Nicolas Mathieu – Connemara

Nicolas Mathieu – Connemara

Hélène hat erreicht, wovon sie als Jugendliche geträumt hat. Sie hat einen Abschluss einer renommierten Hochschule, einen gut bezahlten Job, einen erfolgreichen Mann und zwei Töchter – der soziale Aufstieg aus der Arbeiterklasse ist geglückt. Doch eine Depression und die Überforderung bringen sie und ihre Familie aus Paris zurück in die lothringische Provinz. Zunächst erholt sie sich, doch bald schon stellen sich die alten Gefühle wieder ein und sie droht erneut abzustürzen. Doch dann trifft sie Christophe wieder, den Eishockeyspieler, den sie als Teenager anhimmelte und mit dem sie versucht das nachzuholen, was sie lange entbehrte.

Der Prix Goncourt Preisträger Nicolas Mathieu hat sich einem Thema angenommen, dass auch in der autobiografisch geprägten Literatur seit einiger Zeit omnipräsent ist und wofür nicht zuletzt Annie Ernaux jüngst den Literaturnobelpreis erhielt. „Connemara“ folgt einer jungen Frau, die geprägt ist vom Arbeitermilieu mit seinen spezifischen Werten und Lebensentwürfen, die jedoch als junges Mädchen schon ahnt, dass das Leben mehr zu bieten hat und die sich den sozialen Aufstieg hart erkämpft. Den zweiten Schwerpunkt des Romans bildet jene Krise, die immer mehr erfolgreiche Menschen schon früher als die klassische Midlife-Crisis zu treffen scheint: beruflich wie privat alles erreicht, ein Leben wie aus dem Bilderbuch, das dann mit Wucht von einer Depression und der Frage nach dem Sinn getroffen wird.

Trotz allem Erfolg legt Hélène nie das Gefühl ab, nicht zu genügen. So sehr sie an sich arbeitet, sie kann ihre Herkunft nicht ablegen und muss in aller brutaler Härte erfahren, dass sie als Frau auch immer beim Aufstieg in die höchsten Etagen den Kürzeren ziehen wird. Dem Takt der Großstadt kann sie entfliehen, doch auch in der Provinz gelten letztlich dieselben Regeln. Die Affäre mit Christophe scheint der Ausweg, doch letztlich bringt das auch nur das, was eine Affäre ist: eine kurzzeitige Befriedigung.

Christophe ist ein interessanter Gegenentwurf, obwohl als Ehemann – und eigentlich auch als Vater – gescheitert und beruflich weit weniger erfolgreich als Hélène wird er zur Sehnsuchtsfigur aus einer Erinnerung heraus. Er lebt in der Vergangenheit, will alte Erfolge im Sport wieder heraufbeschwören, die ihm die Bewunderung von Mädchen einbrachte. Doch auch für ihn hat das Leben andere Pläne.

Gemeinsam ist beiden eine Unzufriedenheit. Auch wenn Träume verwirklicht werden konnten, hat das Leben die Erwartungen nicht erfüllt und ist im Jetzt gespickt von Enttäuschungen, Problemen und einem Gefühl der Verzweiflung.

Die Stärke Mathieus liegt ganz ohne Frage darin, das Empfinden seiner Figuren greifbar zu machen. Sowohl die jugendlichen wie auch die erwachsenen Figuren wirken authentisch und transportieren das Lebensgefühl einer Generation von Aufsteigern, die hart arbeiten, sich anpassen und am Ende erkennen, dass das Glück doch nicht auf sie wartet. Ein starkes Portrait einer modernen Art von verlorener Generation.

Karine Tuil – La décision [Die Entscheidung]

Karine Tuil – La décision

Alma Revel ist Ermittlungsrichterin bei der Pariser Terroreinheit. Nach den Anschlägen 2015 ist die Lage dauerhaft angespannt und die Ermittler stehen unter enormem Druck von der Presse und der Öffentlichkeit. Der Fall eines jungen Mannes, der mit seiner Freundin nach Syrien gereist war, um sich dem IS anzuschließen und der nun zurück in Frankreich ist, stellt sie vor eine Zerreißprobe. Verteidiger des Mannes ist ausgerechnet jener Anwalt, mit dem sie seit Monaten eine Affäre hat. Er argumentiert, dass man dem Angeklagten keine konkrete Tat oder Tatbericht nachweisen kann, er beteuert auch seine Läuterung, aber kann Alma das glauben? Sie muss eine Entscheidung treffen, die im schlimmsten Fall das ganze Land gefährdet oder aber das Leben eines Unschuldigen zerstört.

« Dans le cadre de mes fonctions de juge antiterroriste, j’ai pris une décision qui m’a semblé juste mais qui a eu des conséquences dramatiques. Pour moi, ma famille. Pour mon pays. »

Karine Tuil stellt ihre Protagonistin in „La décision“ gleich auf mehreren Ebenen vor nicht lösbare Entscheidungen. Alma befindet sich im Dauerkonflikt, dem sie kaum entkommen kann. Nervenstark muss sie in dieser Position sein, doch vor dem Hintergrund ihres privaten Chaos mit der Trennung von ihrem Mann gerät sie an den Rand ihrer Möglichkeiten. Der Fall lässt Aussage gegen Aussage stehen, es gibt keine belastbaren Argumente für die oder die andere Seite und die Verantwortung für das Leben des jungen Mannes, ebenso wie für ihr Land liegt bei ihr.

Man erkennt in dem Roman schnell die Handschrift der Autorin, die für ihren letzten Roman „Menschliche Dinge“ mit dem Prix Interallié und dem Goncourt des Lycéens ausgezeichnet wurde. Wieder einmal sind es Figuren im mittleren Alter, die zum einen vor der Sinnfrage ihrer getroffenen Entscheidungen stehen, sie zum anderen aber mit der aktuellen Situation Frankreichs unmittelbar verbunden sind. Themen, die das Land bewegen, finden sich auch in Tuils Romanen, hier nun die Anschläge, die Frankreich in eine Schockstarre versetzten. Die Angst vor neuerlichen Todesopfern durch radikalisierte Islamisten ist zum Greifen, die Ermittlungsrichterin spürt die Last der Erwartung von Millionen Menschen auf ihren Schultern, dass sie permanent Drohungen erhält und auch tätlich angegriffen wird, trägt zudem zur Anspannung bei. Durch die Erzählperspektive befindet man sich in Almas Kopf, durchlebt mit ihr das Wechselbad der Gefühle und die Belastung, die sie beinahe zerreißt.

Es ist der entscheidende Moment im Leben der Protagonistin wie auch des Angeklagten. Man weiß, dass die Entscheidung nicht ohne Folgen bleiben wird, doch welche und für wen? So wird neben der wieder einmal brillanten Figurenzeichnung auch eine enorme Spannung aufgebaut und man selbst fragt sich, wie man entschieden hätte, welchen Eindruck man aus den Befragungen gewonnen hat und welche Schuld man damit vielleicht auf sich geladen hätte.

Arianna Farinelli – Aufbrüche

Arianna Farinelli – Aufbrüche

Bruna, Professorin für Globalisation Studies in New York, ist erschüttert, als sie mit ansehen muss, wie ihre amerikanische Wahlheimat 2016 ins Chaos taumelt und der unsäglich und ungenannte Immobilienhai zum Präsident gewählt wird. Sie kennt als Expertin die Strukturen von Hass, weiß, wie Menschen reagieren, wenn sie unzufrieden sind mit ihren Regierungen und welche Folgen das haben kann, droht das nun auch den USA? Doch nicht nur die politische Lage ist prekär, auch ihr Familienleben liegt in Trümmern: seit einigen Wochen schon hat sie eine Affäre mit Yunus, einem ihrer Studenten. Nun steht die Polizei in ihrem Büro und fragt nach dessen Verbleib, denn es scheint, als hätte sich der junge Mann radikalisiert und dem IS angeschlossen. Dass sie von ihm schwanger ist, macht die Lage mit ihrem erzkonservativen Mann und den beiden Kindern nicht leichter.

Arianna Farinelli ist selbst, genauso wie ihre Protagonistin, italienischer Abstammung und lehrt Politikwissenschaften in New York. „Aufbrüche“ ist ihr vielbeachtetes Debüt, das im Originaltitel „Gotico Americano“ auf ein Bild von Grant Wood anspielt („American Gothic“), einem Nationalheiligtum, das den amerikanischen Pioniergeist und das ländliche Leben preist. Genau jene ländliche Bevölkerung war es auch, die mit ihrem rückwärtsgewandten Blick, den das Bild illustriert, den politischen Erdrutsch verursachte. Die politische Ebene wird durch jene der Familie gespiegelt, in der die beiden Ehepartner ebenfalls auseinandertriften: Tom aus konservativer Familie mit ebensolchen Ansichten, der den progressiven Ansichten seiner Frau kaum mehr folgen kann.

Der Roman wird in vielen Rückblenden erzählt und kommt immer wieder in die Gegenwart, die sich bereits in einem desaströsen Zustand befindet, zurück. Dabei wechseln sich die großen Blickwinkel der weltpolitischen Lage und ihrer wissenschaftlichen Analyse zunächst mit den Disruptionen im Nukleus der Familie ab. Besonders interessant hier, wie differenziert es der Autorin gelingt, die Situation der italienischen Einwanderer, die je nach Einwanderungszeitpunkt gänzlich unterschiedlich in die amerikanische Gesellschaft aufgenommen wurden, mit zu integrieren. Bruna bleibt formal genauso ein „Alien“ wie sie sich Toms Familie immer fremd fühlt.

Einen Nebenkriegsschauplatz ist die Situation ihres Sohnes, der schon als kleines Kind lieber mit Puppen spielt und Kleider tragen will als den gesellschaftlichen Vorstellungen eines Jungen zu entsprechen und mit den anderen wilde Spiele zu verfolgen. Mario benötigt zunächst keine Bezeichnung für das, was er ist oder wie er sich fühlt, nur wäre er lieber eigentlich Maria als Mario – dass er damit für seinen Vater und dessen Familie Enttäuschung darstellt, ist keine Frage. Der Großvater hat auch keine Hemmungen, den noch kleinen Jungen übel abzuqualifizieren. Mit einer unsichtbaren Freundin und seiner cleveren und mental starken Schwester jedoch kann er seinen Platz finden.

Ein vielschichtiger Roman, der gleich mehrere große Themen anreißt, alles zentriert um eine interessante und ebenso vielschichtige Protagonistin, deren Leben an einem Scheidepunkt steht, bei dem nicht klar ist, welcher Weg für sie am Ende wartet.

Katharina Schaller – Unterwasserflimmern

Kann man sich einfach weigern, erwachsen zu werden? Die Ich-Erzählerin ist Anfang 30 und schon seit neun Jahren in einer festen Beziehung mit Emil. Der Architekt hat viel Geduld mit der jüngeren Partnerin gehabt, doch nun will er sesshaft werden, ein Haus bauen, Kinder bekommen, genauso wie die Freunde auch. Der Erzählerin macht das Angst, sie berichtet ihrer Affäre Leo davon, der seinerseits Familie und außerfamiliäre Beziehungen locker unter einen Hut bringt. Sie weiß nicht, was sie will und läuft daher davon. Steigt in den Zug und reist in die unbekannte Ferne. Dort warten lockere Flirts und unbedeutende Bekanntschaften. Einer Antwort auf die Frage, was sie in ihrem Leben möchte, findet sie jedoch auch nicht und so zieht sie immer weiter.

Katharina Schallers Debütroman reizt immer noch vorhandene gesellschaftliche Grenzen aus. Muss man dem gängigen Bild von Beziehung und Familie entsprechen, zu einem bestimmten Punkt im Leben sesshaft werden und das Leben in einer vorbestimmten Weise absolvieren? Was spannende Fragen sind und vor allem Frauen um die 30 auch real beschäftigt, konnte mich leider nicht wirklich erreichen. Die Protagonistin nähert sich den Fragen für meinen Geschmack infantil ohne jegliche Versuche, zu einer ernsthaften Antwort zu kommen. Wegzulaufen und sich dem Nächstbesten in die Arme zu werfen erscheint mir als wenig nützliches Konzept bei der Lösungsfindung.

„Ich lächle ihn an. Er lächelt zurück. Man kann sich attackieren mit einem Lächeln, denke ich. Man kann damit die eigene Überlegenheit ausdrücken, und das hier ist so eines. Nicht nur seines, auch meines.“

Gesunde Beziehungen führt die Erzählerin nicht. Auf der emotionalen Ebene scheint sie völlig abgeklärt und die Männer austauschbar. Einzig der Sex interessiert sie, wobei auch da kaum eine Rolle zu spielen scheint, mit wem sie gerade das Bett teilt. In immer wieder ausufernden Beschreibungen lässt die Autorin den Leser daran teilhaben. Mag manchen gefallen, im Genre Literatur muss es für mich nicht auf Porno-Niveau zugehen – schon gar nicht verbal – weshalb ich auch immer wieder Seitenweise überblättert habe.

Um emotional mit einem Text in Kontakt zu treten, muss es einen Anker geben oder eine Verbindung, die mir leider gänzlich fehlte. Das naive Verhalten hat mich genervt, an irgendwie sinnvollen Gedanken kam für ich auch nichts wirklich rum. Mit 17 hätte ich den Mut der Frau einfach auszubrechen vielleicht noch bewundert. Naja, mit 17 halt. Gesellschaftliche Grenzen so auszuloten funktioniert nicht wirklich, da man die Protagonistin kaum ernstnehmen kann, narzisstisch bewegt sie sich durch ihr Leben und eigentlich ist ja schon längst egal, was die Menschen um sie herum denken und tun.

So schnell es sich liest, so wenig nachhaltig wirkt es und relevant ist es. Leider die Erwartungen enttäuscht.

Alena Schröder – Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid

Alena Schröder – Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid

Hannah hat nur noch ihre Oma Evelyn, die mit 95 Jahren ihre letzten Tage im Seniorenheim erlebt. Als sie dort eines Tages einen Brief findet, ist sie mehr als erstaunt: eine Kanzlei will sich um die Restitution des in der Nazi-Zeit gestohlenen Kunstschatzes der Familie kümmern. Hannah wusste gar nicht, dass sie jüdische Vorfahren hatte. Hatte sie auch nicht, Evelyns Mutter hatte ihre Tochter einst bei der Schwägerin zurückgelassen, um in Berlin ein neues Leben zu beginnen und dort in die jüdische Kunsthändler-Familie Goldmann eingeheiratet. Zwischen Mutter und Tochter war der Riss nie mehr zu kitten und Evelyn wollte für immer alle Bände zerschnitten wissen, weshalb Hannah sich nun alleine auf die Suche nach der unbekannten Familiengeschichte macht.

Alena Schröder hat lange Zeit als Journalistin gearbeitet und nebenbei bereits eine Reihe von Sachbüchern und die Reihe der „Benni-Mama“ veröffentlicht. In ihrem Roman mit dem sperrigen Titel „Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid“ greift sie ein bekanntes Sujet auf, das auch recht klassisch erzählt wird: die unbekannte Familiengeschichte aus der Nazi-Zeit, die im Wechsel mit der Gegenwartshandlung und der Enkelgeneration geschildert wird, wo man sich dem Mysterium der eigenen Vergangenheit annähert. Die Autorin setzt dies sehr ansprechend und routiniert um, ein Roman, den man gerne liest und der auch durchaus spannende Momente zu bieten hat.

Die Frauen der Familie sind ohne Frage alle auf ihre Weise eigenwillig. Zunächst Senta, die von dem schillernden Leben in Berlin träumt, dafür Sicherheit und Tochter aufgibt, aber in den schwersten Stunden pragmatisch und beherzt handelt. Leider ist es ihr nie gelungen, sich der Tochter zu vermitteln, nicht nur, weil Evelyn quasi keine Erinnerung an sie hat, viel mehr noch weil das schwere Zepter der bösartigen Tante sie zu sehr geprägt hat als dass sie als erwachsene Frau großzügig vergeben könnte. Die Erfahrungen als Kind haben sie hart gegen sich und andere werden lassen. Dass dies keine guten Voraussetzungen sind, um selbst eine zugewandte, liebende Mutter zu werden, war absehbar und so bleibt auch die Beziehung zwischen ihr und Silvia immer etwas unterkühlt, wenn sie auch zur Stelle ist, wenn sie gebraucht wird. Hannah hat ihre Mutter früh verloren, zu der Großmutter jedoch eine enge Verbindung, wenn diese auch an ihrem Lebensabend störrisch und unkooperativ bleibt. Der jungen Frau fehlt jedoch noch das Ziel im Leben, die Promotion plätschert vor sich hin, die Affäre mit ihrem Doktorvater ist auch eher einseitig und wenig zukunftsträchtig.

Der Handlungsstrang um die jüdische Familie Goldmann erzählt die Geschichte, wie es sie hundertfach gab. Zunehmende Restriktionen unter den Nazis, Publikationsverbot für Senta und ihren Mann in ihrem Verlag und letztlich die Enteignung und Deportation. Ein leider recht typisches Schicksal, das die nachfolgenden Generationen, sofern es sie denn gibt, mühsam aufarbeiten müssen.

Ein Roman über die unergründlichen Wege, die das Leben manchmal nimmt und die Gabelungen, die zu Entscheidungen mit ungewissem Ausgang zwingen.

Géraldine Dalban-Moreynas – On ne meurt pas d’amour [dt. An Liebe stirbst du nicht]

Géraldine Dalban-Moreynas – On ne meurt pas d’amour

Gerade hat ihr Freund ihr auf dem Empire State Building einen filmreifen Heiratsantrag gemacht und sie das perfekte Loft gefunden, als es sie aus heiterem Himmel trifft. Ein Blick genügt und um sie und den neuen Nachbarn ist es geschehen. Zunächst nur freundliches Grüßen, gestohlene Blicke hier und da, aber sie wissen beide sofort, dass dies nicht lange so bleiben wird. Doch sie ist verlobt, der Hochzeitstermin steht, er hat Frau und eine kleine Tochter. Aber das, was sie verbindet, ist stärker und so beginnen sie eine Affäre. Heimliche Treffen, gemeinsame Nachmittage und Nächte. Aber es ist klar, dass dies nicht lange gutgehen kann. Bis er sich entscheiden muss. Und dies tut. Oder auch nicht.

« Il en fait ce qu’il veut. Il la quitte, il la reprend, il la jette, il la rattrape d’un doigt. Elle dit oui. À tout et à n’importe quoi. Elle dit oui parce qu’elle est incapable de dire non. »

Géraldine Dalban-Moreynas Romandebüt wurde 2019 mit dem „Prix du premier roman“ als bestes Erstlingswerk junger Autoren ausgezeichnet. Die Geschichte zwischen der Journalistin und dem Anwalt ist keine Liebesgeschichte, es ist eine Amour fou, eine Obsession, die die Figuren in einer Bubble leben lässt, die die Außenwelt ausblendet und sie blind macht. Eine gegenseitige Abhängigkeit, die stärker ist als alle Drogen und einen klaren Kopf und Entscheidungsfähigkeit ausschließt.

« Jalousie absurde. L’histoire est absurde. L’amour est absurde. »

Die Geschichte wird aus Sicht der Journalistin erzählt, die eigentlich von einem biederen Leben der Pariser Mittelschicht träumt – Mann, Kind, hübsche Wohnung mit all den unnützen Gegenständen, die man eben so besitzt, aber nie benötigt –und die völlig von ihren Emotionen überrannt wird. Nach Wochen und Monaten des heimlichen Zusammenseins muss das böse Erwachen kommen. Und mit diesem kommt auch der Schmerz.

« Elle se dit que chaque fois la douleur a été plus violente. Elle n’ose imaginer la prochaine fois. »

Er liebt seine Noch-Ehefrau nicht mehr, ohne Frage, aber er liebt seine Tochter, die er nicht aufgeben will. Trennt er sich, verliert er auch sie. Eine Entscheidung, die er nicht treffen kann. Und sie leidet. Jedes Mal mehr. Aus Liebe wird Qual, so hoch sie fliegen, wenn sie zusammen sind, so tief ist der Fall und so hart ist der Aufschlag, wenn er ins eheliche Nest zurückkehrt. Ewig könnte dies weitergehen, außer ein dramatischer Einschnitt kommt. Und das tut er.

Es ist keine Liebesgeschichte, bei der man mit den Figuren liebt und ein wenig leidet und weiß, dass das Happy-End unweigerlich kommt; die Figuren bleiben dadurch, dass sie nicht einmal Namen haben, ein bisschen fern, was aber die Intensität ihres Leids auch abmildert, diese wäre vor allem im letzten Drittel auch kaum mehr auszuhalten. Auch wenn der Titel Gegenteiliges behauptet, man ist sich zwischendurch nicht sicher, dass die Protagonisten diese Obsession überleben. Géraldine Dalban-Moreynas schreibt intensiv und es gelingt ihr so, die Geschichte greifbar und für den Leser auch durchaus fühlbar zu machen.

Lilja Sigurðardóttir – Das Netz

Lilja Sigurðardóttir Das Netz
Lilja Sigurðardóttir – Das Netz

Ihre Liebe wird ihr zum Verhängnis. Als ihr Mann Adam sie mit Agla zusammen erwischt, ist es ganz aus zwischen ihm und Sonja. Die Ehe war da schon längst gescheitert, aber für ihren Sohn Tómas war sie geblieben. Ein neues Leben ohne ihren Mann und sein Einkommen aufzubauen, ist nicht einfach und bald schon gerät Sonja in arge Schwierigkeiten, aus denen ein Freund ihr anbietet zu helfen. Nur einen Botendienst soll sie erledigen, doch der hat es in sich. Sie soll Kokain nach Island schmuggeln. Unerwarteterweise ist Sonja gut darin, völlig unauffällig bewegt sie sich als Businessfrau auf den Flughäfen und akribisch bereitet sie den Transport vor. Doch genau das wird ihr zum Verhängnis: ihr attraktives unscheinbares Auftreten fällt Bragi Smith auf. Der Zollbeamte hat viele Jahre Erfahrung und erkennt die Schmuggler. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihm Sonja ins Netz geht.

„Das Netz“ ist Band 1 der Reykjavík Noir Trilogie von Lilja Sigurðardóttir. Mit Sonja Gunnarsdóttir hat die isländische Autorin eine ungewöhnliche Protagonistin geschaffen. Eine Mutter, die nach der Trennung in eine schwierige Lage gerät, die von mächtigen Männern gnadenlos ausgenutzt wird, sich aber dann zunehmend ihrer Stärken bewusst wird und diese für sich einzusetzen weiß. Sie kennt ihre Gegner nicht wirklich, zu unbedarft ist sie noch, doch als sie erkennt, in welchem Netz sie gefangen ist, weckt dies ihre Kämpfernatur.

Die Spannung des Krimis wird gleich durch zwei parallel verlaufende Bedrohungen aufrechterhalten: zum einen ist Sonja den Drogenbossen wehrlos ausgeliefert; sie lebt zwar noch in der Illusion, sich irgendwann freikaufen zu können, dass dies aber eher einem Wunschdenken geschuldet ist, kann man sich als Leser ausrechnen. Auf der anderen Seite ist ihr der Zollbeamte Bragi auf die Spur gekommen, der sie gleichermaßen zu Fall bringen kann und die Aussicht, das Sorgerecht für ihren Sohn zu erhalten damit bedroht. Emotional sitzt sie ebenfalls zwischen den Stühlen. Der nicht enden wollende Kampf mit ihrem Ex-Mann ist genauso zermürbend wie die Beziehung zu Agla, die sich nicht wirklich zu der Beziehung mit einer Frau bekennen kann und will.

Bei all den Sorgen fehlt Sonja der Kopf, um die Ermittlungen, die gegen die Bankmitarbeiterin Agla eingeleitet wurden, ernsthaft zu verfolgen. Diese hat offenbar nicht unwesentlich daran Anteil, dass der kleine Inselstaat in eine finanzielle Katastrophe geraten ist, doch nun soll sie für ihre Spekulationen und Geldwäsche bezahlen.

Man muss den Krimi sicher als Teil einer Serie sehen, denn so ganz glücklich lässt er mich nicht zurück. Viele Fragen bleiben offen und der Cliffhanger zum Ende ist ohnehin etwas, das ich nicht wirklich schätze. Die kurzen Kapitel tragen zu dem schnellen Erzähltempo bei, im Laufe der Handlung nimmt diese auch deutlich an Spannung und Komplexität zu, bevor gleich mehrere Enthüllungen so manches in einem völlig anderen, aber nicht minder interessanten Licht erscheinen lassen. Die Autorin hat eine komplexe Geschichte erschaffen, die von der außergewöhnlichen Protagonistin lebt und mit einigen Überraschungen aufwartet.

Adrienne Brodeur – Wild Game

adrienne brodeur wild game
Adrienne Brodeur – Wild Game

Rennie ist 14 als der alles verändernde Kuss geschieht. Nicht sie selbst ist es, sondern ihre Mutter, Malabar, die Ben, den seit Jahrzehnten besten Freund ihres Gatten, küsst und damit alles aus den Fugen gerät. Die schillernde Frau geht eine Affäre ein und macht ihre Tochter nicht nur zur Mitwisserin, sondern zur Gehilfin, um ihre Treffen mit Ben zu decken, und zu ihrer Vertrauten, die sich alles anhören muss. Rennie hat ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrem Stiefvater, aber die Sehnsucht nach der Nähe zur Mutter und deren Aufmerksamkeit, lassen ihr keinen anderen Ausweg. Als das Verhältnis droht aufzufliegen, ist sie zur Stelle, wann auch immer ihre Mutter leidet, spendet sie Trost. Dabei vergisst sie selbst jedoch den Abnabelungsprozess, den sie als junge Frau vollziehen sollte und wähnt sich in der Illusion, die geliebte Tochter zu sein. Tatsächlich ist sie nur eins: ein notwendiges Hilfsmittel.

Adrienne Brodeur verarbeitet in ihrem Buch ihre komplizierte Beziehung zur Mutter und schildert, welche drastische Folgen diese toxische Beziehung für sie auch viele Jahre später als eigentlich unabhängige Erwachsene hat. Selbst Kind einer allseits bewunderten, strahlenden Frau, hat Malabar nie gelernt zu lieben oder die Perspektive anderer einzunehmen. Ein Schicksalsschlag in jungen Jahren verhindert letztlich eine bedingungslose Beziehung zu ihren Kindern, die ihrerseits so sehr nach Zuwendung lechzen, dass sie aus diesem fragilen und schädlichen Beziehungsgebilde nicht herauskommen.

Anfangs hat das Geheimnis um das Verhältnis noch spannende und reizvolle Aspekte. Mit der Mutter ein so großes Geheimnis zu teilen, lässt das Mädchen geradezu euphorisch werden und sie deutet dies nicht nur als Vertrauens- sondern als Liebesbeweis. Gerne unterstützt sie das Spiel mit den anderen, unbedarft und nicht berücksichtigend, welche Folgen dies für die beiden anderen Partner haben kann. Doch je älter Rennie wird, desto deutlicher erkennt sie ihre Rolle im Leben ihrer Mutter. Schnell ist sie ersetzbar, ihr eigenes Leben und Leid wird gar nicht wahrgenommen und die psychologische Last, die sie seit Jahren mit sich herumträgt, muss zwangsläufig irgendwann in einer manifesten Erkrankung enden. Was von außen eine völlig klare und nachvollziehbare Entwicklung ist, wird von der Autorin an diesem Punkt nicht erkannt, zu sehr steckt sie fest als dass sie sich lösen und einen Schritt beiseite treten könnte, um einen anderen Blickwinkel zu gewinnen.

Es gelingt Adrienne Brodeur den perfekten Ton zu finden, um nicht verbittert ihre Erfahrungen zu schildern, sondern die verschiedenen Stadien, die sie durchläuft, auch sprachlich widerzuspiegeln. Der lockere, neugierig-heitere Ton begleitet die Anfangsphase, ernstere folgen je älter sie wird, bis schließlich der psychologische Tiefpunkt erreicht wird und sie erkennen muss, was aus ihrem Leben geworden ist. Aus dem naiven Mädchen wird die differenzierter denkende junge Frau und schließlich eine Erwachsene, die sich der unerfreulichen Realität und Erkenntnis stellen muss. So wie sie durch die Literatur sich selbst erkannt hat, kann sicherlich auch ihr literarischer Verarbeitungsprozess andere dazu ermutigen, ihre Beziehungen zu hinterfragen.

Michaela Kastel – Worüber wir schweigen

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Michaela Kastel – Worüber wir schweigen

Wie froh sie war, nach der Schule einfach aus dem Kaff abhauen zu können. Doch nun, zwölf Jahre später, kehrt Nina zum ersten Mal zurück, denn sie muss etwas erledigen. Sie muss ihre ehemals beste Freundin Mel treffen und Tobias, den Bruder von Mels damaligem Freund Domi. Beide leben immer noch dort, Mel vor Depressionen kaum fähig das Haus zu verlassen, und Tobias, um seine Mutter in ihrer Trauer zu unterstützen. Nina war schon weggezogen als es passierte, doch nun weiß sie, dass das, was sie für die Wahrheit hielt, nur eine Geschichte war. Was wirklich geschah, will sie von Mel und Tobias hören.

Nachdem mich Michaela Kastel im letzten Jahr bereits mit „So dunkel der Wald“ überzeugen konnte, erfüllt auch ihr neuer Thriller „Worüber wir schweigen“ alle Erwartungen. Ich fand ihn zwar etwas weniger gruselig und nervenaufreibend als das Vorgängerwerk, dafür aber im Aufbau deutlich cleverer. Sie erzählt die Geschichte im Wechsel aus drei Perspektiven und zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Die Auswahl der Figuren verwundert zunächst, dass Nina und Tobias das Wort erhalten, liegt noch relativ auf der Hand, aber Ninas Vater als Erzähler scheint nicht wirklich Sinn zu machen. Warum genau er aber ein wichtiger Baustein für die Handlung ist, löst sich erst spät auf und enthüllt so die wirklich gelungene Konstruktion der Handlung.

Der Roman lebt vor allem davon, dass man als Leser einige Wissenslücken hat und zunächst vieles nicht richtig in Zusammenhang bringen kann. Auch die verschiedenen Zeitebenen und Erzähler müssen erst sortiert werden. Tatsächlich ist die Handlung überschaubar, die Geschichte lebt viel mehr von den Figuren. Ninas Familie wahrt den Schein nach außen, ist aber innerlich völlig zerrüttet. Die Mutter psychisch erkrankt kann sich nicht um das Mädchen kümmern, das schon früh ein auffälliges und zerstörerisches Verhalten zeigt. Gelegentlich richtet sich dies auch gegen andere, mehr aber noch schadet sie sich selbst damit und isoliert sich emotional. Auch der Vater ist schon lange nicht mehr daheim Zuhause. Die Ehe am Ende, zu der Tochter kann er keine Verbindung aufbauen und so flüchtet er sich wenig überraschend in eine Affäre.

Nina findet in Mel eine Verbündete, aber die Freundschaft war nie ausbalanciert. Wer die Wortführerin ist, war immer klar und so wie Nina Mel schon als kleines Mädchen zwingt, Dinge zu tun, die diese nicht möchte, hat sie auch keine Skrupel, sie als Jugendliche zu hintergehen. Auch Tobias leidet, nicht jedoch unter einem Freund, sondern unter seinem älteren Bruder, dem er so gar nicht das Wasser reichen kann. Auch dessen Beziehung mit Mel, die einen mäßigenden Einfluss auf ihn hat, ändert nichts grundlegend an dem schwierigen Verhältnis der beiden.

Viele niedergeschlagene Seelen, die alle gute Gründe für ihr Handeln haben und nicht ahnen, wie sich ihre eigenen Enttäuschungen und Rachegelüste in ein grausames Räderwerk fügen, das sich, nachdem der erste Stein ins Rollen gebracht wurde, nicht mehr aufhalten lässt. Es ist die Tragik des Unvermögens, über den eigenen Horizont blicken und die Folgen abschätzen zu können, die sie schuldig macht.

Mit diesem wohl durchdachten Mechanismus, wie die einzelnen kleinen Handlungen ineinandergreifen und letztlich zu einem schlimmen Ende führen, hat Michaela Kastel eindrucksvoll unterstrichen, welches Talent in ihr schlummert. Sie braucht kein Blut und keine bestialischen Mörder, sondern kann den Thrill durch die ganz normalen Menschen entstehen lassen und holt das Grauen so in den Alltag. Dies finde ich deutlich schwerer literarisch umzusetzen, als blutrünstige Szenen zu beschreiben, die per se beim Leser Gänsehaut auslösen. Daher ganz klar eine unbedingte Leseempfehlung für diesen Roman.

Tonio Schachinger – Nicht wie ihr

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Tonio Schachinger – Nicht wie ihr

Ivo Trifunović hat alles, worum ihn viele beneiden: gefeierter Fußballstar bei einem Londoner Verein, verdient 100.000 € in der Woche, fährt einen Bugatti und ist mit einer attraktiven Frau verheiratet, die immer noch alle Blicke auf sich zieht und Ivos Privatleben und die beiden Kinder managt. Doch irgendwas fehlt in Ivos Leben, er hat den Eindruck zu funktionieren, aber der Erfolg gibt ihm nicht mehr den Kick. Er beginnt eine Affäre mit seiner Jugendfreundin Mirna, doch auch das bringt nicht die erhoffte Erfüllung. Er könnte zufrieden sein, aber warum ist er es nicht? Das scheinbar perfekte Leben hat offenbar auch seinen Preis – und der ist hoch.

Tonio Schachinger ist mit gerade einmal 27 Jahren auf der diesjährigen Longlist für den Deutschen Buchpreis gelandet. Das alleine ist schon bemerkenswert, dies dann aber auch noch mit einem Fußballprofi als Protagonisten zu erreichen, ist umso erstaunlicher. Das Cover weist schon unmissverständlich den Weg des Inhalts: der stilisierte Fußball, der einerseits golden schimmert, zugleich aber tiefe Risse aufweist, lässt ahnen, was kommt. Wenn man den Roman aufschlägt, ist man als literaturaffiner Leser vermutlich etwas voreingenommen und hat eine Vorstellung, was einem erwartet. Schnell jedoch gerät man in einen Sog, der einem nicht mehr loslässt und der die Vorurteile nur bedingt erfüllt.

Ivo ist rotzig, ohne Frage, sein Vokabular passt wie die Faust aufs Auge zu einem typischen Straßenkicker, der genau dort sozialisiert wurde und zu jung schon zu viel Geld verdient hat und bejubelt wurde.

„ein paar [Fußballer] schauen ja immer so , als würden in ihren Köpfen Heuballen durch eine Alpenprärie wehen“

Die Herkunft als Kind von Ex-Jugoslawen mit diffusen Nationalitäten hat ihn auch geprägt, wichtiger war jedoch immer das, was er auf dem Platz abgeliefert hat, denn nur das hat darüber entschieden, ob er Österreicher oder Jugoslawe war. Er liebt attraktive Frauen und schnelle Autos, erfüllt jedes Klischee nach außen.

In ihm sieht es jedoch gänzlich anders aus. Der Erzähler sieht das, was nicht aus außen dringt. Die Selbstzweifel, Gefühle der Leere. Er hat alles und doch fehlt etwas. Aber er weiß nicht, was es ist. Das alte Spiel „wenn ich von hier aus treffe, dann kann ich mir etwas wünschen“ wirkt nicht mehr, denn er hat keine Wünsche mehr. Beziehungsweise, er hat einen Wunsch, erkennt ihn aber nicht. Materiell ist er gesättigt, aber er hat keine Freiheit. Als Spieler ist er nur eine Figur, die von Verein zu Verein geschoben wird, über die Manager entscheiden, deren Tagesablauf durchgetaktet und fremdbestimmt ist. Die Außenwelt entscheidet über Erfolg und Misserfolg, er selbst kann oft nur passiv zusehen, was mit seinem Leben geschieht.

Ein etwas prolliger Protagonist mit bisweilen unterirdischem Vokabular, das ihn jedoch authentisch wirken lässt. Darunter jedoch verbirgt sich jedoch ein intelligenter Roman, der das System Fußball als gnadenloses Wirtschaftssystem entlarvt, in dem der Mensch zur Ware reduziert wird. Ein ungewöhnlicher Roman, auf den man sich einlassen muss – bei genauer Betrachtung aber mitreißend und überzeugend gemacht.