Édouard Louis – Anleitung ein anderer zu werden

Édouard Louis – Anleitung ein anderer zu werden

Mit seinem Roman „Das Ende von Eddy“ ist Édouard Louis 2014 schlagartig zum Star geworden. Der autobiografische Roman, der von seiner ärmlichen und von Gewalt geprägten Kindheit auf einem Dorf in der französischen Picardie erzählt, wurde mit Begeisterung aufgenommen. Es folgten „Im Herzen der Gewalt“, „Wer hat meinen Vater umgebracht“ und „Die Freiheit einer Frau“, die alle Themen seines Lebens aufgriffen – Gewalterfahrung, die schwierige Beziehung zu seinem Vater, das trostlose Leben seiner Mutter. Nun widmet er sich seiner Transformation, dem schwierigen Wegs aus dem unteren Arbeitermilieu über das Bürgertum bis hin zu den Reichen und Adligen, die die anerkanntesten Universitäten des Landes besuchen. Es ist sein Leben, aber nicht nur eines, denn er hat auf dem Weg zum berühmten Schriftsteller zahlreiche Leben gelebt – und das mit nicht einmal 30 Jahren.

Es ist die Geschichte eines Kindes, das anders ist als die anderen, das früh Ausgrenzung und Diffamierung erlebt und nicht die Erwartungen der Familie, des Umfelds erfüllen kann. Er zieht sich zurück, versteckt sich in den Pausen in der Bibliothek, wo er auf den ersten Menschen trifft, der ihm eine Tür öffnet: die Tür zum Gymnasium. Als er Hallencourt hinter sich lässt und nach Amiens zieht, beginnt seine Verwandlung. Seine Freundin Elena zeigt ihm, dass es auch andere Leben gibt als jenes, das er kennt. Er macht Bekanntschaft mit Kunst und Literatur, saugt das bürgerliche Leben auf und ist wie betrunken davon. Zugleich entfernt er sich zunehmend von seiner Herkunft. Als er bei einer Lesung des Philosophen und Soziologen Didier Eribon hört, der einen ganz ähnlichen Weg hinter sich hat, erkennt er, dass er gerade Mal eine einzige Etappe gemeistert hat. Es gibt noch viel mehr, jenseits von Amiens und er entwickelt ein neues Ziel: es kann nicht weniger als die berühmte École normale supérieure für ihn sein, auch wenn alles dagegen spricht, dass er dort aufgenommen wird.

Louis schildert die Geschichte eines Aufstiegs, des Weges von der ärmlichsten Klasse, wo das Essen knapp ist und Fernsehen und Alkohol dominieren, hin zum intellektuellen Olymp Frankreichs. Der junge Eddy merkt bald, dass es nicht alleine die formale Bildung, der Schulabschluss des Abiturs ist, der den Unterschied macht. Mit seiner Herkunft geht auch ein Habitus einher, den er nicht so leicht ablegen kann. Die Sprache verrät ihn, er muss lernen sich richtig zu kleiden, das Besteck anders zu halten – und immer wieder gibt es Grenzen. Jede Stufe höher, jede neue Klasse endet letztlich in der Erkenntnis, dass es noch eine andere darüber gibt.

Die Demütigungen, die er als Kind erlebt hat, die Scham ob seiner bescheidenen Herkunft, aber auch die Wut auf die Eltern, die ihm nicht das gegeben haben, was andere ihren Kindern mitgeben – all das treibt ihn an und immer weiter. Zugleich kann er das Gefühl nicht ablegen ein Eindringling zu sein, nie wirklich dazuzugehören. Am Ende ist nichts mehr von dem kleinen Eddy übrig, als er plötzlich doch wieder alles infrage stellt.

Das Thema des sozialen Aufstiegs ist seit einigen Jahren in autofiktionalen Romanen in Frankreich wie auch in Deutschland populär. Christian Baron schildert seinen Weg in „Ein Mann seiner Klasse“, Deniz Ohde in „Streulicht“ die komplexe Beziehung zum Vater, nachdem sie sich als Kind entfernt hat. Jenseits der Grenze setzen sich beispielsweise der bereits erwähnte Eribon in „Retour à Reims“ oder Annie Ernaux etwa in „La Honte“ mit der Frage von Herkunft, Identität und den sozialen Klassen auseinander. Sie alle zeigen, dass Bildung allein nicht ausreicht, wie sehr die Herkunft prägt und dass nur ein Bruch mit dieser zu dem tatsächlichen Aufstieg führen kann – ein Preis, der hoch ist. Mit einigen Jahren Abstand erkennt das auch Édouard Louis, weshalb seine Bücher nicht nur seine Therapie sind, sondern auch eine Gesellschaftskritik, die nachdenklich stimmt und für Deutschland genauso wahr ist, wie für Frankreich.

Natasha Brown – Assembly [Dt. Zusammenkunft]

Natasha Brown – Assembly (Zusammenkunft)

Eine junge Frau aus bescheidenen Verhältnissen. Arbeite hart, mehr als die anderen, pass dich an. Das haben ihr ihre Eltern mitgegeben. Sie hat fleißig gelernt, einen guten Abschluss an einer renommierten Universität gemacht, einen Job im Finanzsektor ergattert und doch besteht ihr Alltag hauptsächlich aus Diskriminierungserfahrungen. Weil sie eine Frau ist. Weil sie die falsche Hautfarbe hat. Weil sie der falschen Klasse entstammt. Im Privaten? Nicht viel besser. Die Familie ihres Freundes toleriert sie, sie ist nur eine Phase, aber ganz sicher keine standesgemäße Partie, die als heiratstauglich angesehen werden könnte. Sie hat alles getan, um dazuzugehören und hat doch keinen Platz erhalten.

Natasha Browns Debütroman „Assembly“ (dt. Zusammenkunft) ist mit begeisterten Stimmen aufgenommen und vom Feuilleton gefeiert worden. Rassismus, Klassismus, Misogynie – sie bringt die großen Themen auf kaum mehr als 100 Seiten zusammen und verdeutlicht damit, dass Großbritannien nichts von all dem überkommen hat, was seit Jahrzehnten beklagt wird. Wichtige Aspekte, Themen, über die gesprochen werden sollte, aber: das hat man schon besser gelesen. Die Protagonistin kann sich kaum entwickeln, da ist der Roman – oder ehe: die Novelle – schon wieder zu Ende. Themen anreißen, ja, aber wichtiger wäre noch eine gewisse Tiefe.

Mir fehlt in der Geschichte ein wenig die Kohärenz, eher episodenhaft werden Szenen präsentiert, in denen die Hauptfigur Diskriminierungserfahrungen macht, sei es aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Klasse oder ihrer Hauptfarbe. Sie versucht sich anzupassen, was nur leidlich gelingen kann und immer wieder wird sie zur Projektionsfläche derer, die gescheitert sind und sie dafür verantwortlich machen – als Frau, als Ausländerin, da werden ihr die Jobs ja geradezu nachgeworfen, nur um Diversität zu fördern.

Sie ergibt sich, schweigt, spielt mit – im Gegensatz zu ihrer Freundin Rach, die lauthals für die Gleichberechtigung einsteht. Die Protagonistin schafft es hingegen nicht einmal vor Schulkindern ehrlich von ihren Erlebnissen zu berichten. Der Kampf wäre auch nicht einfach möglich, zu schwer wirkt die Intersektionalität; es ist eben nicht der eine Grund, der sich zum Opfer von Diffamierung macht und sie daran hindert, sich mit einer bestimmten Gruppe zu identifizieren.

Trotz all dem, was in der kurzen Geschichte steckt, für mich waren hier Bernardine Evaristo mit ihrem Roman „Girl, Woman, Other“ oder auch mit ihrem Sachbuch „Manifesto“ ebenso wie Michaela Coels „Misfits“ viel greifbarer und ausgereifter in der Thematik.