunsch hat seinen Preis und bald schon merkt sie, dass keines der Leben perfekt ist. Vielleicht kommt eines jedoch dieser Vorstellung recht nahe – vielleicht möchte Nora doch nicht sterben, sondern nur nicht mehr so weiterleben wie bisher. Aber einfach so in ihr altes Leben, dem sie gerade einen Endpunkt verpasst hatte, kann sie nicht.
So reizvoll das Szenario ist, es zeigt Nora doch auch, worauf es im Leben letztlich ankommt und was vielleicht doch gar nicht so wichtig ist. Vor allem nicht so entscheidend, einen Selbstmord zu begehen. Mal heiter-lustig, mal eher nachdenklich gestaltet Haig seine Geschichte und lädt den Leser dazu ein, ebenso wie Nora über verpasste Chancen, aber auch das, was gut gelaufen ist, nachzudenken.
Norah erinnert sich an ihre Mutter Katherine O’Dell, eine legendäre, jedoch inzwischen verstorbene Schauspielerin. Sie zeichnet das Leben des jungen Mädchens aus Irland nach, das es an die Londoner Theater und bis nach Hollywood schaffte, den größten Ruhm jedoch durch den Mordanschlag auf den Produzenten Boyd O‘Neill erlangte. Katherine lebte für die Bühne und den schönen Schein, das reale Leben spielte bei ihr immer nur die zweite Rolle, wie auch ihre Tochter, der sie nie verriet, wer ihr Vater war und die in jungen Jahren bei ihren Männerbekanntschaften sich auch des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass diese mehr Interesse an der schillernden Mutter als an der blassen Tochter hatten. Ein Leben wie im Rausch, das ein tragisches Ende nahm. Doch wie konnte es so weit kommen?
Die Autorin selbst hat das Hörbuch eingesprochen, was oft ein Wagnis ist, aber Anne Enright hat eine wundervolle Stimme, der man gerne folgt und die hervorragend zu Norah passt. Mal verbittert, mal traurig, oft bewundernd aber letztlich überwiegend mit dem Gefühl, dem Menschen, der ihr am nächsten Stand nicht wirklich nahegekommen zu sein.
Katherine war eine öffentliche Figur, die die Rollen, in die sie beruflich schlüpfte, perfekt umsetzte. Aber auch in ihrem Privatleben hatte sie unzählige Gesichter und wechselte zwischen den Rollen, die sie selbst erschaffen hatte. Ein Leben als Performance, was unweigerlich eine Distanz zur Tochter schaffte, dieser aber in dem fiktiven Rückblick auch erlaubt einen neutralen und nicht durch Emotionen vorgezeichneten Blick auf das Leben der Mutter zu werfen. Als Schriftstellerin ist sie auch prädestiniert, die unzähligen Facetten angemessen wiederzugeben. Gleichzeitig wird die Biografie aber auch zu einer Analyse der Mutter-Tochter-Beziehung, die quasi auf den Kopf gestellt ist: die Tochter ist die realistische, nachdenkliche, die nicht spontan agiert und sich permanent um die Mutter sorgt.
Anne Enright ist eine klassische Erzählerin, die eine durchdacht konstruierte Geschichte erschaffen hat, die insbesondere als Hörbuch neben den Worten auch ganz viel von dem transportiert, was in den Figuren vor sich geht.
Und plötzlich ist nicht nur der Körper gelähmt, sondern auch die Stimme ist weg. Er kann die Worte nicht mehr sagen, die doch sein Leben bedeuten. Der Engländer Simon Leyland kommt in Triest in die Klinik, doch die Hoffnung, dass der Anfall nur eine Migraine accompagnée sei, wird durch den untrüglichen Blick des Arztes zunichtegemacht. Da ist etwas in seinem Kopf, dass da nicht hingehört und mehr als ein paar Monate werden dem Verleger und Übersetzer nicht mehr bleiben. Er erinnert sich zurück an die Zeit mit seiner Frau Livia, als sie mit den Kindern in London wohnten, dann nach dem Tod von Livias Vater und der Übernahme seines Verlages nach Triest kamen, einer seiner Sehnsuchtsstädte, denn als Junge schon stand Simon vor einer Karte und beschloss, alle Sprachen zu lernen, die rund um das Mittelmeer gesprochen werden und nun sollte er direkt an dieses ziehen. Mit der Diagnose jedoch geht das Leben, wie er es kannte zu Ende. Womöglich jedoch ist da aber noch ein Fünkchen Hoffnung darauf, dass er eine Chance auf ein zweites bekommt und jemand zu ihm sagt „Welcome home, Sir!“.
Pascal Mercier, schriftstellerisches Pseudonym des Schweizer Philosophen Peter Bieri, ist ein Virtuose im Umgang mit Worten. Sein aktueller Roman ist eine Hommage an alle Liebhaber der Literatur und Linguistik, denn im Zentrum der Gedanken seines Protagonisten stehen die Worte mit ihren Bedeutungen, Konnotationen und den Emotionen, die sie auslösen, sowie die Frage, ob man den Gedanken einer Sprache adäquat auch in einer anderen wiedergeben kann und wo sich letztlich die Grenze der Sprache befindet. Es ist eine Reise durch die Literatur und die Sprachen des Mittelmeerraums, die eingebunden ist in eine Handlung voller Schmerz, Trauer und Hoffnung gleichermaßen.
Man kann den Inhalt kaum angemessen zusammenfassen, einerseits ob der Fülle der Gedankengänge, die sich um die perfekte Übersetzung und den vollkommenen Ausdruck drehen, andererseits ohne einen wesentlichen Aspekt der Handlung vorwegzunehmen, der für Leyland essentiell werden wird. Es gibt ein Vorher, vor dem Anfall, als sein Leben geprägt ist durch Jagd nach Worten und von Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen, denen allerlei fremde Worte eigen sind und die sie mit ihm teilen. Es gibt aber auch ein Danach, als plötzlich die Menschen viel mehr in seinen Blick geraten und aller Fatalität zum Trotz immer ein Neubeginn möglich scheint.
Den knapp 600 Seiten langen Roman liest Markus Hoffmann in über 22 Stunden mit einer leisen und prononcierten Stimme, die hervorragend als Erzählstimme von Simon Leyland gewählt ist. So gerne man ihm zuhört, liegen hier aber für mich auch die einzigen beiden Kritikpunkte: ich hätte mir gewünscht, dass seine fremdsprachigen Einwürfe ebenso flüssig klingen wie die deutsche Stimme, aber leider wirken sein Englisch wie auch sein Italienisch oder das portugiesische Vorwort sehr angestrengt und bemüht. So sehr mich der Roman begeisterte und ich den mäandernden Überlegungen Leylands folgte, so ist das Hörbuch doch etwas zu lange und irgendwann wünscht man sich doch ein etwas zielgerichteteres Erzählen ohne die zahlreichen Wiederholungen bereits geschilderter Episoden.
Ein Krimi-Hörbuch aus dem Genre „Mit Recherche und Realismus hab ich’s nicht so, aber meine Porno- und Fetischphantasien würde ich schon gerne als Krimi präsentieren“. Eigentlich ist das scheußliche Cover schon recht wegweisend und sollte einem vom Hören abhalten. Aber zum Inhalt: Einer jungen Studentin werden brutal die Zehen abgehackt und sie findet einen grausamen Tod durch Ausbluten. Der zuständige Hauptkommissar Krüger kümmert sich nen feuchten Kehricht um den Fall und schickt stattdessen seine attraktive Marie Liebsam allein zu ihrem ersten Fall. Sie macht dann auch etwas, was man großzügig ermitteln nennen könnte, bevor sie erwartungsgemäß selbst in die Fänge des Bösen Mörders gerät.
Wer hinter dem Autorennamen „Carlton Roster“ steckt ist schwer herauszufinden, viel mehr als das „Blutboden“ sein Erstlingswerk und Auftakt einer Reihe ist, konnte ich nicht herausfinden. Es besteht keine Gefahr, dass ich an weitere Bücher oder Hörbücher des Schreibers gerate, zu sehr hat sich mir das Hörerlebnis in die Erinnerung eingebrannt. Gleich auf mehreren Ebenen kann man das Werk als geradezu bahnbrechend beschreibend. Himmelschreiend würde es aber auch ganz gut treffen.
Der Fall beginnt tatsächlich blutrünstig und spannend, man gerät direkt in die Mordszene und die Neugier ist geweckt. Interessant: es werden bei der Leiche nur neun Zehen gefunden, was die Ermittler messerscharf zur Erkenntnis führen: das muss der Beginn einer Mordserie sein oder das Opfer hatte nur neun Zehen. Joa, beides die unmittelbar logischen Schlüsse. Der Täter versteht etwas von seinem Handwerk, weshalb zunächst das Umfeld des Opfers beleuchtet wird und da ist es naheliegend, in eine große Erstsemester BWL Vorlesung mit mehreren Hundert Zuhörern zu gehen und allen zu erzählen, dass sie ermordet und wurde und jetzt um qualifizierte Beiträge zu bitten. Einzig suspekt ist jedoch der Dozent, der aber gegenüber der Polizei nicht zugeben wird, dass er diese Studentin tatsächlich näher kennt. Also ziemlich nah, denn er hat in seinem Auto mit ihr geschlafen. Lange Rede: es wird dann noch eine falsche Spur gefunden, der man nachgeht und die sogar zu einer Verhaftung führt. Jetzt ein bisschen CSI: die DNA Daten entlasten den Verdächtigen, das Ergebnis ist positiv wie der Polizist mitteilt. Also negativ, aber positiv für den Mann in Gewahrsam.
Das absolute Highlight ist aber Marie Liebsam. Sie trägt im Dienst Minikleidchen, bei dem man den Zwickel der Strumpfhose sehen kann. Das erfährt man nicht einmal, nicht zweimal, sondern jedes Mal, wenn sie ihren Auftritt hat. Sie ist die Protagonistin, das kommt also dauernd. Nicht mit Charme, sondern ganz profan nackten Tatsachen becirct sie ihre Zeugen und Verdächtigen. Dies tut sie vorwiegend allein. Wozu auch noch einen Kollegen mitnehmen, kann die junge Polizistin in ihrem ersten Fall ganz allein, bringt sie zwar mehrfach in brutal gefährliche Lagen, aber mit Realismus war’s bei der Story ja eh nicht so. Ach ja, sie zeigt ihren messerscharfen Verstand – der offenbar gelegentlich auch schwere Aussetzer hat – und beeindruckt damit die männlichen Kollegen. Da man an der Haustür des Opfers keine Einbruchsspuren findet, erklärt sie dies mit folgender beeindruckender Überlegung: die junge Frau hat bestimmt immer die Tür offenstehen lassen. Sicher, liegt nahe bei einer jungen Frau, die frisch aus der Provinz in die Großstadt gezogen ist.
Nochmal zurück zu den Zehen, von denen ja eine fehlte. Das schien irgendwie wichtig zu sein. Wurde dann aber leider vergessen zu erklären. Ebenso woher jemand was von dem Bargeldversteck unter der Badewanne wissen konnte. Dass eine Studentin mehrere tausend Euro in ihrer Wohnung aufbewahrt, ist ja jetzt auch nicht unbedingt der Normalfall. Achtung Spoiler! sollte jemand trotz der klaren Warnung doch noch Interesse an dieser Geschichte haben, nicht weiterlesen! Dem echten Täter kommen sie dann nicht wegen Kommissar Zufall auf die Spur, sondern dieser kehrt einfach in die Wohnung des Opfers zurück, wo er – hier dann doch Kommissar Zufall – auf Marie trifft. Warum er dort ist, bleibt völlig unklar. Was er mit der Nachbarin zu tun hat, ebenso. Und außerdem wird der Fall am Ende sowieso nicht geklärt.
Fazit: beeindruckend, wie viele frauenverachtende männliche Figuren man in einer so kurzen Geschichte unterbringen kann. Auch die Dreistigkeit, mit der eine Pornodarstellerin als verantwortliche Kommissarin getarnt ermitteln darf, ist durchaus beachtenswert. Ebenfalls gelernt: alle jungen Frauen haben offenbar einen Schuhfetisch und sind sowieso nymphoman veranlagt. Aber auch alles andere ist so schräg und realitätsfern – unbedingt noch zu erwähnen: der Pathologe, der während der Obduktion das Handy greift, mit den Handschuhen, mit denen er gerade an der Leiche war, aber die zieht er dann eh aus, um mit bloßen Händen weiter zu untersuchen – dass man vor lauter Fassungslosigkeit den Ausschaltknopf nicht findet.
S.J. Watson – Before I Go to Sleep [dt. Ich.Darf.Nicht.Schlafen]
Als Christine morgens wach wird, kommt ihr das Schlafzimmer fremd vor, ebenso der Mann, mit dem sie offenkundig die Nacht verbracht hat. Scheinbar hatte sie am Abend zuvor ordentlich gefeiert, so dass sie keinerlei Erinnerung mehr hat. Im Badezimmer erschrickt sie: wer ist die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickt? Sie ist mindestens zwanzig Jahre älter als sie selbst! Jeden Morgen wiederholt sich dasselbe Spiel: seit einem Autounfall leidet sie an Amnesie und kann sich an nichts mehr erinnern. Ihr Ehemann Ben hat das Haus sorgfältig präpariert, damit sie die wichtigsten Eckdaten schnell erkennt. Nachdem Ben zur Arbeit aufgebrochen ist, befindet sich Christine alleine in dem fremden Haus. Ein Telefonanruf verunsichert sie, ein Arzt will sich mit ihr treffen und weist auf ein Tagebuch hin, in dem sie seit Wochen Dinge notiert, die sie in minutiöser Arbeit rekonstruiert haben. Christine beginnt in ihrem eigenen Leben zu lesen und je weiter sie voranschreitet, desto seltsamer und beunruhigender werden die Erkenntnisse. Irgendwie wollen die Puzzlestücke nicht zusammenpassen und bald schon weiß sie nicht mehr, ob sie irgendwem überhaupt vertrauen kann.
S.J. Watsons Debutroman „Before I Go to Sleep“ war ein ungewöhnlicher Erfolg für ein Erstlingswerk, geschrieben hat es der Autor in seinen Pausen als Hörakustiker. Der Psychothriller wurde 2011/2012 mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und 2014 folgte die hochkarätig besetzte Verfilmung, die jedoch in keiner Weise an den Erfolg des Buches anknüpfen konnte.
Zu Beginn weist wenig daraufhin, dass es sich um einen Thriller handelt. Man bedauert Christine um ihre leidliche Situation und gemeinsam mit der Protagonistin versucht man Sinn in das Chaos, das sie umgibt, zu bringen. Es ist leicht, sich in sie hineinzuversetzen, da der Wissensstand zwischen ihr und dem Hörer/Leser identisch ist. Die Begegnung mit Dr. Nasch wirft weitaus mehr Fragen auf als sie beantwortet. Warum verheimlicht sie ihrem Mann die Treffen und was hat sie in den letzten Wochen bereits an Erinnerungen rekonstruieren können? Vor allem jedoch: weshalb hat sie als Notiz an sich selbst „Do not trust Ben“ in ihr Tagebuch geschrieben? Christines heimliches Treffen mit ihrer ehemaligen besten Freundin Claire befördert noch mehr Ungereimtheiten zu Tage und spätestens jetzt lässt sich der Psychothriller nicht mehr aufhalten und fährt sie ganzes Potenzial aus.
Die Handlung lebt von der Konstruktion rund um Christines Amnesie. Immer mehr Fakten trägt sie zusammen, die erst nach und nach einen Sinn ergeben und mit Zunahme des Wissens steigt jedoch nicht nur die Gewissheit über das eigene Leben, sondern vor allem die Angst vor der Gefahr, in der Christine schwebt, die immer deutlicher wird. Zielstrebig bewegt sich das Buch auf den dramatischen Höhepunkt zu, der dann auch die letzten Lücken schließt und so alle Fragen restlos beantwortet. Ein Psychothriller, der seinen Namen wirklich verdient hat und mich restlos begeistert – so sehr, dass das Finale mein Sportprogramm, bei dem ich das Hörbuch hörte, deutlich ausdehnte, um endlich zu erfahren, wie alles zusammenhängt.
Die Frage danach, wo man herkommt, scheint so einfach und ist doch so kompliziert. Wenn Saša Stanišić gefragt wird, muss er zunächst zurückfrage: wie, jetzt gerade? Oder wo ich wohne? Oder das Land, in dem ich geboren bin, und das es gar nicht mehr gibt? Oder die ethnische Zugehörigkeit seiner Eltern? Er beleuchtet dieses komplizierte Thema anhand seiner eigene Biografie. Geboren als Sohn einer Bosniakin und eines Serben in einer jugoslawischen Kleinstadt, ist es in der Kindheit relativ egal, wer was ist, es sind eh alle für Roter Stern Belgrad, die Mannschaft, die 1991 den Europapokal gewinnt, bevor das Land auseinanderbricht und Jahrzehnte im fußballerischen Nirgendwo versinkt. Der Krieg kommt näher und die Familie flüchtet nach Deutschland, wo im Kreis zahlreicher anderer Flüchtlinge die Herkunft wieder egal ist, alle sitzen letztlich im gleichen Boot. Und heute? Die Mutter in Kroatien, wo sie als Nicht-EU Bürgerin nicht dauerhaft wohnen darf, die Großmutter dement und damit gänzlich ohne Herkunft und der Rest der Familie in alle Himmelsrichtungen verstreut. Was gibt man da an die Kinder weiter?
Der Autor selbst liest sein Buch, was der Geschichte durch den merklichen Akzent eine noch eindringlichere Wirkung verleiht. Thematisch könnte Stanišić kaum mehr den aktuellen Zeitgeist treffen, auch wenn seine Einwanderungsgeschichte unter gänzlich anderen Voraussetzungen stattgefunden hat als die derjenigen, die seit 2015 angekommen sind. Ohne Frage gilt der vielfach ausgezeichnete Autor als perfekt integriert und Musterschüler. Gut, dass er den Finger auch in die Wunde legt, denn er hat eine Chance bekommen, hätte seine Familie 15 Jahre später versucht zu flüchten, wären sie vermutlich von einem ungarischen Zaun gestoppt worden.
Was mich besonders begeistern konnte war die gelungene Verbindung von persönlicher Geschichte und großen politischen Linien. Der Autor selbst erlebt die Flucht und Ankunft in der neuen Welt als Jugendlicher. Schnell findet er Anschluss, denn er ist nicht alleine, aus aller Herren Länder sitzen Mitschüler in seinem Vorbereitungskurs und schnell freundet man sich an und arrangiert sich mit der Situation. Eine gewisse Normalität kann er sich so schnell aufbauen, seine Eltern hingegen müssen einfache Arbeiterjobs annehmen, die ihren akademischen Qualifikationen in keiner Weise gerecht werden, bis sie schließlich nur wenige Jahre später ohnehin wieder rausgeworfen werden.
Bei einer Reise mit seiner Großmutter nach Višegrad viele Jahre später sucht er nicht nur nach Wurzeln, sondern stellt auch fest, wie sich Menschen immer wieder anpassen. Den Zweiten Weltkrieg mit dem Einmarsch der Deutschen, die sich dann letztlich doch auch nur als Menschen herausstellten und sich mit der lokalen Bevölkerung arrangierten, haben die Alten genauso ausgehalten wie den angeordneten Vielvölkerstaat und dessen brutalen Zerfall.
Anekdoten reihen sich aneinander, von kindlicher Unbedarftheit bis zu unschönen Wahrheiten. Er trifft auf Deutsche, die aus Schlesien stammen und ebenso mit scheinbar willkürlichen Grenzen und Definitionen leben müssen wie er und muss als Jugendlicher mit überschaubarem Wortschatz Wörter wie Brandanschlag, Ausländerhass und Molotow-Cocktail lernen, weil überall im Land gerade Neonazi Flüchtlingsunterkünfte anzünden.
Er findet keine Antwort auf die Eingangsfrage, außer vielleicht, dass diese Frage nur gestellt wird vor dem Hintergrund eines sehr begrenzten Weltbildes, das aus Schubladen besteht, deren Sortierordnung nicht nur überholt, sondern weltfremd, unnütz und rassistisch ist.
Zufällig trifft Vincent beim Joggen seine alte Schulfreundin Bianca beim Joggen wieder. Spontan lädt sie ihn zu ihrer Geburtstagsfeier ein, wo er weitere alte Freunde trifft: neben Bianca und ihrem Mann Boris sind noch Sandra und Gatte Markus, sowie Katharina, Boris jüngere Schwester, mit dabei. Der Abend ist ausgelassen bis eine Kellnerin plötzlich verschreckt das Essen fallen lässt und aus dem Restaurant stürmt, nachdem sie die Gruppe gesehen hat. Sie lassen sich davon jedoch nur kurz irritieren und freuen sich schon auf das lange geplante gemeinsame Wochenende auf der Insel, wo sie ihre Schulzeit verbracht haben. Vincent hat den Ort seit 15 Jahren gemieden, doch jetzt scheint der Zeitpunkt der Rückkehr gekommen. Und der Abrechnung, denn er hat just mit dieser Gruppe noch etwas offen, das jetzt beglichen werden soll.
Melanie Raabe hat sich für ihren aktuellen Thriller ein neues Format ausgesucht, im Hörverlag ist die Geschichte als Serial in zehn Episoden veröffentlicht worden. Inzwischen steht aber der komplette Text zum Download und Anhören zur Verfügung. Als Freund von bislang weitgehend amerikanischen Serials, die ja seit einiger Zeit auch auf dem deutschen Markt mehr und mehr verfügbar sind, war ich natürlich neugierig, noch dazu wo mich Melanie Raabes Bücher „Der Schatten“ und „Die Wahrheit“ angesprochen hatten.
Insgesamt würde ich sagen ein guter Krimi nach bewährtem Muster. Ein abgeschiedener Ort, vermeintlich auch ohne Handys oder andere funktionierende Kommunikationsmöglichkeit, eine Gruppe von alten Freunden mit Geheimnissen, die es zu entlarven gilt, und ein kurzes Wochenende, das zu schnellem Handeln zwingt, dazu noch eine unheimliche Besucherin, die nicht spricht und entsprechend undurchschaubar in ihren Absichten bleibt. Zwar ist man recht schnell als Zuhörer auf der richtigen Fährte, nichtsdestotrotz fand ich die Story unterhaltsam und auch spannend gestaltet. Auch wenn ich viele Hörbücher konsumiere hatte ich doch etwas Schwierigkeiten manche der Figuren auseinanderzuhalten, dafür fehlten den beiden Ehepaare einfach zu lange das eindeutige Profil, was aber letztlich nicht weiter dramatisch war. Für mich ein gelungener Ansatz und die Hoffnung, dass noch mehr in dieser Richtung produziert wird.
Aus der Reihe: so viel Unfug in nur einer Geschichte… Im Hamburger Stadtpark wird die Leiche der jungen Julia Sander gefunden. Für den leitenden Ermittler ist klar: ein Serienmörder treibt sein Unwesen, für Oberkommissarin Heike Stein jedoch liegt der Schlüssel zum Mörder bei der Getöteten. Zusammen mit Kollege Ben Walken wird ihr der Fall übertragen, doch schnell schon legt sich die Polizistin mit mächtigen Männern an und wird zurückgepfiffen. Weitere Schüsse fallen, die Opfer sind jedoch lediglich verletzt, nach dem präzisen Schuss auf Julia Sander eher untypisch für einen Profi. Eifrig ermittelt Heike Stein weiter, auch gegen ihre Vorgesetzten.
Das Hörbuch besticht gleich durch mehrere Auffälligkeiten: Inkompetenz und Sinnfreiheit bei den Ermittlern, eine nicht nur unsympathische, sondern auch hochgradig dümmlich-naive Protagonistin, völlig überflüssiges Liebesgedöns (dem es auch noch an Glaubwürdigkeit fehlt) und ein Fall, der gar nicht gelöst wird, sondern sich selbst einfach auflöst. Man ist gefesselt von so viel Nonsens und wartet gebannt auf den nächsten Ausreißer.
Unangefochtenes Highlight sind die kriminalistischen Methoden der Sonderkommission Mord. Eine einzige Tote führt sofort zur These des Serienmörders. Das Ermittlungsteam ist bevorzugt im Alleingang unterwegs und statt sich mit den naheliegenden Aspekten – dem Umfeld der Toten und vor allem ihrer Wohnung – zu beschäftigen, werden erst einmal die abwegigen Spuren verfolgt. Zeugen werden alle Erkenntnisse in den Mund gelegt, manchen stellt man sich auch gleich mehrfach vor (offenbar nimmt man an, dass alle Menschen so doof sind, wie die beiden Kommissare) und nachdem man den Hauptschuldigen endlich auf dem Tablett serviert bekommt, geht man erst einmal gemütlich essen, es besteht sicherlich kein Grund zur Eile.
Heike Stein ist interessant gezeichnet, besonders hat mir ihr Geläster über das in Bezug auf Männer angeblich wenig wählerische Opfer gefallen, bevor sie gleich mit dem nächstbesten Unbekannten in die Kiste steigt. Sie hat den Intellekt einer altklugen 9-Jährigen und geht einem damit gehörig auf die Nerven. Nicht dass ihr Kollege besser wäre, der so überzeichnet als gutmütiger Vorstadt-Papa daherkommt, dass man seine Reduktion auf die Funktion als Chauffeur für Heike Stein dankbar hinnimmt, um nicht noch mehr von seinen Sorgen um seine Rasenkanten zu hören.
Die Gefahr, dass Spannung aufkommen könnte, besteht zu keinem Zeitpunkt. Als Leser weiß man ohnehin früh, wie sich alles zugetragen hat und der Autor macht sich gar nicht erst die Mühe, eine komplizierte Auflösung zu konstruieren. Nein, der Täter läuft der Polizei zufällig in die Arme, wie praktisch! Fall gelöst, alles super.
Erschreckenderweise scheint es von dieser Serie noch über weitere 20 Fälle zu geben, die müssen jedoch ohne mich gelöst werden.
Charlotte meldet sich nicht mehr. Klar, sie ist nun Studentin und hat in Berlin ihr eigenes Leben, doch nach einigen Tagen wird ihre Mutter Heidi unruhig. Sie fragt bei ihrem Ex-Mann Georg, Lottes Vater, nach, aber auch er hat schon länger nichts mehr von der jungen Frau gehört. Heidi macht sich Sorgen, hat Lotte etwa ihre Medikamente nicht genommen, ist sie in ernsten Schwierigkeiten? So wie damals als Teenager, als das ganze Unglück mit ihren Psychosen begann? Doch dann hat Lottes Mitbewohnerin einen Tipp: sie scheint mit ihrem Freund in Vietnam zu sein. Kurzerhand machen sich Heidi und Georg auf die Reise nach Asien, nach all den Jahren zum ersten Mal als Eltern gemeinsam.
Doris Knecht verbindet in ihrem Roman ganz unterschiedliche Themen, die sie in den zahlreichen Rückblenden und unterschiedlichen Erzählperspektiven einfließen lässt. Die psychische Erkrankung des Mädchens, wie sie langsam und unbemerkt begann und sich dann beinahe im Unglück endete. Heidis aktuelle Beziehungsprobleme mit ihrem Mann, der nach dem Jobverlust aus der Spur geworfen wurde und im Extremsport nun die Erfüllung findet, sich damit aber immer weiter von seiner Familie entfernt. Auch Georg und Leas Beziehung steht unter Anspannung: ist der Landgasthof wirklich das, wovon sie als junges Paar in Wien geträumt haben? Und dann natürlich die Fremde, der sich Heidi und Georg in Vietnam und Kambodscha ausgeliefert sehen: sie als reiche Europäer – dabei geht es ihnen ja gar nicht übermäßig gut – im Kontrast zu den ärmlichen Verhältnissen vor Ort, müssen sie Mitleid haben oder sich gar ihrer privilegierten Lebensverhältnisse schämen?
Viele ganz verschiedene Aspekte fließen ein ohne dass man dabei den Eindruck hätte, dass sich die Handlung verliert. Der rote Faden ist durch die Suche nach Lotte immer gegeben und die Einschübe der Gedanken wirken glaubhaft motiviert, so wie sie eben plötzlich auftauchen und einem sinnieren lassen. Keine perfekten Charaktere, aber auch nicht völlig abgedreht, die erfrischende Normalität der Figuren, die auch mal Fehler machen und ihre Unzulänglichkeiten haben, überzeugte mich. Der Sprecherin Oda Thormeyer folgt man dabei mit ihrer angenehmen Stimme ebenfalls gerne.
Die politische Lage ist angespannt im Frühling 1982 als Margaret Thatcher entscheidet Militär zu den Falkland Inseln zu schicken. Charlie Friend nimmt die Meldungen jedoch nur am Rande wahr, denn ihn interessiert viel mehr der technische Fortschritt, der Alan Turing mit der künstlichen Intelligenz gelungen ist. Endlich bekommt er seinen Adam, einen von nur fünfundzwanzig humanoiden Robotern, mit dem er seine Nachbarin Miranda hofft beeindrucken zu können. Sein Plan scheint aufzugehen, die junge Studentin ist ebenso fasziniert von diesem sehr menschlichen Wesen. Gemeinsam gestalten sie Adams Persönlichkeit und bald schon finden sie sich in einer komplizierten ménage à trois wieder, denn Adam entwickelt Gefühle für Miranda. Doch nicht nur der unerwartete Widersacher macht Charlie zu schaffen, Adam wirkt menschlich und lernt täglich hinzu und so stehen die drei bald vor einem moralischen Dilemma: unterscheidet sich Adam noch von ihnen und wie sollen sie mit ihm umgehen, als sein Verhalten sie in ernsthafte Schwierigkeiten bringt?
Die ersten Meldungen darüber, dass Ian McEwan einen Science-Fiction Roman geschrieben habe, ließen mich doch arg stutzen. So gar nicht wollte dieses Genre zu dem von mir sehr geschätzten Autor passen, dem es immer wieder gelingt, Situationen maximal zuzuspitzen und seine Figuren in die Enge zu drängen, um Entscheidungen zu provozieren. Technisch gesehen muss man „Machines Like Me“ ganz sicher in dieses Genre einordnen, aber man der unverkennbare Stil McEwans spricht aus jeder Zeile und so begeistert er erwartungsgemäß.
Die historischen Fakten rückt McEwan etwas in seinem Sinne zurecht, um die Handlung in einer politisch aufgeheizten Zeit zu verorten und um sich des Wissenschaftler Turing als Kopf hinter den Robotern bedienen zu können. Auch wenn dies durchaus interessante Nebenaspekte sind – Thatchers verlorener Krieg und die erzwungene Abdankung, der folgende Brexit und auch die technischen Errungenschaften – der Fokus liegt doch klar auf Charlie und seinem Adam und der Frage, wer letztlich Miranda für sich gewinnen kann. Dass die Namen der Figuren nicht willkürlich gewählt sind, liegt auf der Hand, mit den biblischen und shakespeareschen Anspielungen hält sich McEwan aber nicht lange auf.
Scheint es zunächst auf die Frage, ob Adam oder Charlie für Miranda hinauszulaufen, liefert die Geschichte eine unerwartete Wendung, die zwar früh schon angekündigt wird, aber noch nicht durchdringt. Und hier zeigt sich McEwans Können, denn die Frage nach moralischer Überlegenheit und Recht jenseits der rechtlichen Lage verläuft nun als Grenze zwischen Mensch und Maschine. Trotz seiner Lernfähigkeit bleiben Adam gewisse Nuancen verborgen – doch ist der Mensch hier wirklich überlegen oder einfach moralisch zweifelhaft oder gar schlichtweg schlecht? Beide Positionen sind nachvollziehbar und man kann Charlies und Mirandas Handeln nur als allzu menschlich charakterisieren – der nagende Zweifel, ob es dadurch richtig wird, bleibt.
Ohne Frage, eines der herausforderndsten Bücher des Jahres, das Ian McEwans Platz unter den ganz großen zeitgenössischen Autoren nur einmal mehr unterstreicht.