Milena Agus – Eine fast perfekte Welt

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Milena Agus – Eine fast perfekte Welt

Fünf Jahre hat Ester im Krieg auf ihren Verlobten gewartet, immer in der Hoffnung, dass er sie weg aus dem tristen sardischen Dorf in eine bessere Welt führen würde, weg von der alten und zermürbten Mutter, die nie Freude im Leben empfunden hat. Doch als sie Raffaele wiedersieht, ist dieser nicht mehr wiederzuerkennen. Kaum etwas ist übrig von der Liebe, die sie einst für den Marinesoldaten empfand, der sich inzwischen in Genua niedergelassen hat. Auch Raffaele liebt eigentliche eine andere, doch fühlt er sich dem Druck ausgesetzt, sein Versprechen zu halten. Sie bekommen eine Tochter, Felicita, doch Ester wird auch in Genua nicht glücklich und drängt auf die Rückkehr nach Sardinien. Bleibt die Hoffnung, dass es der nächsten Generation besser ergehen möge und diese das Glück findet. Felicita trennt jedoch mehr als nur der fehlende Akzent in ihrem Namen davon und so bleibt auch ihr nur zu hoffen, dass wenigstens ihr Sohn eines Tages seinem Herzen wird folgen und glücklich werden können.

Milena Agus‘ Roman erzählt von Träumen und Hoffnungen, alle Figuren hegen diese und erwarten, dass sie sie an einem anderen Ort erfüllen können. Doch das gelobte Land zerrinnt ihnen zwischen den Fingern, wenn immer sie es zu greifen glauben. Sie bleiben auf der Suche, werden jedoch auch immer wieder ausgebremst, festgehalten von Konventionen, denen sie sich verpflichtet fühlen, oder Regeln, die sie sich selbst auferlegen und finden nur selten den Mut, das zu tun, was sie eigentlich im Leben tun wollen. Und so bürden sie ihre eigenen Unzulänglichkeiten der nächsten Generation auf, die es nicht nur besser haben, sondern ihre nicht verwirklichen Träume realisieren soll.

Das Festland, die Insel, Amerika –  drei Kapitel, drei Orte, drei Verheißungen. Der italienische Titel des Romans, „Terre promesse“, greift zurück auf die biblische Vorstellung des versprochenen bzw. gelobten Landes, in welchem die Zukunft der nachfolgenden Generationen des Volkes Israel liegen solle, die auch von den europäischen Auswanderern gen Amerika benutzt wurde. Doch ebenso wie der American Dream nicht für jeden in Erfüllung ging, erfüllen sich auf für die Figuren bei Milena Agus die Träume nicht und sie müssen erkennen, dass es nicht an der Umgebung liegt, für ihr Glück zu sorgen, sondern dass sie dieses nur in sich selbst finden können.

Mit vielen Metaphern und beeindruckenden Sprachbildern geschmückt begleitet die Autorin ihre Figuren bei ihrer Suche, hier liegt der Charme und die Stärke des kurzen Romans. Es ist nicht ganz einfach Sympathien zu empfinden, zu störrisch und miesepetrig ist Ester, bei Felicita fällt dies leichter, wenn sie jedoch auch eigenwillig und verquer erscheint. Um bei den Bildern der Autorin zu bleiben: die Figuren sind Inseln, zwar gemeinsam als Familie eine kleine Inselkette bilden, doch letztlich nicht wagen sich einander wirklich zu nähern und das auszusprechen, was sie bewegt. Dies führt unweigerlich zu einer latenten Tristesse, die sich über den Text legt und schon früh andeutet, dass für echtes, ausschweifendes Glück, nicht wirklich Platz im Leben dieser Familie ist. Poetisch mit deutlichem Hang zur Melancholie.

Chico Buarque – My German Brother

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Chico Buarque – My German Brother

It is by coincidence that the Brazilian musician and author learns that his dad fathered a boy when he lived in Germany. Their house has always been full of books, his father a passionate historian and writer, horded them and, at times, forgot letters and other things in them. It is such a letter that Chico finds which indicates that his father had an affair with a certain Anne Ernst when he lived in Berlin as a journalist around 1930. Later, when the Nazi regime took over, he tried to bring his son to Brazil. Since father and son hardly talk to each other, it is not an option for Chico to ask him about the unknown half-brother, thus, Chico starts his research on his own.

Even though the book is classified as fiction, it is based on Chico Buarque’s life and the facts he reports about his father and German brother are actually true. Sérgio Buarque de Holanda spent some time in Berlin where Sergio Günther was born who later became a well-known artist in the German Democratic Republic. Unfortunately, the brothers never had the chance to meet.

I really appreciate Buarque’s tone of narration, especially at the beginning, the light-heartedness with which the young men move around town is well transferred into the language the author uses. Interesting to observe are the family structures. Even though the father’s main occupation is closely linked to language in all shapes and forms, the family members hardly find a way to communicate with each other and the most important things remain unsaid. A third aspect which struck me was the part in the novel which gives insight in the time of the military regime. Hardly do I know anything about the country’s history, therefore those glimpses are most fascinating.

Sometimes life itself invents the best stories. Even though some of it is fictional, I found Chico Buarque’s story about his mysterious brother most intriguing and a perfect example of how complicated families and our lives can be.

Peter Buwalda – Bonita Avenue

Peter Buwalda breitet auf 640 Seiten eine tragische Familiengeschichte aus. Der auf dem Cover dargestellte, verspielt-glückliche Teenager wird Unheil bringen über alle Familienmitglieder sowie ihren Freund, der dem Leser zunächst als Ich-Erzähler gegenüber tritt. Unchronologisch und permanent die Perspektiven wechselnd ist es nicht einfach sich in die Geschichte hineinzufinden, erst nach und nach entfaltet sich das Drama, zudem die Figuren alle auf ihre Weise beitragen.

Im Zentrum steht Siem Sigerius, zuerst erfolgreicher Judoka, später angesehener Mathematiker, der mit zweiter Frau und den beiden Stieftöchtern Joni und Janis eine kurze Zeit der heilen Welt in der Bonita Avenue verbringen darf. Zurück in den Niederlanden entwickeln sich die Dinge schwieriger. Der Sohn aus erster Ehe ist kriminell und bedroht die Familienidylle. Tochter Joni erfüllt auch nicht die Erwartungen des biederen, geordneten Lebens und bereitet unbeabsichtigt mit ihrem Freund Aaron den Sturz des geliebten Stiefvaters vor. Siem scheitert zudem an seinen eigenen Moralvorstellungen und der Aufrechterhaltung des Bildes nach außen. Am Ende bleiben nur Verlierer, die das miteinander Reden und Vertrauen auf ihre Nächsten verlernt haben.

Ein starkes Erstlingswerk, dass durch intensive und sehr nahe Beschreibungen besticht. Die Dramaturgie ist außergewöhnlich und fordert die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Die Figuren entwickeln sich langsam, sind interessant angelegt, so dass man trotz der Zeitsprünge ihre Veränderungen nachvollziehen kann.

Mich erinnert Peter Buwalda ein wenig an Ian McEwan, wenn auch (noch?) nicht in derselben Intensität, aber die Fähigkeit, die emotional intensiven Verstrickungen von Familienmitgliedern in einen komplexen Roman zu verpacken, der trotz wenig aktiver Handlung nichts an Spannung vermissen lässt, ist ganz eindeutig vorhanden. Ich bin auf die folgenden Werke gespannt!

*****/5