Esther Schüttpelz – Ohne mich

Esther Schüttpelz – Ohne mich

Gerade erst hatten sie ihre Hochzeit gefeiert und jetzt schon trennen sich ihre Wege. Die namenlose Erzählerin hängt fest im juristischen Referendariat in Münster, das sie nicht im Geringsten interessiert. Der Ehemann hat sein Studium auch endlich beendet und zieht nach Berlin. Mit Mitte zwanzig in der Mid-Life Crisis – Alkohol, Partys, Koks: nichts kann wirklich über die Frustration und die Leere und Sinnlosigkeit hinweghelfen, die die Erzählerin in sich spürt. Wenn man gerade ins Leben starten will und plötzlich vor einem Scherbenhaufen steht, wie soll man damit umgehen?

Esther Schüttpelz hat in ihrem Roman „Ohne mich“ viele autobiografische Elemente verarbeitet und eine Protagonistin erschaffen, die typisch für ihre Generation in ihrer Zeit ist. Man folgt ihrem Gedankenfluss und durchlebt mit ihr Wochen und Monate der Sinnsuche, die auf äußere Impulse angewiesen ist, da aus der Protagonistin heraus kaum mehr eine Entwicklung beginnen kann. Es ist ein sehr persönliches Leiden, dass von der Außenwelt kaum wahrgenommen wird, da sie weiterhin noch funktioniert, obwohl innerlich die Leere immer mehr Raum einnimmt.

Die Erzählperspektive macht es leicht sich in die Erzählerin einzufinden. Sie bleibt namenlos, könnte also jede sein und einige ihrer Gedanken sind sicher jedem Leser bekannt. Motiviert ist sie in ihr Studium gestartet, wollte Karriere machen und sich ein schönes Leben einrichten. Doch dann haben irgendwann die Ziele ihren Sinn verloren. Mit dem Ende der Ehe kommt die vollständige Sinnlosigkeit über sie. Es folgt das tiefe Loch, das nur noch minimales Funktionieren erlaubt.

Es ist keine pathologische Depression, die sie durchlebt, sondern eine Phase der Orientierungslosigkeit, in der sich Fixpunkte auflösen und die Halt gebenden Parameter des Lebens plötzlich fehlen. Was zuvor noch gewiss und leitend war, wird infrage gestellt und durch ein suchendes Hin und Her abgelöst.

Man fragt sich, ob das Empfinden der Erzählerin symptomatisch für eine Generation, eine Lebensphase oder doch mehr eine individuelle Erfahrung ist. Zeiten des Umbruchs, die mit einer gewissen Desorientierung einhergehen, sind menschlich, das Ausmaß jedoch verschieden. Es mag unserer Leistungsgesellschaft geschuldet sein, die durch den schönen Schein der Social Media Kanäle, auf denen sich jeder im besten und glücklichsten Licht darstellt, nochmals in den Erwartungen an das eigene Leben im Vergleich zu anderen intensiviert wurde. Im Umkehrschluss reißt es jedoch auch die Fragen auf: nehmen wir das Empfinden unser Mitmenschen, ja unserer besten Freunde überhaupt noch wahr und wie viel Schein tut uns allen eigentlich gut?

Ein Roman seiner Zeit, der zwar ein versöhnliches Ende bietet, jedoch durchaus wichtige Fragen anreißt.

Miku Sophie Kühmel – Kintsugi

Miku Sophie Kühmel – Kintsugi

Kintsugi – das japanische Kunsthandwerk, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu kitten.

Ein Wochenendhaus in der Uckermark. Reik und Max haben ihren langjährigen Freund Tonio und dessen inzwischen erwachsene Tochter Pega eingeladen. Alles ist wie immer, schon seit inzwischen zwanzig Jahren bildet das Quartett eine Art freiwillige Familie, Reik und Max haben Pega ebenso mit erzogen und aufwachsen sehen wie Tonio. Frauen gab es keine, die vermisste auch niemand. Alles scheint perfekt, doch das scheinbar glückliche Bild bekommt nach und nach immer feinere Risse, die irgendwann in Brüchen enden. Ein Wochenende, das ein Ende und Anfang ist, an dem vieles infrage gestellt, anderes bestätigt wird.

Miku Sophie Kühmel verleiht ihren vier Figuren einem nach dem anderen eine Stimme, um ihre Sicht des Jetzt, aber auch der vergangenen zwei Jahrzehnte zu schildern. „Kintsugi“ ist dafür als Titel hervorragend gewählt, denn es wird versucht nochmals zu kitten, was schon zerbrochen ist. Vier Perspektiven auf das Leben, die das Ungesagte offenlegen und zeigen, was unter der Oberfläche versteckt wird.

Alle erwachsenen Männer haben mit Selbstzweifeln und Unsicherheiten zu kämpfen, die sie jedoch verstecken. Max ist erfolgreicher Professor, der von seinen Studierenden bewundert wird, dies aber gar nicht wahrnimmt, sondern immer nur sieht, wie erfolgreich sein Partner ist. Reiks Kunst begeistert weltweit und hat ihn reich gemacht, für ihn jedoch ist Tonio das größte Kunststück geglückt: seine Tochter. Alles, was er erschafft, verblasst daneben und wird bedeutungslos. Tonio hingegen hat keine Karriere gemacht trotz bester Voraussetzungen als Musiker und ob er als alleinerziehender Vater so erfolgreich war, stellt er ebenfalls infrage. Pega hat drei ganz unterschiedliche Vorbilder und erkennt, wie schwer es für alle Männer in ihrem Leben sein wird, an diese auch nur ansatzweise heranzureichen.

Es geht um nicht weniger als das Leben und den Sinn desselben. Obwohl sie etwas aus den wenigen Chancen gemacht haben, bleibt bei Reik, Max und Tonio die Frage, ob nicht auch alles ganz anders hätte kommen könne, ob sie nicht etwas verpasst haben, den falschen Weg eingeschlagen haben. Es sind die Zweifel, die wir alle mit uns herumtragen und die uns blind machen für das Schöne und Gute in unserem Leben. Die das verdecken, was Außenstehende bewundern und beneiden und uns verleiten, Dinge aufzugeben, die schwer erkämpft wurden und wertvoll sind.

Ein wundervoll erzählter Roman, der tief in die Seele und Gedankenwelt der Figuren abtaucht und beim Leser Denkprozesse anstößt, die auch nach der letzten Seite noch fortdauern.

Karine Tuil – La décision [Die Entscheidung]

Karine Tuil – La décision

Alma Revel ist Ermittlungsrichterin bei der Pariser Terroreinheit. Nach den Anschlägen 2015 ist die Lage dauerhaft angespannt und die Ermittler stehen unter enormem Druck von der Presse und der Öffentlichkeit. Der Fall eines jungen Mannes, der mit seiner Freundin nach Syrien gereist war, um sich dem IS anzuschließen und der nun zurück in Frankreich ist, stellt sie vor eine Zerreißprobe. Verteidiger des Mannes ist ausgerechnet jener Anwalt, mit dem sie seit Monaten eine Affäre hat. Er argumentiert, dass man dem Angeklagten keine konkrete Tat oder Tatbericht nachweisen kann, er beteuert auch seine Läuterung, aber kann Alma das glauben? Sie muss eine Entscheidung treffen, die im schlimmsten Fall das ganze Land gefährdet oder aber das Leben eines Unschuldigen zerstört.

« Dans le cadre de mes fonctions de juge antiterroriste, j’ai pris une décision qui m’a semblé juste mais qui a eu des conséquences dramatiques. Pour moi, ma famille. Pour mon pays. »

Karine Tuil stellt ihre Protagonistin in „La décision“ gleich auf mehreren Ebenen vor nicht lösbare Entscheidungen. Alma befindet sich im Dauerkonflikt, dem sie kaum entkommen kann. Nervenstark muss sie in dieser Position sein, doch vor dem Hintergrund ihres privaten Chaos mit der Trennung von ihrem Mann gerät sie an den Rand ihrer Möglichkeiten. Der Fall lässt Aussage gegen Aussage stehen, es gibt keine belastbaren Argumente für die oder die andere Seite und die Verantwortung für das Leben des jungen Mannes, ebenso wie für ihr Land liegt bei ihr.

Man erkennt in dem Roman schnell die Handschrift der Autorin, die für ihren letzten Roman „Menschliche Dinge“ mit dem Prix Interallié und dem Goncourt des Lycéens ausgezeichnet wurde. Wieder einmal sind es Figuren im mittleren Alter, die zum einen vor der Sinnfrage ihrer getroffenen Entscheidungen stehen, sie zum anderen aber mit der aktuellen Situation Frankreichs unmittelbar verbunden sind. Themen, die das Land bewegen, finden sich auch in Tuils Romanen, hier nun die Anschläge, die Frankreich in eine Schockstarre versetzten. Die Angst vor neuerlichen Todesopfern durch radikalisierte Islamisten ist zum Greifen, die Ermittlungsrichterin spürt die Last der Erwartung von Millionen Menschen auf ihren Schultern, dass sie permanent Drohungen erhält und auch tätlich angegriffen wird, trägt zudem zur Anspannung bei. Durch die Erzählperspektive befindet man sich in Almas Kopf, durchlebt mit ihr das Wechselbad der Gefühle und die Belastung, die sie beinahe zerreißt.

Es ist der entscheidende Moment im Leben der Protagonistin wie auch des Angeklagten. Man weiß, dass die Entscheidung nicht ohne Folgen bleiben wird, doch welche und für wen? So wird neben der wieder einmal brillanten Figurenzeichnung auch eine enorme Spannung aufgebaut und man selbst fragt sich, wie man entschieden hätte, welchen Eindruck man aus den Befragungen gewonnen hat und welche Schuld man damit vielleicht auf sich geladen hätte.

Philipp Stadelmaier – QUEEN JULY

Philipp Stadelmaier – QUEEN JULY

Gluthitze, ein Pariser Badezimmer, eine Badewanne, zwei Frauen und ausreichend Wein. Das war es im Prinzip. Aber nur im Prinzip, denn das ist lediglich der Rahmen für einen Roman voller Energie, Leidenschaft, Liebeskummer und Wein. Und Gin. Und Martinis. Seit Jahren schon lebt Aziza in Dschibuti, nach Abitur und Medizinstudium hat es sie in die pulsierende ostafrikanische Metropole verschlagen. Nach Paris kehrt sie regelmäßig zur Familie zurück und zu ihrer Freundin Jeannine, die sie im Moment des schlimmsten Liebeskummers als Jugendliche begleitet hatte und seither beste Freundin ist. Da diese gerade Mutter wurde, hat sie Aziza bei July einquartiert, die die ungewohnte Hitze nur in der kühlen Badewanne ertragen kann. Dort lässt sich Aziza neben ihr nieder und berichtet von den letzten 18 Jahren und Anselm Strehler, ihrer großen Liebe, den sie nur wenige Tage später wieder treffen wird.

„»Der Teppich. Ich kapier nicht, wie so ein alter Berberteppich nicht schön sein kann. Er war doch sicher schön, oder?« »Ich hab ihn mir nicht angesehen. Ich hab nur drauf gekotzt.«“

Mit dem alten Berberteppich, auf den Aziza kurz nach dem Abitur auf einer Party ihren Mageninhalt entleert, beginnt ihre Freundschaft mit Jeannine und endet ihre Beziehung zu Strehler. Es sind diese beiden Eckpunkte, die Azizas Leben zusammenhalten. Dschibuti ist mehr eine Flucht, die Arbeit im Krankenhaus ist anstrengend, der Feierabend im internationalen Hotel mit reichlich Alkohol wechselnden Bekanntschaften beiderlei Geschlechts ebenso. Aber nichts kann sie letztlich vor dieser immer noch unbeantworteten Frage retten: warum hatte er sie damals verlassen?

„Typen, Frauen, Körper, whatever – alles gewann zunehmend an Flow und Leichtigkeit. Strehlers Phantom, das so lange nicht aus ihrem Leben gewichen war, hatte sich tatsächlich verpisst, (…). Bis sie eines Morgens vor drei Jahren aufwachte, schlaftrunken Facebook öffnete und dort eine Freundschaftsanfrage von Anselm Strehler auf sie wartete.“

Philipp Stadelmaier lässt Aziza Revue passieren, wie sie immer wieder versucht hat, nach vorne zu blicken, doch dann kam jedes Mal Strehler wieder dazwischen. Eine vage, unbestimmte Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft, die sie nie aufgeben wollte oder konnte. Der fremden July schüttet sie ihr Herz aus, diese hört sich das Leid an, nippt dabei an ihrem Wein – »Nippen würde ich das nicht nennen, Honey. Das kann man schon als ehrliches Trinken bezeichnen. « – und analysiert knallhart die Fakten.

So traurig diese Liebesgeschichte eigentlich ist, so herrlich verpackt der Autor sie in Worte. Man kann sich die beiden bildlich vorstellen, zwei Mitt-30erinnen schwitzend in einem Badezimmer, gutem Alkohol und Essen zusprechend und das vermaledeite Liebesleben beklagend. Es ist herrlich ihnen zu folgen, pointiert bringt Stadelmaier ihre Gedanken auf den Punkt und erweckt vor allem bei Azizas Schilderungen aus Dschibuti den Eindruck eines lebendigen, bunten, energiegeladenen Landes, wo sich die unterschiedlichsten Menschen ansammeln und vor Ort sind, bis ihre Reise eben weitergeht.

Ein kurzer Roman, der von der ersten Seite an begeistert und genau an der richtigen Stelle auch den Schluss findet. Hier stimmt für mich schlichtweg alles, ich hätte stundenlang weiterlesen können, aber Azizas Geschichte war erzählt. Kurz vor Jahresende nochmals ein absolutes literarisches Highlight.

Meg Wolitzer – Das ist dein Leben

Meg Wolitzer – Das ist dein Leben

Dottie Engels ist in den 1980ern alleinerziehende Mutter zweier Töchter und ein Star am Comedy Himmel. Überall erkennt man sie sofort, extrovertiert wie sie ist, wird sie sofort zum Zentrum jeder Gesellschaft. Erica und Opal müssen häufig auf sie verzichten, während Dottie in Los Angeles auf der Bühne steht, werden sie von Babysittern, die sich jedoch kaum um sie kümmern, in New York betreut. Was Dottie zu ihrem Markenzeichen gemacht hat – der selbstironische Umgang mit ihrem Übergewicht und dem offenkundig weit entfernten Schönheitsideal – wird für die 16-jährige Erica zunehmend zum Problem. Sie kann mit ihrem Körper nicht so entspannt umgehen wie die Mutter, mehr und mehr zieht sie sich zurück, bis irgendwann der völlige Bruch kommt. Auch für Opal und Dottie beginnen schwere Zeiten, als der Publikumsgeschmack sich ändert und der Stern der Mutter langsam sinkt.

Meg Wolitzer ist erst in den letzten Jahren in Deutschland als Autorin der Durchbruch gelungen, „Das ist dein Leben“ hat sie im Original schon 1988 veröffentlicht und man merkt dem Roman an, dass er noch nicht über die sprachliche Raffinesse und die überzeugende Figurenzeichnung verfügt, mit denen ihre späteren Romane „The Interestings“, „Belzhar“, „Die Ehefrau“ oder „The Female Persuasion“ mich restlos begeistern konnten.

Im Zentrum steht die Beziehung zwischen Mutter und den Töchtern. Dottie liebt diese über alles, trotz ihrer häufigen Abwesenheit wird sie ihrer Rolle als schützende Mutter gerecht, allerdings kann sie auf die zunehmenden Depressionen Ericas nicht wirklich reagieren. Opal, die 5 Jahre jünger ist, vergöttert die Mutter, was auch zu dem Auseinanderdriften der Schwestern führt. In Opal und Erica werden zwei gänzlich verschiedene Seiten von femininer Jugend aufgezeigt, die sich jedoch um die zentralen Aspekte des Umgangs mit dem eigenen Körper und auch den innerfamiliären Beziehungen drehen.

Es ist ein Roman seiner Zeit, das Kabelfernsehen mit seinen eigenen Regeln gibt es in der Form heute nicht mehr, auch die später gerade in New York zentrale Drogenproblematik, die ebenfalls aufgegriffen wird und vor allem der Lebensstil mit Fast Food und ohne die geringste Rücksichtnahme auf Körper und Gesundheit sind heute für Personen des Showbiz und öffentlichen Lebens kaum mehr vorstellbar.

Thematisch hat der Roman vieles zu bieten, nichtsdestotrotz konnte er mich leider nicht im erwarteten Maße für sich gewinnen. Es liegt eine Schwermut über der Handlung, die bisweilen erdrückend wirkt, so manche Länge forderte auch die Geduld heraus.  Auch die Figuren blieben mir oft zu eindimensional und reduziert auf wenige Aspekte, um überzeugend zu wirken.

Deborah Levy – Was das Leben kostet

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Deborah Levy – Was das Leben kostet

Bücher von Deborah Levy, in denen die Autorin ihr Leben und ihre Erlebnisse zum Thema macht, sind nie leicht zu fassen und zu rezensieren. So auch „Was das Leben kostet“, in dem sie die Trennung von ihrem Ehemann und den Tod ihrer Mutter verarbeitet. War es in „Was ich nicht wissen will“ noch die Sprachlosigkeit, aus der sie einen Ausweg sucht, sind es nun die plötzlich entstehenden Lücken, die sie füllen muss. Ein neues Heim, das nicht heimelig werden will; die Definition des Ich, das nicht mehr (nur) Gattin und Mutter ist, sondern Frau in einer Welt, die scheinbar viel zu sehr von misogynen Männern dominiert wird; der Tod der Mutter und die darauf folgende Orientierungslosigkeit – mit dem Schreiben verarbeitet sie ihre Emotionen und die Suche nach Struktur und Sinn im neuen Dasein.

Vor allem ihre Begegnungen mit Männern haben beim Lesen einen ausgesprochenen Reiz. Womöglich übt sie eine besondere Anziehungskraft auf diejenigen Exemplare aus, die in einem – positiv formuliert – traditionellen Weltbild gefangen sind und Frauen nur als dekoratives Element wahrnehmen und denen jeder Horizont fehlt, das Gegenüber als gleichwertigen Gesprächs- und Lebenspartner anzuerkennen. Ohne Frage hat der gesellschaftliche Wandel, den die Frauen im 20. Jahrhundert erstritten haben, nicht jeden erreicht und stellt so manchen Mann vor große Herausforderungen, wenn an ihrem Weltbild gerüttelt wird und sie sich nicht in der Rolle wiederfinden, die sie sich qua Geschlecht zuschreiben.

Aber auch ihr Fahrrad, symbolisches Kampfmittel, an und mit dem sie ihre Wut und Energie zu kanalisieren versucht, nimmt eine interessante Rolle ein. Die neugewonnene Freiheit durch den Elektroantrieb ermöglicht die Mobilität im chronisch verstopften London bei gleichzeitig allen damit verbundenen Nachteilen wie erfrorene Finger im Winter und dem mühsamen Transport der Einkäufe. Aber es ist auch das Gerät, das ihr als Person die Schau stiehlt und die Aufmerksamkeit von Männern auf sich zieht.

„Freiheit ist nie umsonst. Wer je um Freiheit gerungen hat, weiß, was sie kostet.“

Als Kind ist Deborah Levy mit ihren Eltern aus Südafrika geflüchtet, nun flüchtet sie mit Anfang 50 aus dem Leben in Ehe und steht wieder vor dem Neuanfang und dem Aufbau nicht nur einer Ordnung, sondern auch des eigenen Ichs. Die Introspektion durch die Personalisierung des eigenen Ichs im Schreiben erlaubt es ihr, auch kritische und angreifbare Gedanken zu verbalisieren und ihr Leben neu zu strukturieren. Ein harter und steiniger, aber interessanter Weg, dem man als Leser gerne folgt.

Joshua Ferris – Männer, die sich schlecht benehmen

Maenner die sich schlecht benehmen von Joshua Ferris
Joshua Ferris – Männer, die sich schlecht benehmen

„Was tut ein Mann – und ich meine einen echten Mann, also, was tut ein echter Mann –, wenn er weiß, dass er einen Fehler gemacht hat?”

Dies ist eine der Fragen, die sich die Figuren in Joshua Ferris Geschichten stellen. Es geht um Beziehungen, meist zwischen Männern und Frauen, manchmal aber auch zwischen Männern und ihrer Umwelt im Allgemeinen, und all den Hürden, die diese tagtäglich mit sich bringen. Muss man die Freunde des Partners automatisch auch mögen und diverse gemeinsame Abende aushalten? Wie kommt man auf einer VIP Party am besten an, steht nicht blöd da und überwindet seine Menschenscheu? Wie erklärt man den Schwiegereltern einen Seitensprung und dass einem die eigene Frau gerade offenkundig verlassen hat? Leicht haben sie es alle nicht, aber ganz unverschuldet sind sie aber auch nicht in die kurzen Ausschnitte ihres Lebens geraten.

Joshua Ferris‘ Kurzgeschichtensammlung war mir nach Erscheinen im Original bereits aufgefallen, wo man sich allerdings mit „The Dinner Party and Other Stories“ für einen weitaus passenderen und nicht ganz zu verschreckenden Titel entschieden hat. „Männer, die sich schlecht benehmen“ hat einen Preis für nicht nur unglaublich schlechte Passung zum Inhalt, sondern auch für marktschreierisches Fishing for Aufmerksamkeit verdient, was das Buch eigentlich nicht verdient hat.

Im Zentrum der Geschichten stehen Männer und oft auch Frauen gemeinsam, denn die Beziehung, die sie verbindet, befindet sich an einem kritischen Scheidepunkt: geht es doch hoch gemeinsam weiter oder werden sich die Wege trennen? Die bestehenden Konflikte sind einem als Leser oftmals gut bekannt: Erwartungen, die der Partner nicht erfüllen kann; der Wunsch nach einem Leben, das einfach anders ist als das, in dem man sich gefangen fühlt. Die Figuren sind nicht immer Sympathieträger, ganz im Gegenteil, der Autor straft sie und ihr Verhalten oftmals auch mit feiner Ironie ab. Eine gewisse Neurotik und Selbstbezogenheit kann man kaum übersehen, aber dies macht die Figuren auch verwundbar und an dieser Stelle trifft Ferris sie und er wählt gerade einen der verletzlichsten Momente aus, der in der jeweiligen Geschichte dargestellt wird.

Nicht alle Geschichten konnten mich gleichermaßen überzeugen, mit mancher Konstellation konnte ich mehr anfangen als mit anderes, auch die Figuren sprechen mal mehr an, mal weniger. Insgesamt aber eine kurzweilige Sammlung, die vor allem durch die scharfe Beobachtungsgabe und treffsichere Umsetzung des Autors überzeugt.

Meg Wolitzer – Die Ehefrau

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Meg Wolitzer – Die Ehefrau

Endlich kam der Anruf, nachdem er ihn schon seit Jahren sehnsüchtig erwartet hat: Autor Joe Castelman wird mit dem Helsinki-Preis für Literatur ausgezeichnet. Nicht ganz der Nobel-Preis, aber knapp dahinter. Also begeben er und seine Frau Joan sich in die finnische Hauptstadt. Joan begleitet ihn wie immer, seit über 40 Jahren steht sie an seiner Seite und ermöglicht ihm das Leben als Autor. Ihre eigenen Ambitionen hat sie aufgegeben, ihr Leben, das im College vielversprechend begann, für den Mann und die Kinder geopfert. Doch jetzt soll Schluss sein, sie will endlich wieder frei sein. Sie wird es ihm sagen, sobald die Veranstaltung vorbei ist, wird sie ihm mitteilen, dass sie die Trennung will. In den Stunden bis dahin denkt sie zurück an ihr Kennenlernen, die Reaktionen ihrer Familie auf diese Affäre, die ersten Erfolge, ihre Kinder, Joes unzähligen Seitensprünge, die sie kommentarlos hingenommen hat. Aber das wird jetzt alles ein Ende haben – nur wird dieses Ende anders aussehen als Joan es geplant hatte.

Meg Wolitzers Figuren entstammen einmal mehr dem intellektuellen Ostküstenmilieu, was ihnen die banalen Alltagssorgen erspart und ihnen erlaubt, sich auf die zwischenmenschlichen Probleme zu konzentrieren. In „Die Ehefrau“ wählt sie nun ein zunächst sehr typisches Frauenthema, das jedoch breiter angelegt ist und nicht auf die Rolle in der zweiten Reihe beschränkt wird.

Trotz ihres resoluten Auftretens als Frau jenseits der 60 ist Joan klar, dass sie in jungen Jahren, Ende der 50er und 60er nur sehr begrenzt Möglichkeiten gehabt hätte, selbst literarische Erfolge zu feiern. Alles Talent nutzt nichts, wenn die Gesellschaft eine starke Frau ablehnt und so widerstandsfähig war sie zu diesem Zeitpunkt nicht, dass sie diese Rolle hätte durchhalten können. Ihre Vorwürfe, alles für Joe geopfert zu haben, laufen daher ein wenig ins nichts, was ihr aber auch klar ist. Noch dazu hat sie dieses Leben durchaus freiwillig gewählt und über viele Jahre auch keine Einwände gegen ihren Platz an seiner Seite gehabt. Doch, wann wäre denn tatsächlich der richtige Zeitpunkt gewesen, um aus diesem Leben zu fliehen?

Joans Zwickmühle wird leichtfüßig und mit viel Witz dargestellt und obwohl dies nach einem ehr deprimierenden Rückblick klingt, ist es das Buch so gar nicht, womit Meg Wolitzer die Crux auch recht gut einfängt. Die Frage nach verpassten Chancen und dem was-wäre-gewesen-wenn ist keine spezifisch feminine, aber sehr menschliche. Auch wenn „Die Ehefrau“ nicht ganz an andere Romane von ihr heranreicht, zeigt der Roman doch bereits das enorme Potenzial der Autorin.