Klaus Modick – Fahrtwind

Klaus Modick – Fahrtwind

Nach gerade so bestandenem Abitur und einigen Semestern halbherzigem Studium allerlei Geisteswissenschaften, weiß der Ich-Erzähler, dass das nicht seine Welt ist, ebenso wenig wie jene der Eltern, die ihn gerne als Nachfolger im Heizungsbaubetrieb sehen würden. Doch Anfang der 70er ruft die große weite Welt und so packt er Rucksack und Gitarre und hebt den Daumen gen Süden. Er muss nicht lange warten bis er den ersten Chauffeur findet, den Hauptpreis scheint er jedoch mit zwei Damen gezogenen zu haben, in die eine verliebt er sich sofort und die andere entpuppt sich als Gräfin, die ihm in einem Wiener Luxushotel einen Job als Musiker anbietet. Die Avancen der älteren Dame sind jedoch eher aufdringlicher Natur und die namenlose Angebetete scheint bereits vergeben, so dass er sich schon bald wieder auf den Weg macht. Doch dieses Mal gerät er an zwei Rocker, die sich als in Hommage an „Easy Rider“ als Wyatt und Billy vorstellen und offenbar in illegaler Mission unterwegs sind und in dem Tramper genau jenes Puzzleteilchen gefunden haben, das ihnen für ihren verrückten Plan noch fehlte…

Klaus Modicks Roman ist ein bisweilen aberwitziger Roadtrip, der jedoch wunderbar den Geist der Zeit trifft. Hippies, der Traum der großen Freiheit, ein Taugenichts als Protagonist, der eigentlich vor nur nichts tun möchte und schnell versteht, dass manchmal weniger zu fragen und verstehen zu wollen die bessere Alternative ist. Auf seiner persönlichen Magical Mystery Tour frei nach Eichendorff begegnen ihm neben diverser kurioser Figuren auch halluzinogene Drogen jeglicher Art, die alles nur noch bunter erscheinen lassen als es ohnehin schon ist.

Ebenso wie die fast 200 Jahre alte Vorlage kontrastiert Modick die (Lebens-)Künstler, die unbeschwert den Tag genießen und das Leben auf sich zukommen lassen und dort sind, wo sie hingespült werden. Ihnen gegenüber stehen die Spießbürger, die moralisierend den Zeigefinger erheben und sich in ihrem kleingeistigen und vorhersehbaren Dasein eingerichtet haben. Wie auch Eichendorff nutzt Modick den Ich-Erzähler, um den Leser für eine Lesart der Lebensgestaltung zu gewinnen.

Trotz oder gerade wegen der offenkundigen Parallelen zu dem klassischen Vorbild liest sich Modicks Geschichte als modernes Märchen vom Traum von Freiheit und Liebe, der gefahrlos ausgelebt werden kann. Die Sehnsucht nach dem unbestimmten „Südwärts“ in ein neues Leben transferiert er unterhaltsam mit leichtem Ton und italienischem Flair, wobei auch immer auch ein Hauch Musik in der Luft hängt.

Dana Grigorcea – Die nicht sterben

Dana Grigorcea – Die nicht sterben

Nach dem Kunststudium in Paris kehrt eine Malerin zurück in ihre rumänische Heimat, wo sie wie in jedem Jahr den Sommer in der Villa der Familie in einem kleinen Ort der Walachei südlich Transsilvaniens zu verbringen. Die Stimmung ist wie immer ausgelassen, trotz der Klagen darüber, was die kommunistische Diktatur mit dem Land und den Menschen gemacht hatte, doch ein tragischer Unfall, bei dem eine der Besucherinnen tödlich verunglückt, bringt ungeahnte Ereignisse ins Rollen. In der Familiengruft wird eine grausame zugerichtete Leiche gefunden just auf jenem Grab, das die Insignia des berühmtesten Bewohners des Landstriches trägt: Vlad der Pfähler, der berühmte Fürsten Dracula. Nicht nur die Weltpresse ist aufgeschreckt, sondern vor allem die Familie, die nicht ahnte, welches Blut in ihren Adern fließt.

„Der Vampirbiss ist keine Strafe, wie etwa der Pfahl eine ist. Er ist die Erlösung dessen, der geknechtet, verraten und erniedrigt wurde. Her mit eurem schwachen Blut! Und dann nehmt und trinkt alle vom Blut des Fürsten. Ihr Ohnmächtigen, die ihr mächtig werden wollt. Die ist der Blutsbund derer, die für das Recht kämpfen!“

Die rumänisch stämmige Journalistin und Autorin Dana Grigorcea wurde für ihre Werke bereits vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. In ihrem Roman „Die nicht sterben“ greift sie die berühmte Sage um den blutrünstigen Vampir auf und verbindet diese sowohl mit den Erinnerungen an die Diktatur Ceaușescus wie auch mit der modernen sensationsgierigen und kapitalistischen Gesellschaft. Der Roman wie auch die Protagonistin erscheinen im Stil eines klassischen Schauerromans, der jedoch viel mehr als nur schaurigen Grusel zu bieten hat.

Immer wieder kollidieren im Roman Gegensätze. Zunächst kommt die gebildete, kunst- und kulturaffine Oberschicht aus der Hauptstadt aufs Land, wo die naturverbundene Bevölkerung mit deutlicher Geringschätzung betrachtet wird. Im Verlauf der Handlung tritt dann mehr und mehr der

sagenumwobene Fürst ins Zentrum, wobei dieser mit seinen Gräueltaten kaum schrecklicher daherkommt als der kommunistische Diktator. Die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Entdeckung ist jedoch der mit Abstand herrlichste Part der Geschichte: es wird unmittelbar ein Dracula Park geplant, in Scharen pilgern die Touristen zur Grabesstätte und lassen sich auch gerne als Dracula-Verschnitt von der Künstlerin porträtieren während sie ihren Geschichten über die Vorfahren lauschen.

Ein Vampirroman der etwas anderen Sorte, der Gesellschafts- und Politikkritik mit Schauerelementen und einer gehörigen Portion Witz kombiniert. Dafür verdient nominiert auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2021.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal und den Penguin Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Buch und Autorin finden sich auf der Seite der Verlagssgruppe RandomHouse.

Peter Zantingh – Nach Mattias

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Peter Zantingh – Nach Mattias

Mattias ist nicht mehr da. So selbstverständlich er früher Teil ihres Lebens war, müssen sie nun die Lücke füllen, die er hinterlässt. Wer war er? Was macht der Verlust mit jenen, die jetzt ohne ihn weiterleben müssen? Seine Freundin, die das Fahrrad in Empfang nehmen muss, das er noch bestellt hatte; die Großeltern, die sich nichts mehr zu sagen haben und so die Trauer auch nicht zum Ausdruck bringen können; der Freund, der langsam erblindet und mit dem er noch Pläne für ein gemeinsames Café hatte; die Mutter, die gar nicht begreifen kann, was da geschehen ist. Immer mehr Figuren kommen in ihrer Trauer und Wut zu Wort, um das zum Ausdruck zu bringen, was in ihnen los ist und ihre ganz persönliche Verbindung zu Mattias zu schildern, jetzt, wo er kein Teil ihres Lebens mehr ist.

Es gibt viele Bücher, in denen der Tod und Verlust eines geliebten Menschen im Fokus steht. Peter Zantingh hat einen ganz eigenen Weg gefunden, das Thema umzusetzen. Es ist omnipräsent ohne jedoch ausschließlich zu dominieren, der Autor erfasst genau das, was mit jenen passiert, deren Leben weitergeht und nicht einfach stehenbleibt, um dieses Ereignis zu begreifen und verarbeiten. Die Welt dreht sich weiter, sie müssen den Alltag bewältigen, teils banale Dinge tun und können nicht einfach stehenbleiben und innehalten. Dieser neue Gedanke ebenso wie das Nichts, das jetzt den Platz von Mattias eingenommen hat, sind auch da, drängen Mal nach vorne, halten sich mal im Hintergrund, sind aber nun Bestandteil ihrer alltäglichen Realität.

Es gibt Fragen im Leben, auf die es keine Antworten gibt. Warum ist etwas geschehen, warum hat es gerade ihn oder sie getroffen, wie soll es jetzt weitergehen? Sie haben entweder keine Antwort oder ganz viele, da jeder eine eigene für sich selbst finden muss. Genau das müssen Peter Zantinghs Figuren auch. So verschieden ihre Beziehung zu Mattias war, so verschieden sind auch ihre Wege mit der Trauer umzugehen und die Emotionen, die der Verlust mit sich bringt. Sie alle haben Erinnerungen, aber diese könnten unterschiedlicher kaum sein.

„Beim Saubermachen stieß ich ein Buch, in dem er gelesen hatte, von der Fensterbank. Auf dem Fußboden fiel das Lesezeichen heraus. Darüber habe ich eine Stunde lang geheult. Weil ich nun nicht mehr wusste, auf welcher Seite er gewesen war.“

Was vielleicht unter der Last des Kummers zu erdrücken droht, gelingt Zantingh auf eine Weise einzufangen, die einem mitfühlen lässt, aber nicht beklemmt. Gerade diese kleinen Momente, die einem in so einer Ausnahmesituation verzweifeln lassen, beschreibt er und bringt so etwas Urmenschliches hervor, das man gut nachvollziehen kann und doch bisweilen als Außenstehender womöglich leicht einmal abtut.

Die vielen Gesichter der Trauer werden feinsinnig und sensibel geschildert und irgendwie bleibt doch der Gedanke, dass es weitergeht, das mit dem Tod nicht alles aufhört, denn Mattias leben weiter in ihren Gedanken und Erinnerungen.

Ein herzlicher Dank geht an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Buch finden sich auf der Verlagsseite.

Marion Messina – Fehlstart

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Marion Messina – Fehlstart

Das Abitur bestanden, steht ihr die Welt im egalitären Frankreich offen. Sie weiß, wofür sie all die Jahre hart gearbeitet hat, doch dann muss Aurélie Lejeune eine herbe Enttäuschung nach der anderen erleben. Das Jurastudium an der Universität von Grenoble ist uninspiriert, mit ihren Kommilitonen verbindet sie nichts und zunehmend begreift sie sich als Außenseiterin. Mit den kolumbianischen Austauschstudenten scheint sie viel mehr zu verbinden und in Alejandro, den sie bei ihrem Nebenjob als Putzfrau kennenlernt, verbindet sie bald schon eine innige Liebe. Doch als dieser der Enge der Kleinstadt entflieht, fällt auch Aurélies Leben in sich zusammen, es stand ohnehin nur auf tönernen Füßen. In Paris hofft sie auf einen Neuanfang und die Realisierung ihrer Träume, die sie eigentlich schon gar nicht mehr hat. Sie will ihre soziale Herkunft als Kind einer Arbeiterfamilie hinter sich lassen, sieht sich bald aber schon einer viel prekäreren Situation ausgesetzt als ihre Eltern es jemals erlebt hatten.

In ihrem Debutroman stellt Marion Messina gleich mehrere Mythen ihres Heimatlandes infrage. An ihren jungen Protagonisten zeigt sie auf, dass das voller Versprechen begonnene Leben sich oftmals anfühlt, als sei es schon vorbei, bevor es überhaupt begonnen hat, wie die ungeliebte B-Seite einer Schallplatte, die niemand hören will und die nur die Aufgabe hat, einen eben noch vorhandenen Platz zu füllen, an die jedoch nicht die geringsten Erwartungen gestellt werden. Wofür soll man in dieser Existenz kämpfen? Die Wirtschaftskrise von 2008, die ganz Europa unerwartet und heftig packte, hat vor allem die Jungen und Gebildeten getroffen, die sich nach jahrelanger Mühe um beste Startchancen um ihr Leben betrogen sahen, ein klassischer „Fehlstart“, sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort.

Messina zeichnet ein erbarmungsloses Portrait einer Gesellschaft und einer Generation, das wenig Mut und Hoffnung macht. Wo sich Alejandro einer omnipräsenten Xenophobie in einem sich selbst als weltoffen und tolerant wahrnehmenden Land ausgesetzt sieht, fühlt sich Aurélie aufgrund ihrer sozialen Herkunft ausgeschlossen, sie kennt die Codes der Kleidung, des Verhaltens und der Sprache nicht und ihre Eltern sind schon lange nicht mehr in der Lage, sie zu unterstützen. Sie soll doch mit dem bescheidenen Dasein, wie sie es selbst führen, zufrieden sein. All die Bemühungen und der Verzicht werden sich nicht auszahlen, das elitär organisierte Land hat keinen Platz für Emporkömmlinge. Das muss auch Benjamin erkennen, der einzige Freund, den Aurélie in der 12 Millionen Metropole gefunden hat und der nach jahrelangem Ackern bereit ist, aufzugeben und in die Provinz zurückzukehren.

Insbesondere das Bild der Arbeitswelt, in der die Angestellten in den niedrigen Positionen nicht nur schnell austauschbar sind, sondern die durch vorgegebene Kleidung, Make-up und Phrasen auch austauschbar wirken und dafür mit dem Mindestlohn abgespeist werden, der kaum ausreicht, um Wohnung und ausreichend Nahrung zu finanzieren, wirkt brutal, aber authentisch. Die prekäre Existenz mit Zweit- und Drittjob laugt sie so dermaßen aus, dass sie gar nicht mehr am Leben teilnehmen und von Paris außer den Gängen der U-Bahn nichts mehr sehen. „Métro-Boulot-Dodo“ wird so nicht mehr nur ein ironisches Wortspiel, sondern schlichtweg Realität.

Marion Messina untermauert die falschen Versprechungen sprachlich versiert, in kursiv erscheinen die immer wieder bemühten Phrasen, die sich jedoch als leere Worthülsen entpuppen. Ihr Roman erschien 2017 noch vor den aktuellen Protesten der Gilets Jaunes, sie legt aber den Finger in genau dieselbe Wunde und erfüllt damit eine der wesentlichen Aufgaben der Literatur: sie hält der Gesellschaft und vor allen denjenigen, die diese lenken, den Spiegel vor, in dem sie bei genauen Hinschauen eine schmerzverzerrte Fratze erkennen können. Auch 2020 noch einer DER Romane der Stunde.

Ein herzlicher Dank geht an den Hanser Literaturverlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Buch und Autorin finden sich auf der Verlagsseite.

Antonio Ruiz-Camacho – Denn sie sterben jung

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Antonio Ruiz-Camacho – Denn sie sterben jung

Noch machen die Mädchen Pläne für ihrem Sommertrip nach Italien, doch sie ahnen nicht, dass sich das Leben des gesamten Clans schlagartig ändern wird. Als der Patriarch José Victoriano Arteaga nicht nach Hause kommt, ist seiner Familie schnell klar, was geschehen sein muss, denn das Leben in Mexico Stadt folgt klaren Regeln und die werden vom Gesetz der Straße bestimmt. Zu bleiben ist keine Option und so flüchten sich die Familienmitglieder in die USA und nach Europa, wo sie zwar Sicherheit, aber nicht unbedingt das Glück finden. Acht Kapitel, acht Neuanfänge in der Fremde und eine Familie, die sich langsam verliert und auf unterschiedliche Weise nicht ankommt.

Wenn man Meldungen au Mexico verfolgt, sind die meist durch Gewalt, Bandenkriege und Drogenkartelle bestimmt. Die Oberschicht verschanzt sich hinter hohen Mauern und allerlei Sicherheitsvorkehrungen, am anderen Ende der Gesellschaft kämpft man täglich ums Überleben. Carlos Ruiz-Camacho ist in dieser Welt aufgewachsen, als Sohn eines Unternehmers ist er in der Umgebung großgeworden, die auch die Mitglieder der Familie Arteaga kennen, seit mehr als zehn Jahren lebt der Journalist jedoch in Texas und berichtet über die schwierige Situation in seiner Heimat, vor der sich nur wenige flüchten können.

So verschieden die einzelnen Charaktere, so verschieden sind auch die Geschichten, die sie in der neuen Heimat erleben. Nur verbunden durch die Blutsbande und den Patriarchen, der aus dem Off kommentiert, ergibt sich erst in der Gesamtschau ein Bild der Familie, die glücklicherweise durch einen Stammbaum zu Beginn des Buchs dargestellt wird. Manche der Stories haben mich mehr berührt, wie etwa die des achtjährigen Bernardo, der wider Willen nach Palo Alto verfrachtet wurde und dort einfach nicht ankommt, sondern nur auf die Rückkehr nach Hause wartet. Die Teenager Homero und Ximena sind unterdessen in Manhattan auf sich allein gestellt, wann und ob die Eltern wieder kommen, bleibt unklar, nur dass die Ratten in ihrer schäbigen Unterkunft Obdach gefunden haben, steht außer Frage. Auch die Geliebte des Patriarchen und ihr gemeinsamer Sohn versuchen sich mit der Situation zu arrangieren, wobei sie lange gar nicht ahnen, in welcher Gefahr sie womöglich schweben.

Das Debüt wurde von den Feuilletons insgesamt sehr positiv aufgenommen und tatsächlich kann jede einzelne Erzählung durch den genau passenden Ton für die jeweiligen Protagonisten überzeugen. Interessant ist auch, dass nicht das Gewaltverbrechen im Zentrum steht, sondern das, was mit den Personen drumherum geschieht, deren Leben schlagartig völlig aus der Bahn geworfen wird. Ein erhellender und unterhaltsamer Blick in eine mir völlig fremde Welt, der mich auch neugierig auf Literatur aus Mexico machen konnte – für mich ein weitgehend blinder Fleck in der Literaturlandschaft.

Ali Smith – Herbst

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Ali Smith – Herbst

Der Sommer verabschiedet sich, geht zu Ende, wie auch das Leben von Daniel Gluck langsam aus ihm verschwindet. Mit 101 Jahren hat er viel erlebt und verbringt nun die Tage schlafend im Pflegeheim. Elisabeth besucht ihn dort regelmäßig, um ihm vorzulesen. Sie ist nicht seine Enkelin wie die Pflegerinnen denken, nicht einmal mit ihm verwandt, als Kind wohnten sie und ihre Mutter neben dem damals schon alten Mann und er hat auf ihren Spaziergängen nicht nur ihre Phantasie beflügelt, sondern auch ihre Liebe zu Kunst und Literatur geweckt. Vielleicht ist es gut, dass er nicht mehr sieht, wie sich die Welt verändert, nicht nur der Sommer muss weichen, sondern auch das England, das sie kannten. Das Land, das ihn einst aufgenommen hat und das nun vom Brexit gezeichnet und gespalten ist.

Ali Smiths Roman ist der erste Band eines nach den Jahreszeiten benannten Zyklus, der die Stimmung eines zerrissenen Landes mit einer ausdrucksstarken Poetik einfängt. Sie hat sich damit nicht nur endgültig in die Riege der ganz großen zeitgenössischen britischen Autorinnen katapultiert, sondern wurde hierfür auch auf der Shortlist für den Man Booker Prize 2017 honoriert.

Aus Charles Dickens‘ „Tale of Two Cities“ liest Elisabeth dem schlafenden Daniel vor. Passender als in Analogie zu der berühmten Anfangspassage des mehr als 150 Jahre alten Romans kann man die Stimmung in Großbritannien seit dem Referendum kaum zusammenfassen:

 „Im ganzen Land fanden die Leute, es sei das Falsche. Im ganzen Land fanden die Leute, es sei das Richtige. Im ganzen Land fanden die Leute, sie hätten eigentlich verloren. Im ganzen Land fanden die Leute, sie hätten eigentlich gewonnen. Im ganzen Land fanden die Leute, sie hätten das Richtige und andere hätten das Falsche getan.“

Elisabeth stellt sich jedoch nicht nur die Frage, in welcher Zeit sie lebt, sondern was Zeit überhaupt ist, ist eines der zentralen Rätsel des Romans. Ebenso wie jenes nach der Wahrheit, die die Protagonistin schon als Grundschulmädchen beschäftigt:

Es soll aber die Wahrheit sein, sagte Elisabeth. Es ist für die Nachrichten in Zeitgeschichte. Das merkt doch niemand, sagte ihre Mutter. Erfinde es selber. Die richtigen Nachrichten sind sowieso immer erfunden. Die richtigen Nachrichten sind nicht erfunden, sagte Elisabeth. Es sind Nachrichten. Über das Thema sprechen wir noch mal, wenn du ein bisschen älter bist, sagte ihre Mutter.“

Nachdem sie jahrelang den Kontakt zu Daniel Gluck verloren hatte, leben nun mit den Besuchen im Krankenhaus auch die Erinnerungen an ihre gemeinsamen Nachmittage wieder auf. Noch einmal wird sie das neugierige und wissbegierige Kind, das durch die Augen des weisen Mannes blicken und die Welt erkunden darf.

„Irgendetwas solltest du immer lesen, sagte er. Auch wenn du kein Buch in der Hand hast. Wie sollen wir die Welt sonst ergründen?“

Ist noch zu verstehen, was in England gerade geschieht? Können die Nachrichten die Stimmung einfangen und transportieren? Man sollte nicht so weit gehen wie Elisabeths Mutter, die sie als erfunden abstempelt, aber sie sind selektiv, arrangiert und mit einer gewissen Intention aufbereitet. Bleibt also nur noch die Literatur, um die Wahrheit der Welt zu ergründen? Zumindest eine Wahrheit, die der Figuren, die uns Ali Smith präsentiert. Sie könnte auch ganz anders sein, das wäre dann aber eine andere Geschichte.

Oleksij Tschupa – Märchen aus meinem Luftschutzkeller

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Oleksij Tschupa – Märchen aus meinem Luftschutzkeller

Ein Haus im ostukrainischen Makijiwka. Die Bewohner leiden unter der brütenden Sommerhitze und unter ihren Nachbarn; oder den Familienangehörigen; oder dem Dasein ganz allgemein. Erdgeschoss, erster Stock, zweiter Stock, dritter Stock: jeweils drei Wohnungen mit drei Schicksalen. Die verrückte Labuha aus dem Parterre bringt mit ihrer lauten Musik und den nie enden wollenden Partys alle um den Verstand, außer vielleicht Klawa aus dem Stockwerk über ihr, denn die ist seit Jahrzehnten taub und kann sich kaum mehr mit ihrer Tochter und dem Enkel verständigen. Auch Forman im zweiten und seinen Freunden ist das heute wohl egal, nachdem sie zu plötzlichem Reichtum gekommen sind, muss geplant werden, was mit dem Geld zu tun ist. Derweil erweckt Olena ihre Großmutter mit isländischer Musik wieder zum Leben und zum ersten Mal seit Jahren reden die beiden Frauen wirklich miteinander. Zwölf Wohnungen, zwölf Geschichten, die Tschupa belauscht in einem Haus, das heute im Kriegsgebiet steht.

Literatur aus der Ukraine ist mir wenig bekannt, aber Oleksij Tschupas Text weist für mich einige Gemeinsamkeiten auf, die ich in osteuropäischen Bücher wiederholt gefunden habe. Auch er leitet nicht lange ein, sondern stürzt den Leser ins Geschehen, das schonungslos und direkt die Dinge beim Namen nennt. Wir befinden uns nicht in einer Märchenwelt, sondern in der unbarmherzigen Realität, die es mit den Figuren nicht immer gut meint. Es braucht bisweilen einen gewissen Humor oder Zynismus, um dies zu ertragen.

Viel mehr als den Hauseingang scheinen die Figuren nicht zu teilen. Wobei doch eine gewisse Melancholie über allen Episoden schwebt, vermutlich ist es genau dies, was auch in zwei der Geschichten anklingt, in denen der schwermütige Charakter der slawischen Literatur erwähnt wird, der sich unweigerlich auch auf die Leser niederschlagen muss. Ob die Menschen wegen der Literatur so sind oder die Literatur wegen der Menschen und der Lebensumstände, sei dahingestellt.

Besonders hat mir gefallen, dass die Bandbreite unheimlich groß ist; wir erleben Kinder ebenso wie junge und mittlere Erwachsene und die Alten, die das Ende ihres Lebens bereits kommen sehen. Die Kinder sind mir hierbei vor allem aufgefallen: obwohl es mehrere von ihnen im Haus gibt, scheinen sie keinen Kontakt zueinander zu haben, sondern ausgesprochen isoliert zu sein. Dass diese Einsamkeit nicht guttut, liegt auf der Hand und so ist auch ihr trauriges Schicksal nicht weiter verwunderlich. Mehr noch war ich jedoch von den alten Frauen beeindruckt – die Männer werden nicht alt in der Ukraine, scheinbar flüchten sie sich vorher in den Tod. Unfreiwillig erleben sie ebenfalls eine Isolation wie die Kinder. Zwar mag die Familie physisch nah sein, es fehlt jedoch die Verbindung zwischen den Generationen.

Neben den Geschichten, die mich jede auf ihre Weise ansprechen konnte, überzeugte mich Tschupa aber mit Zweierlei: er schafft es ausgezeichnet die Gegebenheiten in Worte zu fassen. Das Schwanken zwischen überbordendem Humor und erschreckend abstoßend lässt einem manchmal jedoch geradezu schwindelig werden. An anderen Stellen findet er großartige Metaphern wie beispielsweise bei Iryna, die sich und ihre Welt als Insel begreift, ein Motiv, das nicht nur wunderbar zur Figur passt, sondern auch überzeugend durch die ganze Episode hindurchgeführt wird.

Vieles ist voller Gegensätze in Oleksij Tschupas Roman. Es beginnt beim Titel, in dem die Begriffe Märchen und Luftschutzkeller zusammengebracht werden und dem grell-bunten Cover, dem ein schwarzer Hintergrund auf der Rückseite entgegensteht. Im Haus ist Leben in allen Facetten, tatsächlich jedoch wird die Region seit Jahren von Krieg und Tod beherrscht. Mal lacht man, man wird man nachdenklich, aber immer scheint man sich nur im Extrem bewegen zu können und so bleibt das Buch auch ganz sicher bei keinem Leser ohne nachhaltigen Eindruck.

Petra Morsbach – Opernroman

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Petra Morsbach – Opernroman

Tristan und Isolde, Figaros Hochzeit, Fidelio, Die Fledermaus – seit Jahrhunderten schon begeistern die großen tongewaltigen Opern die Menschen. Auch in kleinen Häusern werden sie regelmäßig inszeniert, trotz all der Widrigkeiten wie dem fehlenden adäquaten Personal auf der Bühne und im Orchestergraben oder den frustrierten Sängern und Dirigenten, die sich mit der Kleinstadt-Tingelei, die jedermann nur hassen kann, ihre Sporen verdienen müssen. Neid, Missgunst, Intrigen, Enttäuschungen, überschwängliche Freude – die ganze Bandbreite menschlicher Emotionen kann man arrangiert wie auch real erleben. Petra Morsbachs „Opernroman“ lüftet den Vorhang und erlaubt den Blick hinter die Kulissen der schönen Kunstwelt, der gar nicht mehr so schmuckvoll und imposant ist.

Mit „Justizpalast“ hatte mich die Autorin restlos begeistern können. Die Fähigkeit, auch kleinste Details wahrzunehmen und sie in der Erzählung überzeugend und punktgenau unterzubringen, hatten mich sehr angesprochen. Es gelang ihr, die tröge Juristerei mit Leben zu füllen und das Spannungsfeld der Figuren aufzuzeigen. Dieses in den Kulturbetrieb zu übertragen klang verlockend, doch leider war der Roman eine herbe Enttäuschung.

Die große Oper findet nicht statt. Zu viele Figuren laufen durchs Bild, ohne dass man zu ihnen eine Beziehung aufbauen könnte und dem Leser ihr Schicksal so nahegehen könnte. Rasch werden die Kulissen ausgetauscht und zahlreiche geschilderte Momente und Akteure scheinen mehr Kulisse als aktiv Agierende zu sein. Die Bühne dreht sich weiter, nächster Aufzug, nächste Kulisse – es wiederholt sich und schafft es nicht, Interesse zu wecken. Die Einblicke in die Theaterwelt bleiben zu fragmentarisch, zu punktuell, um zu einer Handlung zu verschmelzen. Ein Schicksal reiht sich an das nächste, aber so wie Schauspieler nach einer Saison das Haus verlassen, rauscht auch das Buch an einem vorbei, ohne einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen und ist schnell schon vergessen. Das imposante Donnern eines Wagner verkommt so zu einem launischen Gepiepse, das mich nicht erreicht hat.

Jackie Thomae – Brüder

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Jackie Thomae – Brüder

Mick und Gabriel sind Brüder, doch das wissen sie nicht, denn sie haben außer den Genen des Vaters und der dadurch dunklen Hautfarbe wenig gemeinsam. Mick wächst im Ost-Berlin der DDR auf und auch nach der Wende hat das Leben wenig zu bieten. Mit Delia könnte alles in sichere und ruhige Bahnen laufen, aber er kann ihr das nicht geben, was sie will: ein Baby. Gabriel hingegen wächst in Sachsen bei den Großeltern auf, nachdem seine Mutter früh bei einem Unfall starb. Zielstrebig wird er zu einem der besten Architekten weltweit und baut sich in London genau das Leben auf, das er als Kind nicht hatte und von dem er nur träumen konnte. Ihre Wege sollten sich nie kreuzen, doch es gibt ja den gemeinsamen Vater.

Jackie Thomae erzählt in ihrem zweiten Roman, der es 2019 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, zwei Geschichten. Die Ausgangssituation ist vergleichbar, doch dann sind es Umstände, Begegnungen, Zufälle, persönliche Dispositionen, die dazu führen, dass die beiden Jungs sich ganz unterschiedlich entwickeln. Überzeugend zeigt die Autorin so, dass das Leben nie planbar ist und es immer viele Faktoren sind, die darüber entscheiden, wie die Dinge laufen.

„und er begriff erst jetzt: sein Bruder war nicht wie seine Schwestern mit diesem Mann hier aufgewachsen. Nein. Sein Bruder war wie er.“

Mick täuscht sich kolossal in seiner Einschätzung, denn die beiden Brüder könnten verschiedener kaum sein. Mick wirft sich voll ins Leben, erwartet alles und will es mit allen Sinnen auskosten. Frauen, Drogen, Partys bis in den Morgen – you name it. Gabriel hingegen ist ehrgeizig und zielstrebig und überlässt wenig dem Zufall. Seine Entscheidungen sind durchdacht und sorgfältig gewählt. So verlaufen ihre beruflichen Karrieren und Beziehungen auch diametral entgegengesetzt.

Ein Thema, das eigentlich keins ist, ist ihre Hautfarbe. Im multikulturellen London ist Gabriel einer von vielen, selbst als ihm ein Angriff vorgeworfen wird, wird seine Hautfarbe nicht thematisiert. Er lässt sich nicht in die britische Gesellschaft mit ihrem strengen Klassensystem eingruppieren, sondern wird nach seinem Erfolg und Charakter beurteilt. Sie ist jedoch für ihn wesentliches Kriterium, einen Job in den USA auszuschlagen, denn dort sieht er trotz Obamas Erfolg immer noch eine Reduktion auf sein Äußeres. Auch in Berlin ist Mick nicht ernsthaft Rassismus ausgesetzt, Stigmatisierungen verlaufen eher über soziale Faktoren. Einzig in seiner Beziehung mit Delia kommen ihm gelegentlich Zweifel, ob er nicht gerade wegen seinem Aussehen als Partner in Frage kam, sein Einkommen und Status können es kaum gewesen sein.

Jackie Thomae erzählt lebendig mit eingängigem Humor, der einem immer wieder Schmunzeln lässt. Sie verfällt nicht naheliegenden Klischeedarstellungen, weder wie erwähnt die Hautfarbe noch die Wende werden als Schicksalsschlag ausgeschlachtet, dem die Figuren nicht entkommen können. Es ist ein Blick in den Alltag zweier interessanter Individuen, der auch erzählperspektivisch überzeugend gestaltet wurde.

Hendrik Otremba – Kachelbads Erbe

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Wer war H.G. Kachelbad? In den 1980ern tauchte er in Los Angeles auf, arbeitete offenbar im Bereich der Kryonik, aber so wie er aus dem Nichts plötzlich da war, ist er auch wieder verschwunden. Menschen erinnern sich an ihn und berichten von diesem. Die junge Rosary, die er in die USA holte, um bei den Suspensionen zu helfen, ein Liebhaber, der mit ihm den Ausbruch der Aids Epidemie erlebte, der Autor Shabbatz Krekov, dem ein zweites Leben geschenkt wurde. Alle glaubten sie an den Traum vom ewigen Leben dank der Kryonik. Doch ist die Zeit dafür schon gekommen?

Hendrik Otremba ist künstlerisch in vielen Bereichen unterwegs, ebenso sein Roman, der sich von verschiedenen Seiten her an seinen Protagonisten annähert, ohne ihn jedoch wirklich greifen zu können. Auch die Themen sind breit aufgestellt, von Zukunftssträumen der Technik über Medizin bis zu ganz persönlichen zwischenmenschlichen Aspekten und Ängsten touchiert der Roman die Bandbreite des Lebens.

ich sehe, dass sich zeit meines Lebens nichts getan hat, nichts zum Guten gewandt hat, dass die Menschen wider besseres Wissen, trotz der Erfahrung, trotz der ganzen verdammten Geschichte, weiter und weiter auf den Abgrund zurast. (…)Es müsste etwas Drastisches passieren, dann vielleicht gäbe es noch eine Chance. Aber so? Gib es doch zu, Kachelbad, wir sind verloren.“

Krekov hat die Nazis in Europa gesehen, den Kalten Krieg und den Ausbruch von Aids. Er kann nur zu dem zitierten Urteil über die Menschheit kommen. Dies überschattet auch die Atmosphäre des Romans. Trotz des Fortschritts, das dem onimösen Chinesen gelungen ist, der mit seiner Firma Menschen für ein Leben in einer besseren Zeit konserviert, überlagert die düstere und fatale Stimmung alles. Die wenigsten der erzählenden Figuren waren in ihrem Leben bis dato vom Glück verfolgt, immerhin gibt das Zusammentreffen mit Kachelbad ihnen wieder ein Funken Hoffnung und seine Zuneigung, obwohl diese mit viel Reserviertheit wohldosiert ist, lässt sie am Leben festhalten.

Die Handlung ist schwer zu greifen, die achronologische und multiperspektivische Erzählweise stehen diesem zu sehr im Wege. Die Figurenzeichnung wiederum ist Otremba fantastisch gelungen, die Erzähler offenbaren sich in ihren Notizen, von Kachelbad werden ganz unterschiedliche Seiten aufgezeigt, eben genau jene, die die einzelnen von ihm zu sehen bekommen. Erzählerisch überzeugt mich der Autor, man versinkt direkt in der Geschichte und kann diese nicht mehr loslassen. In vielerlei Hinsicht ein beachtenswerter Roman.