Nicolas Mathieu – Connemara

Nicolas Mathieu – Connemara

Hélène hat erreicht, wovon sie als Jugendliche geträumt hat. Sie hat einen Abschluss einer renommierten Hochschule, einen gut bezahlten Job, einen erfolgreichen Mann und zwei Töchter – der soziale Aufstieg aus der Arbeiterklasse ist geglückt. Doch eine Depression und die Überforderung bringen sie und ihre Familie aus Paris zurück in die lothringische Provinz. Zunächst erholt sie sich, doch bald schon stellen sich die alten Gefühle wieder ein und sie droht erneut abzustürzen. Doch dann trifft sie Christophe wieder, den Eishockeyspieler, den sie als Teenager anhimmelte und mit dem sie versucht das nachzuholen, was sie lange entbehrte.

Der Prix Goncourt Preisträger Nicolas Mathieu hat sich einem Thema angenommen, dass auch in der autobiografisch geprägten Literatur seit einiger Zeit omnipräsent ist und wofür nicht zuletzt Annie Ernaux jüngst den Literaturnobelpreis erhielt. „Connemara“ folgt einer jungen Frau, die geprägt ist vom Arbeitermilieu mit seinen spezifischen Werten und Lebensentwürfen, die jedoch als junges Mädchen schon ahnt, dass das Leben mehr zu bieten hat und die sich den sozialen Aufstieg hart erkämpft. Den zweiten Schwerpunkt des Romans bildet jene Krise, die immer mehr erfolgreiche Menschen schon früher als die klassische Midlife-Crisis zu treffen scheint: beruflich wie privat alles erreicht, ein Leben wie aus dem Bilderbuch, das dann mit Wucht von einer Depression und der Frage nach dem Sinn getroffen wird.

Trotz allem Erfolg legt Hélène nie das Gefühl ab, nicht zu genügen. So sehr sie an sich arbeitet, sie kann ihre Herkunft nicht ablegen und muss in aller brutaler Härte erfahren, dass sie als Frau auch immer beim Aufstieg in die höchsten Etagen den Kürzeren ziehen wird. Dem Takt der Großstadt kann sie entfliehen, doch auch in der Provinz gelten letztlich dieselben Regeln. Die Affäre mit Christophe scheint der Ausweg, doch letztlich bringt das auch nur das, was eine Affäre ist: eine kurzzeitige Befriedigung.

Christophe ist ein interessanter Gegenentwurf, obwohl als Ehemann – und eigentlich auch als Vater – gescheitert und beruflich weit weniger erfolgreich als Hélène wird er zur Sehnsuchtsfigur aus einer Erinnerung heraus. Er lebt in der Vergangenheit, will alte Erfolge im Sport wieder heraufbeschwören, die ihm die Bewunderung von Mädchen einbrachte. Doch auch für ihn hat das Leben andere Pläne.

Gemeinsam ist beiden eine Unzufriedenheit. Auch wenn Träume verwirklicht werden konnten, hat das Leben die Erwartungen nicht erfüllt und ist im Jetzt gespickt von Enttäuschungen, Problemen und einem Gefühl der Verzweiflung.

Die Stärke Mathieus liegt ganz ohne Frage darin, das Empfinden seiner Figuren greifbar zu machen. Sowohl die jugendlichen wie auch die erwachsenen Figuren wirken authentisch und transportieren das Lebensgefühl einer Generation von Aufsteigern, die hart arbeiten, sich anpassen und am Ende erkennen, dass das Glück doch nicht auf sie wartet. Ein starkes Portrait einer modernen Art von verlorener Generation.

Édouard Louis – Anleitung ein anderer zu werden

Édouard Louis – Anleitung ein anderer zu werden

Mit seinem Roman „Das Ende von Eddy“ ist Édouard Louis 2014 schlagartig zum Star geworden. Der autobiografische Roman, der von seiner ärmlichen und von Gewalt geprägten Kindheit auf einem Dorf in der französischen Picardie erzählt, wurde mit Begeisterung aufgenommen. Es folgten „Im Herzen der Gewalt“, „Wer hat meinen Vater umgebracht“ und „Die Freiheit einer Frau“, die alle Themen seines Lebens aufgriffen – Gewalterfahrung, die schwierige Beziehung zu seinem Vater, das trostlose Leben seiner Mutter. Nun widmet er sich seiner Transformation, dem schwierigen Wegs aus dem unteren Arbeitermilieu über das Bürgertum bis hin zu den Reichen und Adligen, die die anerkanntesten Universitäten des Landes besuchen. Es ist sein Leben, aber nicht nur eines, denn er hat auf dem Weg zum berühmten Schriftsteller zahlreiche Leben gelebt – und das mit nicht einmal 30 Jahren.

Es ist die Geschichte eines Kindes, das anders ist als die anderen, das früh Ausgrenzung und Diffamierung erlebt und nicht die Erwartungen der Familie, des Umfelds erfüllen kann. Er zieht sich zurück, versteckt sich in den Pausen in der Bibliothek, wo er auf den ersten Menschen trifft, der ihm eine Tür öffnet: die Tür zum Gymnasium. Als er Hallencourt hinter sich lässt und nach Amiens zieht, beginnt seine Verwandlung. Seine Freundin Elena zeigt ihm, dass es auch andere Leben gibt als jenes, das er kennt. Er macht Bekanntschaft mit Kunst und Literatur, saugt das bürgerliche Leben auf und ist wie betrunken davon. Zugleich entfernt er sich zunehmend von seiner Herkunft. Als er bei einer Lesung des Philosophen und Soziologen Didier Eribon hört, der einen ganz ähnlichen Weg hinter sich hat, erkennt er, dass er gerade Mal eine einzige Etappe gemeistert hat. Es gibt noch viel mehr, jenseits von Amiens und er entwickelt ein neues Ziel: es kann nicht weniger als die berühmte École normale supérieure für ihn sein, auch wenn alles dagegen spricht, dass er dort aufgenommen wird.

Louis schildert die Geschichte eines Aufstiegs, des Weges von der ärmlichsten Klasse, wo das Essen knapp ist und Fernsehen und Alkohol dominieren, hin zum intellektuellen Olymp Frankreichs. Der junge Eddy merkt bald, dass es nicht alleine die formale Bildung, der Schulabschluss des Abiturs ist, der den Unterschied macht. Mit seiner Herkunft geht auch ein Habitus einher, den er nicht so leicht ablegen kann. Die Sprache verrät ihn, er muss lernen sich richtig zu kleiden, das Besteck anders zu halten – und immer wieder gibt es Grenzen. Jede Stufe höher, jede neue Klasse endet letztlich in der Erkenntnis, dass es noch eine andere darüber gibt.

Die Demütigungen, die er als Kind erlebt hat, die Scham ob seiner bescheidenen Herkunft, aber auch die Wut auf die Eltern, die ihm nicht das gegeben haben, was andere ihren Kindern mitgeben – all das treibt ihn an und immer weiter. Zugleich kann er das Gefühl nicht ablegen ein Eindringling zu sein, nie wirklich dazuzugehören. Am Ende ist nichts mehr von dem kleinen Eddy übrig, als er plötzlich doch wieder alles infrage stellt.

Das Thema des sozialen Aufstiegs ist seit einigen Jahren in autofiktionalen Romanen in Frankreich wie auch in Deutschland populär. Christian Baron schildert seinen Weg in „Ein Mann seiner Klasse“, Deniz Ohde in „Streulicht“ die komplexe Beziehung zum Vater, nachdem sie sich als Kind entfernt hat. Jenseits der Grenze setzen sich beispielsweise der bereits erwähnte Eribon in „Retour à Reims“ oder Annie Ernaux etwa in „La Honte“ mit der Frage von Herkunft, Identität und den sozialen Klassen auseinander. Sie alle zeigen, dass Bildung allein nicht ausreicht, wie sehr die Herkunft prägt und dass nur ein Bruch mit dieser zu dem tatsächlichen Aufstieg führen kann – ein Preis, der hoch ist. Mit einigen Jahren Abstand erkennt das auch Édouard Louis, weshalb seine Bücher nicht nur seine Therapie sind, sondern auch eine Gesellschaftskritik, die nachdenklich stimmt und für Deutschland genauso wahr ist, wie für Frankreich.

Francesca Reece – Ein französischer Sommer

Francesca Reece – Ein französischer Sommer

Warum er genau sie engagiert, weiß Leah nicht, aber neben den Aushilfsjobs als Englischlehrerin und Bedienung in einem Café ist die junge Engländerin froh, einen echten Job zu finden. Paris war eigentlich nur für ihr letztes Studienjahr gedacht, aber aus Angst vor der Arbeitswelt in London ist sie Frankreich geblieben und treibt seither ziellos durch die Stadt. Der Autor Michael Young stellt sie als Assistentin ein, die seine Tagebücher digitalisieren und seine Korrespondenz bearbeiten soll, damit er wieder die Zeit findet, sich dem Schreiben zu widmen. Gemeinsam mit seiner Familie lädt er Leah ein, den Sommer in der südfranzösischen Villa verbringen. Es klingt fast zu schön, um wahr zu sein, doch es dauert nicht allzu lange, bis am Sommerhimmel dunkle Wolken aufziehen.

Francesca Reeces Debütroman „Ein französischer Sommer“ spielt zwar im Jahr 2016, erinnert aber stark an das Bohème Leben einer längst vergangenen Zeit. Das kultivierte Nichtstun an der Mittelmeerküste, wo sich die Intellektuellen im Sommer in den Villen niederlassen, entstammt einem anderen Lebensgefühl, dazu passt auch der Schreibstil, der wundervoll fließt und sich stark von dem aktueller Romane abhebt. Auch die Figurenkonstellation ist geradezu typisch mit dem alternden, erfolgsverwöhnten Autor, seinen erwachsenen Kindern, die mit dem goldenen Löffelchen im Mund aufgewachsen sind, und der Außenseiterin, die sich zwar durch das Studium in den erlauchten Kreis der Intellektuellen vorgearbeitet hat, aber ihre Herkunft aus dem Arbeitermilieu und die fehlende Nonchalance im Umgang den Erfolgreichen und Schönen nicht verstecken kann.

Leah ist eine durchaus sympathische Protagonistin, die mit ihrem Verlorensein in der Welt und der Verweigerung eines Karriereplans einen gewissen Typ ihrer Generation repräsentiert. Sie ist in den Gedanken des Bohème-Daseins in Paris verliebt, wie sie es aus der Literatur kennengelernt hat. Die Rolle des Mauerblümchens, vom dem man ahnt, dass es unter die Räder der falschen Gesellschaft gerät, füllt sie hervorragend aus.

Als Kontrast der souveräne alternde Autor, dessen Motive zunächst unklar bleiben. Die Villa füllt sich nach und nach, Leah verliert die Distanz und fühlt sich fast schon in der Gesellschaft angekommen, zu der sie jedoch nicht gehört. Es folgen leider sehr vorhersehbare Versatzstücke – der Streit, der unerwartete Gast, der das Geheimnis lüftet, plötzlich auftauchende alte Fotos, die Fragen aufreißen – die dem Inhalt die Spannung und Originalität nehmen.

Wegen der überzeugenden Atmosphäre und der gelungenen sprachlichen Umsetzung doch noch wohlwollende Leseempfehlung, auch wenn die Geschichte leider nur eine Variante eines unzählige Male bereits erzählten Themas ist.

Karine Tuil – La décision [Die Entscheidung]

Karine Tuil – La décision

Alma Revel ist Ermittlungsrichterin bei der Pariser Terroreinheit. Nach den Anschlägen 2015 ist die Lage dauerhaft angespannt und die Ermittler stehen unter enormem Druck von der Presse und der Öffentlichkeit. Der Fall eines jungen Mannes, der mit seiner Freundin nach Syrien gereist war, um sich dem IS anzuschließen und der nun zurück in Frankreich ist, stellt sie vor eine Zerreißprobe. Verteidiger des Mannes ist ausgerechnet jener Anwalt, mit dem sie seit Monaten eine Affäre hat. Er argumentiert, dass man dem Angeklagten keine konkrete Tat oder Tatbericht nachweisen kann, er beteuert auch seine Läuterung, aber kann Alma das glauben? Sie muss eine Entscheidung treffen, die im schlimmsten Fall das ganze Land gefährdet oder aber das Leben eines Unschuldigen zerstört.

« Dans le cadre de mes fonctions de juge antiterroriste, j’ai pris une décision qui m’a semblé juste mais qui a eu des conséquences dramatiques. Pour moi, ma famille. Pour mon pays. »

Karine Tuil stellt ihre Protagonistin in „La décision“ gleich auf mehreren Ebenen vor nicht lösbare Entscheidungen. Alma befindet sich im Dauerkonflikt, dem sie kaum entkommen kann. Nervenstark muss sie in dieser Position sein, doch vor dem Hintergrund ihres privaten Chaos mit der Trennung von ihrem Mann gerät sie an den Rand ihrer Möglichkeiten. Der Fall lässt Aussage gegen Aussage stehen, es gibt keine belastbaren Argumente für die oder die andere Seite und die Verantwortung für das Leben des jungen Mannes, ebenso wie für ihr Land liegt bei ihr.

Man erkennt in dem Roman schnell die Handschrift der Autorin, die für ihren letzten Roman „Menschliche Dinge“ mit dem Prix Interallié und dem Goncourt des Lycéens ausgezeichnet wurde. Wieder einmal sind es Figuren im mittleren Alter, die zum einen vor der Sinnfrage ihrer getroffenen Entscheidungen stehen, sie zum anderen aber mit der aktuellen Situation Frankreichs unmittelbar verbunden sind. Themen, die das Land bewegen, finden sich auch in Tuils Romanen, hier nun die Anschläge, die Frankreich in eine Schockstarre versetzten. Die Angst vor neuerlichen Todesopfern durch radikalisierte Islamisten ist zum Greifen, die Ermittlungsrichterin spürt die Last der Erwartung von Millionen Menschen auf ihren Schultern, dass sie permanent Drohungen erhält und auch tätlich angegriffen wird, trägt zudem zur Anspannung bei. Durch die Erzählperspektive befindet man sich in Almas Kopf, durchlebt mit ihr das Wechselbad der Gefühle und die Belastung, die sie beinahe zerreißt.

Es ist der entscheidende Moment im Leben der Protagonistin wie auch des Angeklagten. Man weiß, dass die Entscheidung nicht ohne Folgen bleiben wird, doch welche und für wen? So wird neben der wieder einmal brillanten Figurenzeichnung auch eine enorme Spannung aufgebaut und man selbst fragt sich, wie man entschieden hätte, welchen Eindruck man aus den Befragungen gewonnen hat und welche Schuld man damit vielleicht auf sich geladen hätte.

Frédéric Breton – Paris und die Mörder der Liebe

Frédéric Breton – Paris und die Mörder der Liebe

Ein Unfall, wie er nicht selten vorkommt: ein Partyboot kracht in einen Pfeiler der Pont Neuf. Allerdings wird schnell klar, dass es dafür einen guten Grund gab: die Partygesellschaft, Mitarbeiter einer Internetfirma mit einer angesagten Dating-App, wurde durch Liquid Ecstasy betäubt und eine von ihnen hat das sogar mit dem Leben bezahlt. Ein unglücklicher Zufall oder wurde Laetitia Vicault gezielt Opfer eines Anschlags? Kommissar Gustave Lafargue begibt sich in die Welt der Dating-Apps und muss bald feststellen, dass die Liebe in seiner Heimatstadt ziemlich verkommen ist. Seine Kollegin Jinjin indes sucht nicht die große Liebe, sondern nur den schnellen Kick, nach ihrem Aufenthalt in der Psychiatrie muss sie erst wieder zu sich selbst finden, bevor sie sich auf einen Mann einlässt. Ihre flüchtige Bekanntschaft jedoch hat eine große Anziehungskraft auf sie – viel mehr als gut ist.

Hinter dem Autorennamen Frédéric Breton verbirgt sich der Drehbuchautor Markus B. Altmeyer, der durch zahlreiche Fernsehkrimis bekannt wurde. „Paris und die Mörder der Liebe“ ist sein erster Kriminalroman, der das Flair das französischen Hauptstadt einfängt und das, wofür sie berühmt wurde, gnadenlos infrage stellt, denn mit echter Liebe ist es nicht weit her in der Geschichte. Sein etwas schrulliger, aber durchaus liebenswerter Protagonist lässt sich jedoch nicht beirren und dank seines Spürsinns kann er denn Fall auch solide lösen.

Es sind zwei Errungenschaften der Gegenwart, die den Plot befeuern: zum einen das Internet mit seinen unendlichen Möglichkeiten und vor allem den Dating-Apps, die das Kennenlernen von an kurzen oder längeren Liebesbekanntschaften Interessierten unkompliziert möglich macht. Zugleich stellt das unentwegte Füttern der virtuellen Welt mit unseren Daten eine reale Gefahr dar. Nicht minder zweischneidig die Frage danach, was durch die Entschlüsselung des Genoms heute möglich ist. Vorhersagen über potentielle Erkrankungen ebenso wie stichfeste Beweise gegenüber Tätern. Beides verknüpft der Autor in seinem rasanten Kriminalfall.

Der Kommissar kann als Figur noch wachsen, sein Sidekick Jinjin war für mich jedoch zunächst die reizvollere Figur, auch wenn ihr Handeln recht vorhersehbar und naiv angelegt war. Die Geschichte legt mehrere falsche Fährten, bevor man zum eigentlichen Kern gelangt.

Ein überzeugender, solider Krimi, der die gar nicht so schmucken Seiten der Stadt der Liebe offenbart.

Agatha Christie – Der blaue Express

Agatha Christie – Der blaue Express

Nachdem Katherine Grey unerwartet zu einer Erbschaft gekommen ist und sich sogleich die gierige Verwandtschaft meldet, verlässt das englische Dorf St Mary Mead, um mit dem „Blauen Express“ an die Côte d’Azur zu fahren. In eben diesem macht sie zunächst die Bekanntschaft mit Ruth Kettering, Tochter des amerikanischen Millionärs Rufus Van Aldin, die sich heimlich mit ihrer großen Liebe verabredet hat, nachdem ihre Ehe auf eine Scheidung zusteuert. Auch einen sympathischen älteren Herrn lernt Katherine im Speisewagen kennen, mit dem sie die Leidenschaft für Kriminalgeschichten teilt. Als der Zug in Lyon hält, wird eine furchtbare Entdeckung gemacht: Ruth wurde ermordet. Verdächtige gibt es gleich mehrere, ihr mysteriöser Liebhaber ebenso wie ihr Gatte, dem der Tod seiner Frau mehr als gelegen kommt und der zufälligerweise ebenfalls an Bord des Zugs war. Für die französische Polizei ist es ein Glücksfall, dass Hercule Poirot ebenfalls genau jenen Express nahm und gerne bereit ist, bei den Ermittlungen zu unterstützen.

Die diesjährige Read Christie Challenge hat mit zu Hercule Poirots sechstem Fall geführt, da die März Aufgabe darin bestand, einen Roman zu lesen, den die Grand Dame of Crime im Ausland geschrieben hat. „Der blaue Express“ wurde 1927 auf den Kanarischen Inseln verfasst, nachdem Christie im Jahr zuvor ihre Mutter verloren hatte, die Untreue ihres Ehemanns entdeckte und selbst auf mysteriöse Weise zehn Tage verschwunden war. All diese belastenden Erfahrungen haben sie jedoch zum Schreiben zurückgeführt und eine klassische Locked Room Geschichte mit reicher Erbin, heimlichen Liebschaften und begehrten Juwelen hervorgebracht.

Setting wie auch Lösung des Falls folgen den bekannten Mustern der Kriminalromane Christies. Die Lösung scheint zunächst auf der Hand zu liegen und doch hat der clevere belgische Meisterdetektiv Zweifel. Menschenkenntnis und scharfe Beobachtung führen letztlich dazu, dass Puzzleteil für Puzzleteil an seinen Platz findet. Zum ersten Mal begegnet man als Leser den Örtchen St. Mary Mead, das später zur Heimat von Miss Marple und Schauplatz von „Mord im Pfarrhaus“ werden wird.

Von den Kritikern mit sehr unterschiedlichen Meinungen aufgenommen hat mir der Krimi besser als viele andere Poirot Romane gefallen, da Christie hier bei der zentralen Handlung bleibt und auf abschweifende Nebenstränge verzichtet.

Jérôme Leroy / Max Annas – Terminus Leipzig

Jérôme Leroy / Max Annas – Terminus Leipzig

Nach einem Alleingang mit ihrem Team, bei dem ein Kollege tödlich getroffen wird, wird die DGSE Kommissarin Christine Steiner zunächst beurlaubt. Die Zeit soll sie auch nutzen, um den Selbstmord ihrer Mutter zu verarbeiten. Obwohl privat unterwegs bittet ihr Chef sie, bei einem Einsatz in Lyon zu unterstützen. Dort wurde ein älteres deutsches Ehepaar ermordet, ehemalige Mitglieder einer linksextremen Gruppierung, auf die ein deutsch-französisches rechtes Bündnis offenbar gerade Jagd macht. Als Christine den Tatort inspiziert, findet sie etwas, das sie völlig aus der Bahn wirft: ein Foto, auf dem ihre Mutter und sie als Kleinkind zu sehen sind. Ihre Mutter hatte nie darüber gesprochen, weshalb sie 1971 alle Brücken zu ihrer deutschen Heimat abgebrochen hat. Christine benötigt nicht viele Informationen, um sich schon kurz danach auf den Weg nach Leipzig zu machen und Rache zu nehmen.

Es gibt Autoren, zu deren Büchern man greift, ohne auch nur einen kurzen Blick auf den Klappentext zu werfen. Jérôme Leroy zählt für mich zu diesen, Max Annas konnte mich bislang gleichermaßen begeistern. Eine Kooperation von beiden ist daher etwas, das ich mir kaum entgehen lassen konnte. „Terminus Leipzig“ ist im Rahmen des Krimifestivals „Quais du Polar“ zwischen den beiden Autoren und ihren Verlagen Edition Nautilus aus Deutschland und Le Point aus Frankreich entstanden. Wie auch in ihren anderen Romanen wird die Handlung von gesellschaftspolitischen Ereignissen getragen, hier der gegenwärtige Terrorismus, der mit der linksextremen Gewalt in der Bundesrepublik der 1970er geschickt verbunden wird.

Als Leiterin einer Antiterroreinheit ist Christine unerschrocken und strategisch in ihrem Vorgehen. So akribisch sie sich über ihre Zielpersonen informiert, hat sie die fehlenden Informationen über ihre eigene deutsche Herkunft immer hingenommen und die Mutter nie genötigt, etwas über ihre Zeit vor dem Umzug in die französische Provinz zu berichten. Das Foto vom Tatort lässt jedoch kaum andere Schlüsse zu als dass die unauffällige Krankenschwester offenbar eine extremistische Vergangenheit hat. In Wolfgang Sonne, der ebenfalls zu sehen ist, glaubt Christine ihren Vater zu erkennen, weshalb sie sich auf den Weg zu ihm macht, um Antworten auf die bislang nie gestellten Fragen zu erhalten. Doch dafür bleibt kaum Zeit, denn gerade in Leipzig angekommen, geraten sie in das Feuer der Rächer, die Sonne ebenfalls ausfindig gemacht haben.

Ein rasanter Kurzkrimi, der sich nicht lange mit der Figurenentwicklung aufhält, sondern unmittelbar ins Geschehen einsteigt. Eine vielversprechende Zusammenarbeit der beiden Autoren, die für mein Empfinden noch stärker hätte ausgebaut werden können, denn sie reißen nur an, was sie eigentlich können. Auch die Handlung bietet noch Entwicklungsspielraum, womöglich ist dies ja in dem Cliffhanger am Ende angelegt, wünschen würde ich mir das jedenfalls.

Agatha Christie – Mord auf dem Golfplatz

Agatha Christie – Mord auf dem Golfplatz

Captain Hastings kommt von einer Reise, auf der er im Zug eine seltsame Begegnung mit einer jungen Frau hatte, in die er sich jedoch direkt verliebte, zurück nach London. Poirot hört sich seine Geschichte an, während er die Post durchgeht. Darunter findet sich ein Hilferuf eines gewissen Monsieur Renauld, der ihn bittet sofort in seine Villa in Merlinville zu kommen. Offenbar ist der Mann in großer Sorge und das offenbar völlig zurecht, denn als Hastings und Poirot vor Ort erscheinen, untersucht die französische Polizei bereits den Tod des Mannes. Seine Frau berichtet von einem nächtlichen Überfall durch zwei unbekannte Männer. Poirot findet einiges merkwürdig an der Geschichte, der ermittelnde Kommissar Giraud jedoch – jung und ehrgeizig – hält nichts von den Theorien des ältlichen Detektivs und glaubt sich schnell auf der richtigen Spur. Es beginnt ein Wettrennen um die Suche nach dem Mörder.

Agatha Christie lässt den „Mord auf dem Golfplatz“ aus Sicht von Hercule Poirots Freund und Begleiter Arthur Hastings erzählen, der frappierende Ähnlichkeiten zu Sherlock Holmes Partner Watson aufweist und von der Autorin schnell wieder aus den Romanen verbannt wurde. Als Sidekick eignet er sich jedoch hervorragend, artikuliert er doch das, was der Leser sich denkt und was er an Spuren im Text finden kann. Poirot eilt zwar schon ein gewisser Ruf voraus, in seinem zweiten Auftritt muss er jedoch seine Fähigkeiten noch unter Beweis stellen, was zu einem – für mein Empfinden – deutlich komplexeren Fall führt als andere der Reihe.

Der Fall um den betuchten Monsieur Renauld mit mysteriöser Vergangenheit weist im Laufe der Ermittlung immer mehr Fragen auf als dass sich Antworten finden lassen. Eine zweite Leiche verkompliziert Suche nach dem Mörder zudem. Poirot gelingt es jedoch dank seines Blicks für das Detail, die vorhandenen Indizien zu erkennen und auch richtig zu deuten. Es sind wie so häufig naheliegende, niedere Motive, die die Täter leiten und die sie letztlich auch in eine Falle locken und entlarven.

Wie gewohnt eine kurzweilige, wenn auch ausgesprochen vertrackte Sache, die für mich vor allem von dem oft zum Schmunzeln einladenden Austausch zwischen Poirot und Hastings lebt.

Antoine Laurain – Eine verdächtig wahre Geschichte

Antoine Laurain – Eine verdächtig wahre Geschichte

Es könnte einer der größten Erfolge der Verlagsgeschichte werden, „Die Zuckerblumen“ gelangen von einer in die nächste Runde des berühmten Literaturpreises Goncourt. Und just zu diesem Zeitpunkt ist weder der Autor auffindbar noch dessen Lektorin verfügbar. Diese liegt nämlich nach einem Unfall im Koma. Doch auch als Violaine Lapage wieder erwacht und ins Leben zurückkehrt, kann sie nichts zu der Identität des Verfassers beitragen, ihre Erinnerungslücken geben nichts her. Es kommt jedoch noch schlimmer: der Roman schildert einen Rachefeldzug und Mord an mehreren Männern. Dies wird plötzlich zur Realität und bald schon ist auch eine Kommissarin auf der Spur des mysteriösen Verfassers des vielleicht besten Buchs des Jahres.

Antoine Laurain ist für mich ein Meister charmant erzählter Geschichten, die immer ein wenig über die Realität hinausgehen und einem doch so real und möglich erscheinen, dass man die Magie seiner Geschichten einfach wirken lässt. Wie auch in „Liebe mit zwei Unbekannten“ bringt er in seinem neuen Roman „Eine verdächtig wahre Geschichte“ Figuren zusammen, die sich eigentlich nicht begegnen sollten, die jedoch das Schicksal zusammenführt, weil es so vorgesehen ist. Oder weil dann doch eine etwas dazu beiträgt. Besonders reizvoll dieses Mal jedoch die Spannungsmomente um den unbekannten Autor und die Mordfälle wie auch der Blick hinter die Türen der Verlagswelt.

Die Protagonistin Violaine Lapage ist eine liebevoll gezeichnete Exzentrikerin. Dass sie mit ihrer ausgeprägten Flugangst zum Opfer in einem spektakulären Absturz wird, verwundert sie nicht so sehr, weshalb sie auch einer Tarot-Kartenlegerin Gehör schenkt, die ihr Leben vor ihr auf dem Tisch ausbreitet. Sie geht völlig auf in ihrem Beruf als Lektorin, zu dem sie durch puren Zufall gelangt ist. Aber womöglich war alles gar nicht so zufällig, sondern musste genau so geschehen.

Daneben spielt der Roman „Die Zuckerblumen“ eine entscheidende Rolle. Nicht nur, weil er offenbar die Leser sofort berauscht, sondern auch, weil er ein Eigenleben in der Realität zu spielen scheint. Es vermischen sich die Welten von fiktiver Wirklichkeit und Fiktion und doch müsste eigentlich nur ein genauer Blick gewagt werden, um die Zusammenhänge zu erkennen.

Einmal mehr ein grandios erzählter Roman, der einem unmittelbar packt und in die Geschichte zieht. Die kleinen Nebenkreise, die Laurain um die weiteren Figuren zieht, sind ebenso allerliebst gestaltet wie seine Protagonistin. Die Liebe des Autors zum Detail ist es, die jede Zeile des Buchs so bezaubernd werden lässt und die unterstreicht, dass bei all den Zufällen doch gar nichts zufällig, sondern minutiös geplant ist.

Yasmina Reza – Serge

Yasmina Reza – Serge

Die drei Kinder der Familie Popper könnten kaum verschiedener sein. Als die Mutter stirbt, wird dies dem Lebemann Serge, dem ewig unentschlossenen Jean und ihrer kleinen Schwester Nana bewusst. Auch ihre Wurzeln kennen sie nicht, weshalb der Vorschlag von Serges Tochter Joséphine, nach Auschwitz zu fahren und die Spuren der mütterlichen Verwandtschaft zu erkunden, aufgegriffen wird. Ein Familienausflug ins Vernichtungslager – diese absurde Konstruktion kann nur der Meisterin der zwischenmenschlichen Eskalation einfallen.

Yasmina Reza erspart ihren Figuren auch in „Serge“ nichts. Ein gänzlich unjüdische Familie, die alle Konflikte eskalieren lässt und sich auch am schlimmsten Erinnerungsort Europas nicht davon abhalten lässt. Weshalb die Autorin dem ältesten Bruder die Ehre der Titelgebung gemacht hat, bleibt für mich indes unklar, denn erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive Jeans, der immer zwischen den Geschwistern stand und so ganz natürlich die Rolle des Vermittlers und Schlichters bekommen hat, die er aber nur mäßig ausfüllen kann.

„Souviens-toi. Mais pourquoi ? Pour ne pas le refaire ? Mais tu le referas. Un savoir qui n’est pas intimement relié à soi est vain. Il n’y a rien à attendre de la mémoire. Ce fétichisme de la mémoire est un simulacre. “

Der Tod zieht sich in unterschiedlichen Facetten durch das Buch. Erst der Verlust der Mutter, dann, im Zentrum des Romans, der Besuch in Auschwitz. Bemerkenswert, wie hübsch der Bürgermeister im Übrigen die Stadt mit Blumen hergerichtet hat. Die Erinnerung an den Holocaust wird auch von der kleinen Reisegruppe in all ihrer Absurdität zelebriert. Sich an etwas erinnern, das man gar nicht erinnern kann, Menschen gedenken, die man nicht kennt. Und eigentlich sind es doch eher die weltlichen Dinge, die mehr interessieren.

Reza gelingt es einmal mehr, ähnlich wie ihrem Landsmann Michel Houellebecq, den Finger in eine Wunde – hier: die französische Erinnerungskultur, nicht nur bezogen auf den Mord an Millionen Juden, sondern auch an jüngste Opfer von Anschlägen – zu legen, sondern gleichzeitig auch den feinen Sarkasmus und Ironie französischer Komödien in derselben Geschichte unterzubringen. Sprachlich wie gewohnt ausgefeilt und ein Genuss zu lesen.

Zwar fand ich „Serge“ insgesamt etwas schwerer zugänglich als beispielsweise den „Gott des Gemetzels“ oder „Kunst“, aber vielleicht benötigt der Roman auch einfach nur etwas mehr Raum zum Wirken. Lesenswert ist er ganz ohne Frage.