Alfred Bodenheimer – Der böse Trieb

Alfred Bodenheimer – Der böse Trieb

Schon seit Jahren trifft sich Rabbi Klein mit Viktor Ehrenreich für tiefgründige Gespräche. Sie sehen sich nicht oft, der Zahnarzt gehört auch nicht zu seiner Gemeinde, sondern wohnt im deutschen Lörrach. Doch nun hat er einen Termin verstreichen lassen und wird sich auch nicht mehr melden, denn Ehrenreich wurde in seinem Haus erschossen während seine Frau Sonja in Vietnam auf Reisen war. Dass es in der Ehe schon länger kriselte, war Klein bekannt, doch reicht das für einen Mord? Die deutsche Polizei scheint vor allem die Gattin im Visier zu haben. Auch wenn er sich dieses Mal raushalten will, schnell schon findet der Rabbi Anzeichen dafür, dass es Viktors Wohltätigkeit im Kongo sein könnte, die zu der unglaublichen Tat geführt hat.

Schon zum sechsten Mal lässt der Schweizer Professor für jüdische Literatur- und Religionsgeschichte Alfred Bodenheimer seinen Züricher Rabbi ermitteln. „Der böse Trieb“ spielt dieses Mal nicht unmittelbar in der jüdischen Gemeinde, Glaubensfragen bestimmen aber wieder ganz wesentlich das Handeln der Figuren. Besonders interessant dieses Mal, dass der Autor mit Unschärfen arbeitet und Fragen offen lässt, auf die man als Leser selbst eine Antwort finden muss.

Die Serie lebt von ihrem Protagonisten, der Ermittler wider Willen setzt seinen Verstand ein und nimmt auch die Zwischentöne wahr. Was ihn jedoch nicht daran hindert, an anderer Stelle selbst immer wieder in unruhige Gewässer zu geraten, vor allem seine Frau Rivka zeichnet sich auch in diesem Fall durch eine starke Persönlichkeit aus, die ihrem Mann die Stirn bietet.

Der Fall bleibt bekannten Mustern treu, er lebt nicht von der ganz großen Spannung, sondern bietet immer wieder neue Spuren, die alle plausibel zu einem Motiv führen könnten und zutiefst menschlich sind. Die Figuren wirken durch und durch authentisch in ihren kleinen und großen Verfehlungen und reißen damit über den Kriminalfall hinaus essentielle Fragen des Lebens auf.

Einmal mehr eine gelungene Verbindung von Kriminalgeschichte und jüdischem Leben in Europa, das in diesem Band auch durchaus seine hinterfragenswerte Seiten offenbart.

Helene Flood – Die Psychologin

Helene Flood – Die Psychologin

Die 30-jährige Psychologin Sara wohnt mit ihrem Mann Sigurd am Rand von Oslo. In dem Haus, das sie gerade renovieren, hat sie auch ihre Praxis eingerichtet. Leider hat sie nicht so viele Patienten, wie sie sich wünscht, auch Sigurds Architekturbüro läuft nicht wie erwartet, weshalb die Baustelle nicht vorankommt. Als Sigurd mit seinen beiden Schulfreunden ein Wochenende auf einer Hütte verbringen möchte, richtet sich Sara auf zwei gemütliche Tage ein. Alles scheint normal, doch dann erhält sie einen verstörenden Anruf: offenbar ist Sigurd nie in der Hütte angekommen, obwohl er ihr von dort noch eine Sprachnachricht geschickt hatte. Schon kurze Zeit später wird seine Leiche entdeckt – allerdings so gar nicht in der Nähe des geplanten Ausflugsortes. Wo war Sigurd und vor allem: warum?

Der Debütroman der Psychologin Helene Flood war 2019 für den norwegischen Buchhändlerpreis nominiert und schon vor erscheinen in mehr als zwanzig Länder verkauft. „Die Psychologin“ steht in bester Tradition bekannter skandinavischer Thriller: Die Spannung wird nicht durch ausufernde Gewalt oder ein extrem hohes Tempo erschaffen. Im Gegenteil, der ruhige Erzählton lässt das Unbehagen langsam unter die Haut kriechen, mit der Protagonistin fühlt man sich zunehmend unwohl, ohne die geringste Ahnung, woher die Bedrohung kommt. Unerwartete Wendungen und neue Informationen lassen vieles immer wieder in neuem Licht erscheinen, bis man keiner Figur mehr traut – und dann feststellt, dass man doch völlig falsch lag.

Auch wenn Sara der Polizei gegenüber behauptet, dass in ihrer Ehe alles in Ordnung gewesen sei, wird schnell offenkundig, dass die glücklichen Zeiten des Paares schon länger zurücklagen und der Alltag, insbesondere die permanenten finanziellen Sorgen, an ihren Nerven zehren und sie beide zunehmend mit Mikroaggressionen auf einander reagieren. Obwohl Sara als Psychologin eigentlich Fachfrau ist, erkennt sie nicht, wie sehr sie selbst auch unter der Einsamkeit leidet, da sie kaum das Haus verlässt und zu ihren früheren Freundinnen weitgehend den Kontakt verloren hat.

Je klarer das Profil der Protagonistin wird, desto mehr fragt man sich, inwieweit sie sich schon in einer Ausnahmesituation befindet, die ihre Wahrnehmung, Erinnerungen und Einschätzung trübt – und ob sie nicht selbst etwas mit dem Mord zu tun hat. Das Verhalten der Ermittler wirft zudem Fragen auf, sie scheinen zunehmend distanziert und wenig auskunftsfreudig. Seltsame Vorgänge im Haus verstärken die beklemmenden Gefühle, die beim Lesen entstehen. Raffinierte Mörderin oder Opfer einer perfiden Tat?

Helene Flood hat ihren Thriller perfekt orchestriert, wohldosiert verschiebt sich das Bild immer weiter und es sind oft beiläufige Bemerkungen und Informationen, die jedoch entscheidend für die Auflösung werden.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autorin und Buch finden sich auf der Seite der Penguin Random House Verlagsgruppe.

Agatha Christie – Der blaue Express

Agatha Christie – Der blaue Express

Nachdem Katherine Grey unerwartet zu einer Erbschaft gekommen ist und sich sogleich die gierige Verwandtschaft meldet, verlässt das englische Dorf St Mary Mead, um mit dem „Blauen Express“ an die Côte d’Azur zu fahren. In eben diesem macht sie zunächst die Bekanntschaft mit Ruth Kettering, Tochter des amerikanischen Millionärs Rufus Van Aldin, die sich heimlich mit ihrer großen Liebe verabredet hat, nachdem ihre Ehe auf eine Scheidung zusteuert. Auch einen sympathischen älteren Herrn lernt Katherine im Speisewagen kennen, mit dem sie die Leidenschaft für Kriminalgeschichten teilt. Als der Zug in Lyon hält, wird eine furchtbare Entdeckung gemacht: Ruth wurde ermordet. Verdächtige gibt es gleich mehrere, ihr mysteriöser Liebhaber ebenso wie ihr Gatte, dem der Tod seiner Frau mehr als gelegen kommt und der zufälligerweise ebenfalls an Bord des Zugs war. Für die französische Polizei ist es ein Glücksfall, dass Hercule Poirot ebenfalls genau jenen Express nahm und gerne bereit ist, bei den Ermittlungen zu unterstützen.

Die diesjährige Read Christie Challenge hat mit zu Hercule Poirots sechstem Fall geführt, da die März Aufgabe darin bestand, einen Roman zu lesen, den die Grand Dame of Crime im Ausland geschrieben hat. „Der blaue Express“ wurde 1927 auf den Kanarischen Inseln verfasst, nachdem Christie im Jahr zuvor ihre Mutter verloren hatte, die Untreue ihres Ehemanns entdeckte und selbst auf mysteriöse Weise zehn Tage verschwunden war. All diese belastenden Erfahrungen haben sie jedoch zum Schreiben zurückgeführt und eine klassische Locked Room Geschichte mit reicher Erbin, heimlichen Liebschaften und begehrten Juwelen hervorgebracht.

Setting wie auch Lösung des Falls folgen den bekannten Mustern der Kriminalromane Christies. Die Lösung scheint zunächst auf der Hand zu liegen und doch hat der clevere belgische Meisterdetektiv Zweifel. Menschenkenntnis und scharfe Beobachtung führen letztlich dazu, dass Puzzleteil für Puzzleteil an seinen Platz findet. Zum ersten Mal begegnet man als Leser den Örtchen St. Mary Mead, das später zur Heimat von Miss Marple und Schauplatz von „Mord im Pfarrhaus“ werden wird.

Von den Kritikern mit sehr unterschiedlichen Meinungen aufgenommen hat mir der Krimi besser als viele andere Poirot Romane gefallen, da Christie hier bei der zentralen Handlung bleibt und auf abschweifende Nebenstränge verzichtet.

Viveca Sten – Flucht in die Schären

Viveca Sten – Flucht in die Schären

Dieses Mal ist ihr Mann Andreis zu weit gegangen. Wieder hat er seine Frau Mina brutal verprügelt, nur knapp konnte sie überleben. Dennoch ist es nicht leicht für sie, der Polizei zu vertrauen und mit den kleinen Lukas die Flucht zu ergreifen. Gegen Andreis Kovač wird auch bei der Drogenfahndung und wegen Steuerhinterziehung ermittelt, mit Minas Aussage stehen die Chancen gut, ihn schnell und für lange Zeit hinter Gitter zu bringen. Doch so einfach lässt sich Andreis nicht in die Knie zwingen, niemand nimmt ihm, was ihm gehört, zu viel hat er in seinem Leben gesehen, als dass er sich von irgendwem Vorschriften machen ließe, schon gar nicht von seiner Frau. Um sie und den gemeinsamen Sohn zurückzuholen, ist er bereits alles zu tun.

In Viveca Stens 9. Fall für den Ermittler Thomas Andreasson ist dieser wieder mit der Juristin Nora Linde gemeinsam gefordert. Während er im Morddezernat die Spur der Verwüstung untersucht, die Andreis nach sich zieht, versucht Nora den brutalen Gangster mit juristischen Mitteln kaltzustellen. Doch beide stehen in „Flucht in die Schären“ nicht so sehr im Fokus wie Mina. Der Autorin ist mit dieser Figur gelungen, die vielfältigen und widersprüchlichen Emotionen einer verzweifelten Frau zu zeichnen, die Opfer von Gewalt wird und doch nicht einfach aufstehen und gehen kann.

Mehr noch als das Spannungsmoment, ob es Andreis gelingen wird, seine Frau ausfindig zu machen, besticht der Roman durch die Schilderungen um Mina. Vom ersten Übergriff an weiß sie, dass sie eigentlich gehen muss – eigentlich, denn zugleich liebt sie Andreis, sieht auch die guten gemeinsamen Momente. Und er ist der Vater ihres Kindes. Sie gibt sich selbst die Schuld für seine Ausbrüche, weiß, dass das Unsinn ist, und doch erträgt sie Demütigungen, Beschimpfungen und Gewalt. Auch die Angst davor, was er tun könnte, wenn sie sich offen gegen ihn stellt und bei der Polizei aussagt, hält sie davon ab, die notwendigen Schritte zu gehen. In einer geschützten Unterkunft kommt sie unter, dass deren Situation ebenfalls schwierig ist, wird nebenbei erzählt und somit auch klar, wie notwendig und zugleich häufig von der Schließung bedroht diese sind.

Wie wird ein Mensch so gewalttätig? Die Autorin liefert eine mögliche Erklärung: Andreis hat als Kind den Krieg erlebt, Mord und Vergewaltigung gesehen und zudem als ungewollter Asylsuchender Rassismus und Ablehnung erfahren. Sicher gehen diese Erfahrungen nicht spurlos an einem Menschen vorbei, glücklicherweise liefert Sten mit Andreis‘ Kumpel jedoch auch ein Gegenbeispiel, die Erlebnisse führen nicht zwangsweise in eine Gewaltspirale, sollten aber insbesondere im Hinblick auf Hilfesysteme zu Denken geben.

Ein Krimi nach gewohntem Muster, der souverän und routiniert erzählt wird und damit Fans der Reihe nicht enttäuscht. Für mich ein klarer Pluspunkt, dass dieses Mal der Fall im Vordergrund stand und weniger Nora und Thomas.

Colleen Hoover – Verity

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Colleen Hoover – Verity

Als man Lowen Ashleigh anbietet eine erfolgreiche Reihe der bekannten Autorin Verity Crawford fortzusetzen, weil diese nach einem Unfall dazu nicht mehr in der Lage ist, zögert sie nur kurz. Zwar kennt sie die Werke nicht, aber nachdem sie ein Jahr lang nur ihre Mutter gepflegt hat, kaum das Haus verließ und ihre finanzielle Situation mehr als prekär ist, bleibt ihr kaum eine Alternative als zuzusagen. Veritys Mann Jeremy empfängt sie freundlich in ihrem Zuhause und überlässt ihr das Arbeitszimmer mit allen Notizen der bisherigen und weiteren Bücher seiner Ehefrau. Lowen versucht sich in die Gedankenwelt der anderen, die ein Stockwerk über ihr gefangen in ihrem Körper und pflegebedürftig liegt, einzufinden. Als sie das Manuskript zu dem Roman „So be it“ findet, ist sie verwundert, dieser Titel ist ihr völlig unbekannt und schon nach wenigen Seiten erkennt sie, dass sie eine Autobiographie in Händen hält. Es dauert nicht lange, bis Lowen erkennt, dass Verity nicht die Frau war, die alle zu kennen glauben, sondern dass sie ein böses Geheimnis in sich trägt. Je tiefer sie in die Welt von Verity einsteigt, desto beängstigender wird dies und bald schon kann sie sich in dem Haus auch nicht mehr sicher fühlen, denn kaum etwas dort ist offenbar so, wie es scheint.

Vor vielen Jahren hatte ich einen Roman von Colleen Hoover gelesen und die Autorin danach als Schreiberin ganz seichter Jugendromane für mich abgehakt. Nach den überschwänglichen Lobgesängen wurde ich jedoch neugierig auf „Verity“ und die Kurzbeschreibung klang vielversprechend. So ganz kam die Autorin nicht aus der Romance Ecke heraus, großzügig kann man die Massen an Bettszenen überspringen, das war aber auch schon der einzige wirkliche Kritikpunkt. Ansonsten ein guter Krimi, der zwar in vielen Bereichen für geübte Leser des Genres vorhersehbar ist, aber auch überraschen kann.

Nach dem etwas verqueren Anfang beginnt die eigentliche Handlung mit der Ankunft Lowens im Haus der Crawfords. Das Manuskript mit Verity autobiografischer Erzählung wird der Dreh- und Angelpunkt. Nicht nur scheint die Autorin besessen von ihrem Mann gewesen zu sein, nein, viel mehr noch erschreckt ihre Kälte gegenüber den eigenen Kindern, die bis zum Hass reicht. Man kann sich kaum vorstellen, dass jemand derart kaltherzig und egoistisch sein kann, aber vermutlich zeichnete sie genau das aus und verlieh ihr die Kraft, die Bücher zu schreiben, mit denen sie erfolgreich war. Alle sind sie aus der Sicht des Übeltäters geschrieben – offenbar eine Paraderolle für Verity. Lowen wird zunehmend beunruhigt durch das, was sie liest. Ihre Angst steigert sich langsam und wird glaubwürdig geschildert.

Man hat natürlich einige Zweifel und rätselt, was genau in dem Haus vor sich geht. Spielt Verity ihre Rolle als pflegebedürftiges Unfallopfer nur oder ist der scheinbar liebende Ehemann Jeremy der eigentliche Übeltäter und Lowen schon längst in größter Gefahr? Die Auflösung ist überraschend, aber dennoch nachvollziehbar und glaubwürdig. Insgesamt solide Unterhaltung, wenn auch mit einigen Versatzstücken gearbeitet wurde und der Plot nicht wirklich innovativ ist.

John Marrs – Ich kenne deine Lügen

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John Marrs – Ich kenne deine Lügen

Ein ganz gewöhnlicher Morgen im Haus der Familie Nicholson, doch dieser 4. Juni wird ihrer aller Leben verändern. Schon lange leidet Vater Simon unter Schlafstörungen und häufig nutzt er das frühe Erwachen für eine Joggingrunde. Auch an diesem Morgen verlässt er das Haus, jedoch ohne Joggingschuhe und ohne zurückzukehren. Er geht einfach weg und lässt seine Frau Catherine mit den drei kleinen Kindern James, Robbie und Emily zurück. Keine Spuren gibt es von ihm und niemand weiß, ob ihm etwas zugestoßen ist, ob er überhaupt noch am Leben ist. Catherine wird Monate brauchen, bis sie wieder zu sich kommt und die Verantwortung für ihre Familie übernehmen kann. Simon begibt sich derweil auf eine Reise durch die Welt, es wird ihn nach Frankreich, Kanada, die USA und weitere Länder ziehen, bis er fünfundzwanzig Jahre später wieder vor seinem Haus und seiner Ehefrau stehen wird.

Mir ist John Marrs als Autor von nervenzerreißenden und psychologisch perfekt abgestimmten Krimis bekannt, die die Figuren an den Rand dessen treiben, was sie aushalten können. „Ich kenne deine Lügen“ funktioniert jedoch ganz anders, es beginnt mit dem Wiedersehen und langsam wird dann die Geschichte des Verschwindens aufgerollt. Lange Zeit kommt der Roman wie eine toll erzählte Geschichte von Verlust und Flucht daher, doch das Blatt wendet sich und wie aus dem nichts taucht genau das auf, was man von Marrs erwartet: ein geschicktes Spiel zweier ebenbürtiger Gegner, die sich psychologisch versiert nichts schenken.

Simons unerwarteter und scheinbar unmotivierter Weggang verwundert zunächst, kann ein Mensch nur aus Langeweile und familiärem Frust einfach so alles hinter sich lassen? Wohl kaum, aber es dauert ein wenig, bis seine wahren Beweggründe sich offenbaren und wenn man gerade denkt, ihn verstanden zu haben und womöglich sogar Verständnis für sein Handeln aufbringt, kommt der Schlag mit dem Holzhammer. Nein, die Handlung bietet keine dramatische Spannung von Beginn an, aber wenn man sich dem Ende nähert, wird man umso mehr belohnt von den Überraschungen, die der Autor vorbereitet hat und die einem aus dem Nichts treffen.

Hatte mich der Roman rein schon durch die Erzählung der 25 Jahre zwischen Weggang und Wiedersehen begeistern können – interessant entwickelt er die beiden Figuren und stellt sie unablässig vor neue Herausforderungen, hier ganz sicher eine deutliche Steigerung zu früheren Romanen, die mehr auf Action und Spannung setzen – sucht der finale Paukenschlag wirklich seinesgleichen. Immer und immer wieder wird plötzlich innerhalb kürzester Zeit alles infrage gestellt und man muss sein Konzept von dem, was wirklich geschah und die Figuren zu ihrem Handeln motivierte, überdenken.

Ein Thriller der etwas anderen Art, der sicherlich nicht jedermanns Sache ist, für mich aber gerade wegen der sehr ausgefeilten Figurenzeichnung und dem brillanten Schluss ganz klar aus der Masse herausragt.

Joe Heap – Die Welt in allen Farben

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Joe Heap – Die Welt in allen Farben

Zwei Frauen, deren Leben kaum verschiedener sein könnte und deren Wege sich zufällig in London kreuzen. Die Dolmetscherin Nova ist seit der Geburt blind, doch eine Operation verspricht ihr mit Anfang 30 plötzlich Zugang zur Welt der Sehenden. Im Leben der Architektin Kate ist eigentlich alles bestens, bis ihr Freund ausrastet und sie unglücklich stürzt und sich schwer verletzt. Im Krankenhaus begegnen sie sich zum ersten Mal. Während Novas Welt durch die Farben und Formen immer größer und verwirrender zu werden scheint, engt sich Kates Radius wegen zunehmender Angstattacken immer weiter ein. Als Team sind sie toll, aber so einfach ist das Leben nicht.

Wollte ich kurz und prägnant auf den Punkt bringen, worum es in Joe Heaps Roman primär geht, würde ich scheitern. Das ist auch mein einziger und größter Kritikpunkt: irgendwie war mir das zu viel in der Geschichte. Novas Entdeckung der Welt mit dem plötzlich vorhandenen Sehsinn hätte locker ausgereicht als Grundlage für eine Geschichte. Kates gewalttätiger Ehemann und ihre Schwierigkeiten, sich von ihm zu lösen und seine Reaktion auf die Trennung ebenfalls. Gleichermaßen die vorsichtige Liebesbeziehung der beiden unter schwierigen Bedingungen sowohl aus den Figuren selbst heraus, aber auch aufgrund ihres Umfelds.

„Sehregeln Nr. 275 – Sehende Menschen können Formen so gut wiedererkennen, dass sie sie anstelle von Worten verwenden. Sie hängen Bilder an Toiletten, Straßenschilder, Putzmittelflaschen, Nichtraucherzonen, Mixer und Krankenhäuser. Sie scheinen bei der Deutung nie unsicher zu sein.“

Mit der Entdeckung der Welt der Sehenden formuliert Nova für sich Regeln wie die gerade zitierte. Das war für mich der größte Gewinn an der Geschichte über die Unterhaltung hinaus. Glaubwürdig schildert Heap die Annäherung Novas an den neuen Sinn, die Verblüffung und das Hinterfragen von Dingen, die für uns völlig normal sind und daher gar nicht mehr wahrgenommen werden. Viele Schwierigkeiten, die seheingeschränkte oder blinde Menschen haben, werden einem so bewusst und lassen einem über das nachdenken, was man selten infrage stellt.

Genauso überzeugend, wenn auch schwerer zu ertragen ist Kates Verhalten gegenüber ihrem Mann. Sie wundert sich selbst über ihr Verhalten und weiß, dass es dumm und gefährlich ist, Ausreden und Beschwichtigungen zu finden, schafft aber den Schritt der Trennung nicht.

Der Roman ist emotional aufgeladen, beide Protagonistinnen haben ein ordentliches Päckchen zu tragen und sind oftmals nachvollziehbar psychisch wenig stabil. All dies wird jedoch menschlich authentisch geschildert und wirkt keineswegs überladen. Für mich punktet die Geschichte ganz besonders bei Novas Sehenlernen, das ist interessant und faszinierend fand und bei dem auch nachvollziehbar wurde, weshalb für sie das Nichtsehenkönnen durchaus auch ein attraktiver Zustand war, den sie irgendwann herbeisehnt.

Alafair Burke – The Wife

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Alafair Burke – The Wife

Nach einer schrecklichen Entführung in ihrer Jugend scheint Angela endlich das zauberhafte Leben führen zu können, von dem sie in ihrer ärmlichen Kindheit immer geträumt hat. An der Seite des Wirtschaftsprofessors und erfolgreichen Beraters Jason Powell verbringen sie und ihr Sohn Spencer sorgenlose Tage – bis eine Praktikanten unglaubliche Anschuldigungen erhebt: Jason habe sie sexuell belästigt. Dieser streitet den Vorfall ab und misst ihm keine große Bedeutung bei. Bis eine weitere Frau auf den Plan tritt und Vergewaltigungsvorwürfe erhebt. Dieses Mal scheint die Beweislage eindeutiger, aber Angela hält zu ihrem Mann. Sie kann und will nicht glauben, was die Frauen behaupten, vor allem, weil diese scheinbar auch die Gelegenheit nutzen möchten, mit einer geschickten Erpressung Nutzen aus der Situation zu ziehen. Je länger sich die Affäre hinzieht und je mehr Details über Jason an die Öffentlichkeit geraten, desto mehr wachsen auch Zweifel in Angela, wichtiger jedoch als dieser Fall ist ihr noch etwas gänzlich anderes, das sie vor der reißerischen presse schützen muss.

Alafair Burke wählt ein Szenario, das viel Spannung verspricht und Potenzial für zahlreiche Verwicklungen und Wendungen hat, jedoch auch bereits mehrfach als Basiskonzeption gewählt wurde. Im Vergleich zu ähnlichen Stories konnte mich die Autorin nicht ganz überzeugen, was vor allem an der Protagonistin lag, die für mich etwas zu diffus blieb und mich nicht wirklich für sie einnehmen konnte.

Der Spannungsaufbau kann überzeugen, immer weiter zieht sich die Schlinge um den untreuen Gatten, immer mehr Enthüllungen lassen ihn in einem immer schlechteren Licht erscheinen. Auch wenn einem die Mutmaßungen, dass die Frauen geschickt seine Lage nutzen möchten, um sich selbst zu bereichern, glaubwürdig ist, kommt er doch nicht auch ganz schadlos aus der Nummer heraus. Aufgrund der gewählten Erzählperspektive bleiben bei Jason Lücken, so dass man nicht sicher sein kann, wie weit er gehen würde und ob man seinen Aussagen trauen kann. Da man sich als Leser immer auf Angelas Seite befindet und sie das offenkundig wahre Opfer ist – gleich in mehrfacher Hinsicht – ist man geneigt, für sie eher Sympathie zu empfinden und ihr Glauben zu schenken. Leider lässt sich dies nicht lange genug aufrechterhalten und man kann daher die letztlichen Entwicklungen schon bald sehr deutlich vorhersehen.

Insgesamt überzeugender Plot, der jedoch für mich im Detail bei der Figurengestaltung etwas schwächelt und leider im letzten Drittel zu vorhersehbar wird und dadurch an Spannung verliert. Daher das Fazit: solide Unterhaltung, die aber noch steigerungsfähig gewesen wäre.

S.J. Watson – Before I Go to Sleep [dt. Ich.Darf.Nicht.Schlafen]

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S.J. Watson – Before I Go to Sleep [dt. Ich.Darf.Nicht.Schlafen]

Als Christine morgens wach wird, kommt ihr das Schlafzimmer fremd vor, ebenso der Mann, mit dem sie offenkundig die Nacht verbracht hat. Scheinbar hatte sie am Abend zuvor ordentlich gefeiert, so dass sie keinerlei Erinnerung mehr hat. Im Badezimmer erschrickt sie: wer ist die Frau, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickt? Sie ist mindestens zwanzig Jahre älter als sie selbst! Jeden Morgen wiederholt sich dasselbe Spiel: seit einem Autounfall leidet sie an Amnesie und kann sich an nichts mehr erinnern. Ihr Ehemann Ben hat das Haus sorgfältig präpariert, damit sie die wichtigsten Eckdaten schnell erkennt. Nachdem Ben zur Arbeit aufgebrochen ist, befindet sich Christine alleine in dem fremden Haus. Ein Telefonanruf verunsichert sie, ein Arzt will sich mit ihr treffen und weist auf ein Tagebuch hin, in dem sie seit Wochen Dinge notiert, die sie in minutiöser Arbeit rekonstruiert haben. Christine beginnt in ihrem eigenen Leben zu lesen und je weiter sie voranschreitet, desto seltsamer und beunruhigender werden die Erkenntnisse. Irgendwie wollen die Puzzlestücke nicht zusammenpassen und bald schon weiß sie nicht mehr, ob sie irgendwem überhaupt vertrauen kann.

S.J. Watsons Debutroman „Before I Go to Sleep“ war ein ungewöhnlicher Erfolg für ein Erstlingswerk, geschrieben hat es der Autor in seinen Pausen als Hörakustiker. Der Psychothriller wurde 2011/2012 mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und 2014 folgte die hochkarätig besetzte Verfilmung, die jedoch in keiner Weise an den Erfolg des Buches anknüpfen konnte.

Zu Beginn weist wenig daraufhin, dass es sich um einen Thriller handelt. Man bedauert Christine um ihre leidliche Situation und gemeinsam mit der Protagonistin versucht man Sinn in das Chaos, das sie umgibt, zu bringen. Es ist leicht, sich in sie hineinzuversetzen, da der Wissensstand zwischen ihr und dem Hörer/Leser identisch ist. Die Begegnung mit Dr. Nasch wirft weitaus mehr Fragen auf als sie beantwortet. Warum verheimlicht sie ihrem Mann die Treffen und was hat sie in den letzten Wochen bereits an Erinnerungen rekonstruieren können? Vor allem jedoch: weshalb hat sie als Notiz an sich selbst „Do not trust Ben“ in ihr Tagebuch geschrieben? Christines heimliches Treffen mit ihrer ehemaligen besten Freundin Claire befördert noch mehr Ungereimtheiten zu Tage und spätestens jetzt lässt sich der Psychothriller nicht mehr aufhalten und fährt sie ganzes Potenzial aus.

Die Handlung lebt von der Konstruktion rund um Christines Amnesie. Immer mehr Fakten trägt sie zusammen, die erst nach und nach einen Sinn ergeben und mit Zunahme des Wissens steigt jedoch nicht nur die Gewissheit über das eigene Leben, sondern vor allem die Angst vor der Gefahr, in der Christine schwebt, die immer deutlicher wird. Zielstrebig bewegt sich das Buch auf den dramatischen Höhepunkt zu, der dann auch die letzten Lücken schließt und so alle Fragen restlos beantwortet. Ein Psychothriller, der seinen Namen wirklich verdient hat und mich restlos begeistert – so sehr, dass das Finale mein Sportprogramm, bei dem ich das Hörbuch hörte, deutlich ausdehnte, um endlich zu erfahren, wie alles zusammenhängt.

Grégoire Delacourt – Das Leuchten in mir

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Grégoire Delacourt – Das Leuchten in mir

Eine zufällige Begegnung in einer Brasserie und Emmas Leben gerät aus den Fugen. Sie sieht ihn dort und wird ihn nun täglich sehen, immer zur Mittagszeit werden sich ihre Blicke kreuzen, doch es werden Wochen vergehen, bis sie das erste Wort wechseln. Schmetterlinge kehren zurück zu der Ehefrau und Mutter, deren Leben von außen scheinbar perfekt ist mit dem liebenden Gatten und den drei wohlgeratenen Kindern. Aber es fehlt etwas, genau dieses Gefühl wieder lebendig zu sein, die Emotionen und aufsteigende Hitze, wenn sie nur an ihn denkt. Sie stellen sich vor, Alexandre heißt er, Journalist, verheiratet. Doch das spielt alles keine Rolle, denn genau für diesen Moment werden sie alles aufgeben, ihr bisheriges Leben hinter sich lassen und gemeinsam in die Zukunft gehen. Doch es gibt keine Zukunft für sie und so steht Emma plötzlich vor dem Trümmerhaufen, der mal ihr Leben war.

Der mit bereits zahlreichen Literaturpreisen geehrte Autor Grégoire Delacourt unterstreicht in seinem aktuellen Roman einmal mehr seinen Platz unter den zeitgenössischen französischen Autoren. Ihm gelingt es unvergleichlich die Emotionen seiner Figuren einzufangen und zu transportieren ohne deren Last auf den Leser zu legen. Es ist etwas bedauerlich, dass man sich für die deutsche Ausgabe für einen anderen Titel entschieden hat, denn der Originaltitel „Danser au bord de l’abîme“ drückt perfekt das aus, worüber Delacourt in seiner Geschichte schreibt: die Figuren tanzen ausgelassen am Rande des Abgrunds und drohen zu jedem Zeitpunkt abzustürzen.

„Meine künftigen Tage versprachen stürmisch zu werden. Und einer von ihnen erschütternd.“

Emmanuelle ist eine durchaus attraktive Frau Ende dreißig, ihr Mann Olivier Leiter eines großen Autohauses und die beiden Töchter Manon, 16, und Léa, 12, sowie der 14-jährige Sohn Louis sind ebenfalls eine Freude für die Eltern. Doch sie spürt, dass etwas in ihrem Leben verloren gegangen ist, etwas fehlt. Alexandre gelingt es, wieder etwas in ihr zu entzünden, das so stark leuchtet, dass sie bereit ist, dafür alles zu riskieren, alles aufzugeben. Sie macht sich die Entscheidung nicht leicht, man folgt ihren Gedanken und kann sie verstehen. Die Vorwürfe, die sie sich selbst macht, die Kinder zu verlassen, ihr Leben zu zerstören, das Hadern und Zaudern und doch zu wissen, dass sie nicht anders handeln kann, denn ihre Liebe zu Olivier findet nicht mehr in der Gegenwart statt.

Doch dann kurz bevor das Glück kaum größer sein könnte, lässt Delacourt seine Protagonistin fallen, tief fallen. Plötzlich sieht sie sich alleine auf einem Campingplatz mit anderen vergessenen Figuren. Der Frühling geht in den Sommer und den Herbst über und erst nach dem Winter findet sie zurück zu ihrer Familie, die nicht mehr dieselbe ist. Der Autor folgt mit seiner Sprache der Emotionen der Figur, wurden im ersten Teil noch überschäumend die Emotionen ausgelebt, werden die Sätze kürzer und schlichter in der Zeit der Trauer. Dabei umschifft er jede Gefahr von Kitsch, dem eine solche tragische Liebesgeschichte erliegen könnte. Viel mehr zeigt er, dass nur dadurch, dass Emma wieder aufgelebt ist, sie sich wieder lebendig fühlte, sie auch so hart vom Schicksal getroffen werden konnte und der Fall so tief war. Delacourt hat den entscheidenden Moment im Leben seiner Figur überzeugend und ausdrucksstark umgesetzt.