Antoine Laurain – Eine verdächtig wahre Geschichte

Antoine Laurain – Eine verdächtig wahre Geschichte

Es könnte einer der größten Erfolge der Verlagsgeschichte werden, „Die Zuckerblumen“ gelangen von einer in die nächste Runde des berühmten Literaturpreises Goncourt. Und just zu diesem Zeitpunkt ist weder der Autor auffindbar noch dessen Lektorin verfügbar. Diese liegt nämlich nach einem Unfall im Koma. Doch auch als Violaine Lapage wieder erwacht und ins Leben zurückkehrt, kann sie nichts zu der Identität des Verfassers beitragen, ihre Erinnerungslücken geben nichts her. Es kommt jedoch noch schlimmer: der Roman schildert einen Rachefeldzug und Mord an mehreren Männern. Dies wird plötzlich zur Realität und bald schon ist auch eine Kommissarin auf der Spur des mysteriösen Verfassers des vielleicht besten Buchs des Jahres.

Antoine Laurain ist für mich ein Meister charmant erzählter Geschichten, die immer ein wenig über die Realität hinausgehen und einem doch so real und möglich erscheinen, dass man die Magie seiner Geschichten einfach wirken lässt. Wie auch in „Liebe mit zwei Unbekannten“ bringt er in seinem neuen Roman „Eine verdächtig wahre Geschichte“ Figuren zusammen, die sich eigentlich nicht begegnen sollten, die jedoch das Schicksal zusammenführt, weil es so vorgesehen ist. Oder weil dann doch eine etwas dazu beiträgt. Besonders reizvoll dieses Mal jedoch die Spannungsmomente um den unbekannten Autor und die Mordfälle wie auch der Blick hinter die Türen der Verlagswelt.

Die Protagonistin Violaine Lapage ist eine liebevoll gezeichnete Exzentrikerin. Dass sie mit ihrer ausgeprägten Flugangst zum Opfer in einem spektakulären Absturz wird, verwundert sie nicht so sehr, weshalb sie auch einer Tarot-Kartenlegerin Gehör schenkt, die ihr Leben vor ihr auf dem Tisch ausbreitet. Sie geht völlig auf in ihrem Beruf als Lektorin, zu dem sie durch puren Zufall gelangt ist. Aber womöglich war alles gar nicht so zufällig, sondern musste genau so geschehen.

Daneben spielt der Roman „Die Zuckerblumen“ eine entscheidende Rolle. Nicht nur, weil er offenbar die Leser sofort berauscht, sondern auch, weil er ein Eigenleben in der Realität zu spielen scheint. Es vermischen sich die Welten von fiktiver Wirklichkeit und Fiktion und doch müsste eigentlich nur ein genauer Blick gewagt werden, um die Zusammenhänge zu erkennen.

Einmal mehr ein grandios erzählter Roman, der einem unmittelbar packt und in die Geschichte zieht. Die kleinen Nebenkreise, die Laurain um die weiteren Figuren zieht, sind ebenso allerliebst gestaltet wie seine Protagonistin. Die Liebe des Autors zum Detail ist es, die jede Zeile des Buchs so bezaubernd werden lässt und die unterstreicht, dass bei all den Zufällen doch gar nichts zufällig, sondern minutiös geplant ist.

Annie Ernaux – La honte [dt. Die Scham]

Annie Ernaux – La honte

An einem Sonntagnachmittag im Juni 1952 wollte der Vater der 12-jährigen Annie ihre Mutter umbringen. Damit eröffnet die französische Autorin ihren Roman, der mehr einem Tagebuch der Erinnerungen gleicht. Das Ereignis hat Spuren bei dem Mädchen hinterlassen, zwei Bilder aus dem fraglichen Jahr belegen dies, es gibt ein Davor und ein Danach. Detailliert schildert sie die Situation in der heimischen Küche, dem Durchgangszimmer zwischen dem Café der Eltern und der Wohnung der Familie, der Raum, der Einblick in das Leben erlaubt, das eigentlich verborgen sein sollte, denn alles Private ist auch mit Scham besetzt. Das erlebt das Mädchen immer wieder, so wird sie erzogen. Das kleine Dörfchen der Normandie, in dem sie aufwächst, hat in den 1950ern klare Regeln, ebenso ihre katholische Privatschule, beides prägt die Autorin so stark, dass es sich auch 40 Jahre später nicht loslässt.

Die meisten Romane Annie Ernaux sind autobiografisch geprägt, sie öffnet damit die Tür und gibt Einblick in ein Leben, das bis dato weitgehend verborgen war. Sie gilt als Chronistin des einfachen Lebens in Frankreich, sie schreibt über fast banale Alltagsthemen, die jedoch für die Figuren (oft sie selbst) essentielle Momente darstellen. In dem Roman, der bereits Mitte der 1990er Jahren veröffentlicht wurde, ist es der Gewaltausbruch des Vaters, der außer in ihrem Gedächtnis nirgendwo dokumentiert ist.

Scham kommt als Thema immer wieder in ihren Büchern vor, vor allem bezogen auf ihre Herkunft. Die Eltern schon haben einen kleinen Aufstieg erreicht, indem sie von Fabrikarbeitern zu Selbstständigen wurden. Die Regeln für die Tochter sind streng, unter keinen Umständen darf sie den äußeren Schein gefährden. Dazu zählen auch die Frömmigkeit der Mutter und der Besuch der katholischen Schule, wo sie eine Außenseiterin bleibt, denn aus ihrem Viertel gehen alle Kinder in die staatliche Schule und mit ihren Mitschülerinnen aus gutbürgerlichen Elternhäusern hat sie nur wenig gemein. Dennoch will sie gefallen, vor allem den Lehrerinnen und den bewunderten älteren Schülerinnen. Doch nie ist sie genug, zumindest so ihr Empfinden, es bleiben immer Makel, derer sie sich nicht entledigen kann und die ein tiefes Gefühl von Scham bei ihr hinterlassen, das sie ihr Leben lang begleiten wird.

Frankreich mangelte es nun wahrlich nie an Philosophen und Soziologen, die uns die Gesellschaft versuchten zu erklären. Annie Ernaux macht dies allerdings auf eine viel greifbarere Weise, die einem als Leser unmittelbar trifft. Auch viele Jahrzehnte später kann sie sich noch in das junge Mädchen und sein damaliges Empfinden hineinversetzen und ihr eine Stimme verleihen, die sie damals noch nicht hatte. Im Suhrkamp Verlag sind in den vergangenen Jahren einige Neuübersetzungen von Annie Ernaux erschienen, so auch „Die Scham“. Sicherlich kein Roman für die Massen und für mich auch nicht ganz so stark wie „Erinnerung eines Mädchens“, aber auf jeden Fall empfehlenswert, wenn man unsere Nachbarn etwas besser verstehen möchte, denn gerade auch dieser Roman erklärt, weshalb Annie Ernaux eine leidenschaftliche Unterstützerin der „Gilets Jaune“ (Gelbwesten) war.

Philippe Dijan – Die Ruchlosen

Philippe Dijan – Die Ruchlosen

Nach dem Tod seines älteren Bruders zieht Marc zu seiner Schwägerin Diana, die bereits wiederholt versucht hatte sich das Leben zu nehmen. Sie haben sich einigermaßen eingerichtet, als Marc unerwartet eines Morgens am Strand mehrere Kokainpäckchen findet, ausgerechnet jetzt, wo er den harten Drogen entsagt und sich ganz auf Alkohol eingestellt hat. Er wittert jedoch ein gutes Geschäft und wendet sich an Joël, Dianas Bruder, mit dem sie schon seit Jahrzehnten nicht mehr spricht, der jedoch für Marc einen Abnehmer wird finden können. Keiner der drei ist psychisch stabil, alle haben sie mit ihren ganz eigenen Dämonen zu kämpfen und das fragile Gleichgewicht, das sie in Sicherheit wähnt, gerät bald ins Schwanken und droht sie in den Abgrund zu reißen.

„Das ist, wie wenn. man Aspirin mit auf eine Reise nimmt, erklärte er und hielt ihm die Waffe hin, nur für den Fall dass.“

Philippe Dijan zeichnet in seinem Roman Figuren am Rande des Wahnsinns. Die Schicksalsschläge, die sie erleben, bringen sie an die Grenzen dessen, was sie aushalten können. Neigungen zu Suizid, Betäubungsmitteln aller Art und vor allem Aggressionen sind eine schlechte Grundlage, um den nächsten Schlag auch noch aushalten zu können. Und so geschieht das, was zwangsweise geschehen muss: die Lage eskaliert und man kann nur zusehen, wie sie sich immer weiter ins Nichts stürzen und völlig blind agieren.

Es ist das Psychogramm des verzweifelten Deliriums. Diana hat den Verlust Patricks nicht verarbeitet, im Leben und der Arbeit als Zahnärztin sieht sie keinen Sinn mehr. Auch ihre Affäre mit Serge, Sohn des Bürgermeisters und notorischer Fremdgeher, bleibt eher emotionslos und nur physisch befriedigend, wobei auch das nicht immer. Gleichmütig betrachtet sie, was mit um sie herum geschieht, ohne dies wirklich wahrzunehmen.

Joël hat ebenfalls jede Kontrolle verloren und geht im Rausch weit über das hinaus, was mit gesundem Menschenverstand nachvollziehbar ist, nur um dann zutiefst zu bereuen. Für Serge sind die Frauen, die er exzessiv sammelt, die Drogen der Wahl und das, obwohl er seine Ehefrau und Kinder eigentlich liebt.

Marc steht zwischen den Stühlen, auch er oft unkontrolliert und zu schnell Hochprozentigem zusagend bleibt letztlich doch noch die Figur mit der meisten Kontrolle und auch derjenige, der als einziger erkennt, wie sich alle um ihn herum völlig verloren haben.

Dijans Figuren sind oft jenseits des Spektrums des Erträglichen, auch „Die Ruchlosen“ überschreiten alle Grenzen, wobei man jedoch tatsächlich nachvollziehen kann, weshalb dies geschieht und es einen nicht wirklich wundert, wie ihnen alles entgleitet. Kein leichter Sommerroman, sondern harte Realität verzweifelter Menschen, denen jeder Lebenssinn abhandengekommen ist.

Ein herzlicher Dank geht an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Roman finden sich auf der Verlagsseite.