Monat: November 2012
Anna Kaleri – Der Himmel ist ein Fluss
Masuren, Ende der 30er Jahre. Die junge Minna lebt mit ihren Eltern und Trudchen in einer kleinen Stadt. Sie ist eine Außenseiterin, bleibt für sich, kümmert sich um Haus, Hof und das jüngere Mädchen. Durch Zufall trifft sie auf den Vogelforscher Gwidon, zudem sie bald eine tiefe Zuneigung empfindet. Ihm beichtet sie, dass Trudchen ihre Tochter ist – entstanden durch eine Vergewaltigung. Gwidon ist es auch, für den sie eine Stellung in der Stadt annimmt und bei einem Apotheker den Haushalt führt. Eine fast unbeschwerte Zeit bricht an, auch wenn ihr Geliebter verheiratet ist. Doch das Regime wirft weite Schatten und für Polen wie Gwidon wird die Lage kritischer. Als Minna kurz vor Gwidons Flucht mit ihm entdeckt wird, erfährt sie die ganze Härte derNationalsozialisten. Orientierungslos findet sie sich in einem Gefängnis wieder, verständnislos lässt sie den Prozess über sich ergehen, jedoch hat sie immer noch die Hoffnung Gwidon wiederzusehen. Fünf Jahre lautet ihr Urteil – dass sie schwanger ist, wird misstrauisch bis neidisch mit den Mitgefangenen betrachtet. Dass das Kind seinen Vater niemals sehen wird, hat sie noch lange nicht verstanden. Es scheint, als sei das Schicksal ihr wohlgesonnen, als sie schließlich in die Freiheit entlassen wird und nahe der Heimat ein neues Leben beginnen kann. Noch schafft sie es nicht, ihrer Familie und den Kinder wieder gegenüber zu treten. Sie ahnt jedoch nicht, dass es kein Wiedersehen mehr geben wird.
Ein trauriges Buch der dunkelsten deutschen Geschichte. Dass Cover verleitet einem dazu, eine Liebesgeschichte zu erwarten, doch es steckt viel mehr dahinter. Feine Unterscheidungen zwischen den Völkern, die zwischen Leben und Sterben entscheiden konnten. Zeichen der Aus- und Abgrenzung, Gewalt und Toleranz von Gewalt, Opfer, die nicht nur keine Hilfe erhalten, sondern noch Schande tragen müssen.
Ein persönliches Buch, dass die Geschichte der Großmutter der Autorin erzählt und durch eine leise, mehr andeutende als offen darstellende Sprache besticht. Der Ton ist hervorragend gelungen und unterstreicht wunderbar den Charakter der Protagonistin, zurückhaltend, aber doch gefühlvoll und nur auf ein wenig Liebe im Leben hoffend.
*****/5
Lucy Caldwell – Notes to Future Self [Hörspiel]
Philosophy Rainbow – sie bevorzugt Sophie, um von dem unsäglichen Namen abzulenken – liegt im Sterben. Obwohl erst 13 scheint sie besser mit ihrer Situation umgehen zu können als ihre Schwester und Mutter. Da sie an Reinkarantion glaubt, macht sie sich vorsorglich Notizen, die dem zukünftigen Ich helfen sollen, die Welt zu verstehen. Vor dem Hörer entfaltet sie so die Familiengeschichte um die Hippiemutter Judy, die schon als Teenager schwanger davongelaufen war, und das Erwachsenwerden der älteren Schwester Peace Warrior Star Calliope.
Eindrucksvoll.
*****/5
Jakob Hein – Herr Jensen steigt aus [Hörspiel]
Nach 10 Jahren treuer Arbeit setzt man den Postboten Herrn Jensen vor die Tür – um betriebsbedingte Kündigungen zu vermeiden. Endlich hat er Zeit für all die Dinge, die während der arbeitsamen Tage liegen geblieben waren. Was ganz entspannt anfängt gestaltet sich mit der Zeit immer schwieriger. Auch das Arbeitsamt irgendwie abzuwehren und Fortbildungsmaßnahmen zu umgehen zwingen Herrn Jensen zu Kreativität und Einfallsreichtum. Immer weiter entfernt er sich dabei von der Realität, bis er schließlich in seinem eigenen Dunkel quasi erstarrt.
Ein Stück bitterböse Realsatire auf die Welt der Arbeitslosen.
****/5
Danny Brocklehurst – Collateral Damage [Hörspiel]
DCI Stone ermittelt wieder. Was zunächst wie eine Überdosis Drogen aussieht, entwickelt sich immer mehr in einen vertrackten Kriminalfall. DCI Stone steckt so tief in den Ermittlungen, dass er es nicht schafft zu seiner kranken Mutter ins Hospital zu fahren – und dann erhält er die Nachricht, dass sie verstorben ist.
Spannend wie auch schon der Vorgänger. Die Lösung entfaltet sich langsam und die Persönlichkeit der Ermittler kommt ebenfalls nicht zu kurz.
****/5
Robert Hültner – Der Stalker [Radiotatort]
Ein Geschäftsmann erhält anonyme Drohbriefe. Informell sucht er Rat bei der Polizei und hat auch schon direkt einen Schuldigen zu bieten: der Filmvorführer. Dieser bestreitet die Vorwürfe und die Polizei belässt es zunächst dabei. Als sein Auto angezündet wird, müssen Senta und Rudi agieren, wieder einmal ermitteln sie auf eigene Faust – doch dieses Mal sind sie zu spät.
Eigentlich mag ich die Radiotatorte aus Bruck am Inn am liebsten – aber dieses Mal bleibt er sehr schwach und weit hinter dem gewohnten Potential zurück.
***/5 [Hörspiel]
Peter Prange – Der Kinderpapst
1981, Tagung der Kardinäle und Bischöfe über Antrage zur Selig- und Heiligsprechung. Vorgeschlagen wird hier auch Papst Benedikt IX, der im 11. Jahrhundert viel Unheil über Rom brachte und dessen Zeit als Kirchenoberhaupt durch Chaos geprägt war. Um über den Antrag bescheiden zu können, muss sich ein Mitglied in die Sachlage einarbeiten. In diesem Rahmen bettet Peter Prange seinen historischen Roman über die Unglücksherrschaft des sogenannten Kinderpapsts.
Seine Mutter deutet seine Geburt als Wunder, ein Zeichen dafür, dass das pfiffige Kind zu mehr berufen ist als nur die geplante Zukunft als Ritter und Gemahl von Chiara di Sasso. Doch die Zeiten ändern sich drastisch und politische sowie monetäre Überlegungen und Schachzüge befördern den jungen Teofilo schon als Kind auf den Heiligen Stuhl. Zu jung und schwach wird er zum Spielball der Kardinäle, von seinem älteren Bruder Gregorio ob der entgangenen Chance verhasst und vom Volk aufgrund zunehmender Schwierigkeiten ebenfalls nicht gestützt. Die Versuche seine Religiösität auf seine Mitstreiter zu übertragen scheitern kläglich, nur knapp entkommt er einem Mordversuch. Das sollte der nicht der einzige Anschlag auf sein Leben und seine Position sein. Jahre zwischen verfeindeten Familien, Machtgeschacher und finanziellen Nöten folgen. Die Bevölkerung verarmt und der Papst selbst verliert den Glauben an Gott und die Welt. Einzig seine Liebe zu Chiara di Sasso, die ihrerseits auch nicht vom Schicksal verwöhnt wird, aber tapfer ihren Weg geht und für Rom zum Segen wird, hält ihn am Leben und gibt ihm immer wieder Mut. Auf den rechten Weg zurückgeführt, zwar ohne Amt aber mit festem Glauben, wird er am Ende erlöst und sein größter Wunsch, das Leben mit Chiara zu teilen, wird doch noch erfüllt.
Historische Romane lassen dem Autor nur einen begrenzten Rahmen in der Handlung. Die Einbettung in eine Realsituation der Gegenwart als Motivation für den Bericht über Benedikt ist gelungen. Der Rückblick auf den Unglückspapst lässt jedoch einiges vermissen. Die offenkundigen Zweifel und das Hadern mit Gott, dass diesen Papst wohl umgetrieben hat, muss immer wieder hinter anderen Handlungssträngen zurücktreten, obwohl das der entscheidende Charakterzug und Motivator in der Figur des Teofilo di Tusculo zu sein scheint. Das Buch hat einige Längen und so manches mal hat man den Eindruck, dass sich einiges zu wiederholen scheint, was durchaus in der Realität so gewesen sein mag.
Sprachlich bisweilen derb, vermutlich um sich der Zeit anzunähern, bietet das Buch leider wenig Diskussions- und Reflektionsraum, dafür wird die Abarbeitung historischer Ereignisse zu sehr in den Vordergrund geschoben. So bleibt es bei einem netten Zeitvertreib, der jedoch die Chance auf ein Nachwirken verschenkt hat.
***/5
Ansgar Oberholz – Für hier oder zum mitnehmen
Am Rosenthaler Platz in Berlin hat der Ich-Erzähler eines frühen Morgens mit nüchternem Magen aber einer ordentlichen Portion Restalkohol eine Eingebung: er will seinen Job an den Nagel hängen und an Ort und Stelle ein Café eröffnen. Trotz der widrigen Umstände wird der Plan in die Tat umgesetzt. Von den holprigen Monaten nach der Eröffnung berichtet er anekdotenhaft: die zwischenmenschlichen Schwierigkeiten des Personals, das Kuriosenkabinett Kundschaft, die immer guten Ratschlägen paraten Nachbarn und sonstige Völker, die sich in und um das Restaurant rumtreiben.
Das Buch ist in lockerem Plauderton geschrieben als wenn einem der Autor bei einem Bierchen am Abend von seinem Alltag berichten würde. Viele Episoden haben eine durchaus unterhaltsame Note, bisweilen urkomisch, manchmal aber auch aus der Kategorie Autsch! Hätte nicht sein müssen.
Leider bleibt das Buch am Ende etwas zu belang- und bedeutungslos. Man liest es weg und schon hat man vergessen, was es gab. Die Personen sind zu wenig plastisch, um in Erinnerung zu bleiben, die Begebenheiten leider auch schon zu bekannt als dass sie durch Innovation oder Besonderheit bestechen würden.
Nette Unterhaltung für zwischendurch, mehr aber nicht.
****/5
Petra Oelker – Ein Garten mit Elbblick
Hamburg, Ende des 19. Jahrhunderts. Ein junges Mädchen; Henrietta, vergnügt sich in der Stadtvilla, wo sie mit ihrem Vater lebt. Der Gouvernante kann sie entfliehen und so ein Stück von der anderen, viel härteren Welt Hamburgs kennen lernen. 14 Jahre später ist sie verheiratet und lebt in England. Der Tod ihres Vaters bringt sie zurück an die Elbe. Doch bei diesem einen Trauerfall soll es nicht bleiben. kurz nach ihrer Ankunft findet man auch ihren Ehemann tot – ermordet. Aber was hat er in Hamburg zu suchen, war er nicht in Amsterdam auf Geschäftsreise? Und wer hatte Grund ihn zu töten? Nicht nur diese Fragen treiben die Hamburger Polizei, Henrietta und ihre Verwandten um, sondern auch die Tatsache, dass scheinbar ihr ganzes Vermögen – väterlicher und ehegattennseits – verloren scheint. Es wird Zeit, dass sich die junge Frau selbst um ihre Angelegenheiten kümmert und Licht in die verborgenen Seiten der Männer in ihrem Leben bringt.
Das Buch zeichnet die Entwicklung eines gut behüteten, weltfremden Mädchen zu einer selbstbestimmten frau nach, die Konventionen schon einmal ignorieren kann. Daneben wird das Hamburg zur Jahrhundertwende, auf dem Welt zu einer bedeutenden Handelsmacht skizziert, integriert in eine gut gelungene Kaufmannsgeschichte. Die sozialen Standesunterschiede und damit verbundenen Schwierigkeiten im Umgang miteinander kommen genauso zum Tragen wie innerfamiliäre Zwistereien und verborgene Ausreißer.
Ein Garten mit Elbblick ist ein Sittengemälde des hanseatischen Bürgertums des wilhelminischen Deutschlands gepaart mit Krimiaspekten und ersten Anzeichen von Emanzipation junger Frauen. Eine gelungene Verbindung, die gute Unterhaltung bietet.
*****/5
Lolita Pille – Hell [Hörspiel]
„Ich bin eine Schlampe. Eine Luxusschlampe.“ So beginnt Lolita Pilles Geschichte über die Pariser Gegenwartsjugend, deren Leben aus Partys, teuren Lokalen, Shopping in Luxusboutiquen und Antidepressiva besteht. Ella – genannt Hell – führt ein von den Eltern finanziertes Luxusleben, das gerade eine Auszeit von der Uni nimmt. Mit ihren Freundinnen feiert sich bis morgens früh, schläft und isst wenig, zwischendrin eine Abtreibung, hat Sex mit irgendwelchen Typen und nebenbei beschäftigt sie noch die Suche nach einem passenden Mann, der ihr auch in Zukunft den gewohnten Lebensstil ermöglicht. Es scheint ihr an nichts zu fehlen und doch ist ihr Leben ein großes, trostloses Nichts.
Einerseits unterhaltsam, andererseits erschreckend wie desillusioniert junge Menschen, die scheinbar alles haben (können), vom Leben sind und schon als Teenager nichts mehr erwarten.
****/5 (Hörspiel)