Arno Camenisch – Goldene Jahre

Arno Camenisch – Goldene Jahre

Vor 51 Jahren haben sie ihren Kiosk eröffnet und noch immer leuchtet die Reklame auf 800 Meter Höhe über dem Tal. Rosa-Maria und Margrit erzählen von ihrer bewegten Zeit, die mit der Mondladung begann und sie zu einer festen Größe im Dorfalltag werden ließ. Jeden Morgen schalteten sie die Reklame ein, putzen die Scheiben und holen die Zeitungen; immer derselbe Ablauf, der sich den beiden Damen eingebrannt hat. Winters wie Sommers sind sie der zentrale Anlaufpunkt, an dem alles kulminiert und sowohl die Versorgung mit Gütern wie auch mit Informationen stets gesichert ist.

„Wir sind da ein bisschen wie die Zentrale im Dorf, die Leute tragen uns die Informationen zu, da steht man schon in der Verantwortung, die Daten auch mit der nötigen Sorgfalt zu behandeln, das ist nämlich brisant, stell dir vor, wir würden herumerzählen, was der liebe Herr Pfarrer hier jeden Freitag kauft, das wäre ein Scandal für den Boulevard, aber was für ein Scandal das denn wäre, stell dir vor. Da sind wir dezent (…)“

Es ist herrlichen erfrischend, den beiden ungezwungenen Protagonistinnen bei ihren Erinnerungen zu folgen. Natürlich haben sie allerlei über die Bewohner des Örtchens zu berichten, denn dezent sind sie nun wahrlich nicht – die Fremdgeher, die Lotteriegewinner, der, der immer alles verpasste und erst der Pfarrer – genauso haben sie aber auch jede Menge Prominenz gesehen: Ornella Muti, Roger Moore, Eddy Merckx. Alles notieren sie in ihren Heften, damit nichts vergessen geht, eine ganz eigene Graubündner Chronik.

Inhaltlich irgendwo zwischen Dorfklatsch und lokaler Weltgeschichte besticht der Roman vor allem durch den lässigen Plauderton, der durchaus mal ironisch wird und so lebendig ist, dass man sich Rosa-Maria und Margrit bildlich vorstellen kann. Dass dies mit einer Nominierung auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises honoriert wird, geht für mich mehr als in Ordnung, eine frische Stimme voller beschwingter Leichtigkeit, der man gerne folgt.

Aber der Text ist nicht nur oberflächlich humorvoll, die Veränderungen des ländlichen Raums werden auch deutlich. War einst die Tankstelle der zentrale Treffpunkt, hält nun allein schon die Umgehungsstraße die Menschen fern. Die alte Zeit ist nicht mehr, nur die beiden Damen und ihr Kiosk halten tapfer die Stellung, bis irgendwann jedoch auch ihr Raumschiff endgültig schließt und die Reise zu Ende ist – wie so vieles auf den Dörfern mit den Bewohnern auszusterben droht.

Vielleicht nicht der heißeste Anwärter auf den Buchpreis Titel, für mich aber zweifelsohne ein Lesehighlight, das ich auf jeden Fall nur weiterempfehlen kann.

Jackie Thomae – Brüder

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Jackie Thomae – Brüder

Mick und Gabriel sind Brüder, doch das wissen sie nicht, denn sie haben außer den Genen des Vaters und der dadurch dunklen Hautfarbe wenig gemeinsam. Mick wächst im Ost-Berlin der DDR auf und auch nach der Wende hat das Leben wenig zu bieten. Mit Delia könnte alles in sichere und ruhige Bahnen laufen, aber er kann ihr das nicht geben, was sie will: ein Baby. Gabriel hingegen wächst in Sachsen bei den Großeltern auf, nachdem seine Mutter früh bei einem Unfall starb. Zielstrebig wird er zu einem der besten Architekten weltweit und baut sich in London genau das Leben auf, das er als Kind nicht hatte und von dem er nur träumen konnte. Ihre Wege sollten sich nie kreuzen, doch es gibt ja den gemeinsamen Vater.

Jackie Thomae erzählt in ihrem zweiten Roman, der es 2019 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, zwei Geschichten. Die Ausgangssituation ist vergleichbar, doch dann sind es Umstände, Begegnungen, Zufälle, persönliche Dispositionen, die dazu führen, dass die beiden Jungs sich ganz unterschiedlich entwickeln. Überzeugend zeigt die Autorin so, dass das Leben nie planbar ist und es immer viele Faktoren sind, die darüber entscheiden, wie die Dinge laufen.

„und er begriff erst jetzt: sein Bruder war nicht wie seine Schwestern mit diesem Mann hier aufgewachsen. Nein. Sein Bruder war wie er.“

Mick täuscht sich kolossal in seiner Einschätzung, denn die beiden Brüder könnten verschiedener kaum sein. Mick wirft sich voll ins Leben, erwartet alles und will es mit allen Sinnen auskosten. Frauen, Drogen, Partys bis in den Morgen – you name it. Gabriel hingegen ist ehrgeizig und zielstrebig und überlässt wenig dem Zufall. Seine Entscheidungen sind durchdacht und sorgfältig gewählt. So verlaufen ihre beruflichen Karrieren und Beziehungen auch diametral entgegengesetzt.

Ein Thema, das eigentlich keins ist, ist ihre Hautfarbe. Im multikulturellen London ist Gabriel einer von vielen, selbst als ihm ein Angriff vorgeworfen wird, wird seine Hautfarbe nicht thematisiert. Er lässt sich nicht in die britische Gesellschaft mit ihrem strengen Klassensystem eingruppieren, sondern wird nach seinem Erfolg und Charakter beurteilt. Sie ist jedoch für ihn wesentliches Kriterium, einen Job in den USA auszuschlagen, denn dort sieht er trotz Obamas Erfolg immer noch eine Reduktion auf sein Äußeres. Auch in Berlin ist Mick nicht ernsthaft Rassismus ausgesetzt, Stigmatisierungen verlaufen eher über soziale Faktoren. Einzig in seiner Beziehung mit Delia kommen ihm gelegentlich Zweifel, ob er nicht gerade wegen seinem Aussehen als Partner in Frage kam, sein Einkommen und Status können es kaum gewesen sein.

Jackie Thomae erzählt lebendig mit eingängigem Humor, der einem immer wieder Schmunzeln lässt. Sie verfällt nicht naheliegenden Klischeedarstellungen, weder wie erwähnt die Hautfarbe noch die Wende werden als Schicksalsschlag ausgeschlachtet, dem die Figuren nicht entkommen können. Es ist ein Blick in den Alltag zweier interessanter Individuen, der auch erzählperspektivisch überzeugend gestaltet wurde.

Sibylle Lewitscharoff – Das Pfingswunder

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Sibylle Lewitscharoff – Das Pfingswunder

Pfingsten, eines der Hochfeste der Christenheit, der Empfang des Heiligen Geistes, der alle Menschen beseelte und sie in fremden Sprachen reden lies. Zu eben jenem Fest im Jahre 2013 versammeln sich international renommierte Wissenschaftler in Rom – man bedauert fast nicht in Jerusalem zu sein – um das Hauptwerk Dantes, die Divina Commedia, zu diskutieren. Doch auch dieser nahezu heilige Ort im ehrwürdigen Saal der Malteser auf dem Aventin scheint die Gelehrten in Ekstase versetzen zu können und ein regelrechter Pfingstwunder geschieht, denn plötzlich sind alle verschwunden. Bis auf einen einzigen, der gehalten ist, der Nachwelt von den ereignisreichen Tagen zu berichten.

Sibylle Lewitscharoff hat einen wortgewaltigen Roman geschaffen, der von Frank Arnold in der Hörbuchversion ein einziger Genuss wird. Es erzählt der zurück gebliebene deutsche Forscher Gottlieb Elsheimer, der mühsam die Erlebnisse rekonstruiert und dabei auch noch seine eigenen Gedanken und Kommentare zu den Kollegen zum Besten gibt. Ein herrlicher Spaß, wie er sich über die wissenschaftlichen Meriten oder auch überschaubaren Leistungen der anderen Teilnehmer auslässt. Für interessanter jedoch die vermeintlich vorgetragenen Referate zur Göttlichen Komödie, das Sezieren der einzelnen Canti, die ihre Parallelen im Jetzt und Hier problemlos finden und sich in den Kongressteilnehmern spiegeln. Das fulminante Ende, das die biblische Erzählung zu Pfingsten mit einem Augenzwinkern aufnimmt und überträgt, bildet den krönen Abschluss einer doch recht anspruchsvollen Lektüre, die vermutlich denjenigen, die mit Dantes Werk zumindest rudimentär vertraut sind, deutlich besser gefallen dürfte als an literaturwissenschaftliche n Auslegungen weniger interessierten Lesern.

Dir Hörbuchversion des Buches ist ganz unbedingt zu empfehlen. Frank Arnold ist ein begnadeter Vorleser, der stimmungsvoll moduliert und bei diesem Buch insbesondere wichtig: er beherrscht mehrere Sprachen und kann so die Teilnehmer in ihren Muttersprachen zu Wort kommen lassen. Ich weiß nicht, wie die Druckversion gestaltet ist, es hilft auf jeden Fall, wenn man problemlos Italienisch versteht, denn sonst ist die finale Pointe schlichtweg nicht zu verstehen. Mir hat das Stimmengewirr voller verschiedener Idiome hervorragend gefallen, aber ich fürchte, dass dies nicht wenige Leser vor erhebliche Probleme stellen könnte.

Feridun Zaimoglu – Isabel

Roman, Rezension, Deutscher Buchpreis 2014
Isabel hat genug. Es muss Ende sein und deshalb packt sie ihre Sachen und verlässt ihren Freund. Sie streift umher in Berlin, begegnet Menschen, vorrangig am unteren Ende der Nahrungskette. Verdient Geld mit zwielichtigen Aufträgen, kommt weder vorwärts noch zurück. Ihre Eltern wollen den Weg in die Bürgerlichkeit für sie ebnen, aber die präsentierten Heiratskandidaten können nicht überzeugen. Doch dann kommt Markus. Zurück aus dem Kosovo, aus dem Krieg, der ihn auch immer wieder in Berlin einholt. Auch er sucht nach einem anderen Leben, denn das alte ist es nicht wert, weitergelebt zu werden.

Ich habe nie wirklich Zugang zu Feridun Zaimoglus Roman bekommen. Zu fremd blieben mir die Figuren, vor allem Isabels launenhaftes Hin und Her, das nicht wirklich erkennen ließ, dass sie irgendeinen Plan hat, hat mich eher genervt als Verständnis für sie zu wecken. Auch die entstehende Liebe zwischen ihr und dem Soldaten – der auch meist nicht mit seinem Namen, sondern seiner ehemaligen Funktion genannt wird, was ich sehr verstörend fand – hat sich mir nicht erschlossen. Sind sie eine Zweckgemeinschaft, ein sich gegenseitig bemitleidend und haltendes Notbündnis? Natürlich gehören in dieses Setting die Menschen, mit denen man nicht unbedingt täglich Umgang haben möchte, sprechen diese eine Sprache, die man abstoßend und vulgär finden kann – das hat der Autor auch glaubwürdig und authentisch eingefangen, aber was bleibt über die Atmosphäre hinaus? Für mich gibt es keine wirkliche Erkenntnis nach dem Lesen, denn auch Sozialkritik kann ich nicht entdecken. 2014 war das Buch für den deutschen Buchpreis nominiert. Nimmt man einen ähnlichen Kandidaten aus 2016, Philipp Winklers „Hool“, der ebenfalls in einem schwer zugänglichen Milieu angesiedelt ist, so kann dieser jedoch mit viel differenzierterer Betrachtung und klarer Message punkten. Was auch immer Zaimoglu sagen wollte, mir hat er nichts sagen können.

Philipp Winkler – Hool

Roman, Rezension, Shortlist, Deutscher Buchpreis 2016
Philipp Winkler – Hool

Wenn das Leben wenig zu bieten hat und die eigene Familie sich in ihre Bestandteile aufgelöst hat, braucht man einen Ersatz. Heiko hat ihn gefunden: gemeinsam mit seinen Kumpels ist er nicht nur Fan von Hannover 96, sondern Hool. Wenn die Fußballer ihre Duelle auf dem Platz austragen, freuen sie sich schon auf die dritte Halbzeit, wenn die Anhänger der Teams auf der Straße aufeinander treffen und in heimlichen Fights nach ihrem Sieger suchen. Sein Onkel Axel, Inhaber eines Gym mit illegalen Nebengeschäften, hat ihn schon früh an die Hand genommen, als sein Vater in Depressionen versank nachdem die Mutter davongelaufen war. Genau wie Axel wird auch Heiko den Absprung nicht schaffen, obwohl sich nach und nach die Kumpels in ein bürgerliches Leben verabschieden. Welches Leben wartet auch schon auf ihn? Er hat doch nur die Fights.

Philipp Winklers Roman ist einer der sechs verbliebenen der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2016. Thematisch sicher der ausgefallenste von den Nominierten, die ich gelesen habe. Heiko ist ein krasser Außenseiter, der am Rand der Gesellschaft lebt und dessen Dasein von einem ganz anderen Takt und anderen Werten bestimmt wird. Man teilt seine Einstellung über weite Strecken nicht und dennoch kann man nicht sagen, dass er einem gänzlich unsympathisch ist. Das, was er seinen Freunden an Zuneigung und Hilfe entgegenbringt, ist schon beachtenswert – allerdings sind diese auch seine Ersatzfamilie nachdem dir originäre sich aufgelöst hat. Eine völlig ausgereifte Figur mit vielen Facetten, kein unbedarfter Teenager mehr, aber auch noch nicht ganz im Leben angekommen. Nicht auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, kein großer Zweifler, aber im eigenen Leben nicht zu Hause und das richtige ist nur manchmal verschwommen am Horizont erkennbar.

Worin liegt die Qualität des Romans, die die Nominierung rechtfertigt? Ein Einblick in das Leben eines Menschen am Rande der Gesellschaft, thematisch gewagt; mit Hooligans werden nicht viele Leser etwas anfangen können, es mag sogar eher verschrecken – insbesondere Titel und Cover sind hier sehr drastisch, was jedoch zum Buch passt. Die Konstruktion des Romans wird nicht gleich offensichtlich, es dauert ein wenig, bis man durchschaut, was Winkler sich da ausgedacht hat. Wir werden nicht chronologisch durch die Handlung geführt, sondern haben zwei Stränge: Heikos Leben im Jetzt, das zeitlich voranschreitet und Heikos Leben in der Familie, das rückwärts läuft und erst spät aufklärt, wie es zur Fragmentierung kam. Eine sehr gelungene Erzählweise, die sich kompliziert anhört, aber dennoch gut zu lesen ist. Der Ton ist glaubwürdig getroffen und passt zur Szene. Alles in allem, ein in sich völlig stimmiger und runder Roman, auf den es lohnt, sich einzulassen.

Gerhard Falkner – Apollokalypse

Rezension, Roman, Deutscher Buchpreis
Georg Authenrieth erinnert sich. Soweit er das noch kann, denn vieles ist weg oder nur noch verschwommen da, manches ergibt auch wenig Sinn. Aber vielleicht sind das ja auch nicht seine Erinnerungen, sondern die seines Doppelgängers. Schließlich ist ohnehin alles nur Rekonstruktion. Die Kindheit in Nürnberg, die erste Liebe zu Isabel, das Leben im Berlin der 80er Jahre. Die zweite wichtige Frau, Billy, der Anschlag, der Geheimdienst, die Freunde, die Reisen in die USA und die DDR. Man muss das nehmen, was man hat und so macht es auch Georg oder Georg über den Menschen Georg Authenrieth, der vorgibt, er zu sein und es vielleicht sogar ist.
Gerhard Falkners Roman hat es 2016 auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Die Presse hat den Roman bejubelt: ein neues Kapitel der Berlin-Literatur (Süddeutsche), großartig (Deutschlandradio Kultur), fantastisch (Zeit), kunstvoll und komisch erzählt (LiteraturSpiegel). Ich habe mich auf jeder Seite gefragt: was soll das? Was will mir das sagen? Hä?
Ein Erzähler, der sich seiner Erinnerung nicht sicher ist – ok, keine ganz originelle Idee, aber kann man was draus machen. Diskontinuierliche, unchronologische Erzählung – kein Thema, man darf als Leser schon ein wenig gefordert werden. Episodenhafte Erzählungen, lose Verbindungen – auch das kann seinen Reiz haben. Aber hier war mir alles zu lose, zu unverbindlich, zu wenig greifbar. Phasenweise waren zwar Ansätze einer Erzählung vorhanden, diese wurden dann wiederum von absurden Spekulationen über das Sein abgelöst und der Erzähler springt von der ersten zur dritten Person. Wenn alles im Rahmen von Spekulation und Unverbindlichkeit bleibt, wozu dann noch ein Roman? Wenn selbst die Literatur sich nicht mehr in der fiktiven Welt festlegt, wer soll dies denn noch in der Realität tun? Ein Roman, der nichts sagen will, ist für mich letztlich egal und auch irrelevant.
Rechnet man die Idee einer inhaltlichen Aussage raus, könnte der Text immer noch durch seine Konstruktion und die Sprache punkten. Aber auch da erreicht er mich nicht. Insbesondere die Ergüsse im Bereich der Fäkalien sind einfach nur widerlich, die Wortwahl abstoßend und dezidierte Beobachtungen des Stuhlgangs sind für mich keine Kunst, sondern schlichtweg verzichtbar.

Irgendwer scheint den Roman verstanden zu haben, ich offenkundig nicht. 

Michael Kumpfmüller – Die Erziehung des Mannes

Rezension, Roman, Deutscher Buchpreis
Der Erzähler ist gerade dabei sich von seiner langjährigen Freundin zu trennen, schon seit einiger Zeit verbindet sie nichts mehr und als ihm Julika begegnet, ist das Ende besiegelt. Mit ihr wird er ein Leben beginnen, das leider nicht hält, was er erwartet hatte. Kinder bekommen sie, aber keine gute Ehe ist möglich, zu verschieden sind sie, zu jähzornig und hasserfüllt seine Frau. Eine Trennung, ein Kampf. Über Jahre finden sie keine Ruhe und er kann in der neuen Beziehung mit Sonja nicht frei sein. Auch seine Eltern führten schon keine glückliche Ehe, wiederholt sich vieles einfach? Wie wird das Liebesleben seiner Kinder aussehen, erkennt er nicht dieselben Strukturen und Fehler, die sein Leben bestimmten. Am Ende taucht eine Frau wieder auf, die im Jahrzehnte zuvor schon einmal gezeigt hat, was Liebe sein kann. Damit schließt sich der Kreis und seine Erziehung durch all die Frauen ist abgeschlossen.
Zugegebenermaßen hätte mich das Buch nicht wirklich zum Lesen verlockt. Der Titel mutet seltsam an, ans das Labyrinth des Covers hätte mich auch nicht unbedingt angesprochen und ein Buch über die verschiedenen Liebschaften eines Mannes klang zunächst auch nicht unbedingt überzeugend. Die Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2016 hat mich jedoch zu dem Titel greifen lassen und unumwunden kann ich zugeben: glücklicherweise, denn dieser Roman wäre an mir vorbeigegangen.
Der Titel birgt eigentlich schon alles, was das Buch beinhaltet, aber möglicherweise sollte man ihn weniger pädagogisch, sondern vielleicht biologisch betrachten. Eine Pflanze wird gesät und wächst, ihre Umweltbedingungen nehmen Einfluss, mal versucht man ihr etwas Gutes zu tun, mal schadet man ihr eher. Was aus der kleinen Saat wird, ist jedoch nicht wirklich in der Hand des Gärtners und dass irgendwann ein Ende kommt, ist ebenfalls unvermeidlich. Der Erzähler wird aufs Leben losgelassen, durchaus behütet, wenn auch nicht immer unter Idealbedingungen, wird durch seine Beziehungen beeinflusst und doch wächst er daran auf seine eigene Weise, wird groß und stark und so wie eine Pflanze an ihrem Platz bleibt, bleibt bei sich und seiner Musik.
Das Cover verdeutlicht das, was mit ihm passiert: das Leben als Verwirrspiel, von dem man nicht genau weiß, ob man die richtige Abzweigung nimmt, oder sich doch eher verrennt, an manchen Stellen warten Frauen, denen er begegnet, die einen Bruch im Muster verursachen, doch es geht irgendwann weiter, bis er zu sich selbst findet.

Bleibt die letzte offene Frage: interessiert es mich als Leserin, wenn ein Mann über seine Beziehungen spricht? Michael Kumpfmüller ist es hier gelungen einen ansprechenden Ton zu finden, sein Protagonist berichtet mal wehmütig, mal eher analysierend, ebenso von schwierigen Gefühlslagen wie von harten Kämpfen. Die Frage ob Mann oder Frau ist deutlich weniger relevant als erwartet, denn schließlich handelt es sich um einen fühlenden Menschen, der mal enttäuscht wird, mal selbst enttäuscht, der sich stabile und dauerhafte Zweisamkeit wünscht, jedoch es passt etwas nicht und der Wunsch bleibt unerfüllt. Die Phasen seines Lebens werden durch die Frauen gegliedert und alle hatten letztlich ihren Anteil an seinem Leben und dem, was aus ihm geworden ist. Einen Grund zur Reue gibt es nicht, denn sonst wäre er nicht der, der er am Ende ist.

Hans Platzgumer – Am Rand

Roman, Rezension, Deutscher Buchpreis 2016
Gerold Ebner macht sich früh am Morgen auf in Richtung Gipfel des Bocksbergs. Er hat etwas zu erledigen, das will er alleine und in Ruhe tun. In Etappen geht es bergauf und in Etappen lässt er sein Leben Revue passieren. Zunächst seine Herkunft, die Mutter, die als Prostituierte arbeitet und nicht weiß, wer sein Vater ist. Sein Großvater, herrisch und bestimmend und dessen Tod eine Erleichterung für die gebeutelte Mutter ist. Seine Liebe zu Elena, die nie in einer Ehe oder richtigen Familie mündete. Und seine Freundschaften, die von der Kindheit bis in den Tod halten. Der Tod ist es auch, der den Takt und die Einschnitte bestimmt und der am Ende als letzter auf den Protagonisten noch wartet.
„Am Rand“ – für mich eher am Abgrund, ein Leben immer an der Grenze, kurz vor dem Absturz, nie wirklich in den ruhigen Fahrwassern in der Mitte. In gelassenem Ton lässt Platzgumer seinen Protagonisten erzählen, die äußere Chronologie ebenso wie die seines Daseins gliedern die Erzählung und so passt ein ganzes Leben in einen einzigen Tag. Auch der Gegenspieler des selbigen schlägt seine Pflöcke ein und sucht schon früh die Bekanntschaft mit dem Protagonisten, der sich die Frage stellen muss, ob es gerechtfertigte Tode gibt und ob man Mitschuld immer als etwas Negatives sehen muss – kann dies nicht auch Befreiung sein? Die Mutter befreit er von dem übermächtigen Großvater, den Freund vom aussichtslosen Leiden, die Geliebte von der unerfüllten Mutterschaft und sich selbst? Es ist absehbar, worauf die Handlung von der ersten Seite an hinsteuert, es bleibt die Frage nach dem Warum, die gleich mehrfach beantwortet wird und sich am Ende umformuliert in die Frage nach der Sinnhaftigkeit des Lebens und der Menge an Kraft, die es lohnt aufzubringen – oder eben nicht.
Hans Platzgumer wurde für seinen Roman mit der Nominierung auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2016 honoriert. Thematisch reißt er die ureigenen Fragen nach dem Dasein des Menschen und dem Sinn des Lebens auf – allemal eine Nominierung wert. Interessant ist die Deutung der Frage nach der Schuld; der Autor wagt es die üblichen Wege in schwarz-weiß zu verlassen und stimmt der Leser mit seinem Protagonisten ein, macht er sich womöglich mitschuldig. Gibt es einen gerechtfertigten Mord? Dürften oder sollten wir ihn dann überhaupt Mord nennen? Trotz der Schwere und Bedeutung der Thematik liest sich der Roman jedoch recht eingängig und nur leicht melancholisch, wir dürfen uns den angerissenen Fragen stellen, werden aber nicht von diesen erschlagen, was ein wahrhaftiges Kunststück ist.

Dagmar Leupold – Die Witwen

Rezension, Roman, Deutscher Buchpreis
Ein beschauliches Winzerdorf an der Mosel. Zuerst hat es Penny dorthin verschlagen, eines Mannes wegen, der später einfach verschwinden würde. Ihre Freundinnen aus Kindheitstagen sind ihr aus dem fernen Berlin gefolgt, Beatrice, Dodo und Laura haben sich in der Provinz ein neues Leben aufgebaut. Alle vier sind ohne Mann, aber noch lange keine Witwen. Das Leben geht tagein tagaus seinen Lauf ohne große Überraschungen. Da muss noch etwas geschehen – eine Reise ist die Idee. Und dazu muss ein Chauffeur her. In dem jungen Benedix finden die vier Frauen einen Begleiter für ihre Fahrt, deren Ziel noch unbekannt ist.  
Auch den vier Witwen kam die Ehre zu, auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2016 zu stehen. Für mich das vierte der nominierten Bücher und im Vergleich zu den drei vorherigen eine positive Überraschung. Angenehm flüssig liest sich der Roman, die Dialoge sind glaubwürdig, die Sprache nicht gerad poetisch, aber genau passend zu den Figuren, dem Ambiente und der Geschichte. Alles wirkt einfach rund und stimmig und wird dadurch zu einer vergnüglichen Lektüre. Die vier Frauenfiguren ebenso wie der einzige Mann sind liebevoll mit kleinen Details entwickelt, auch wenn ich einige Zeit brauchte, sie wirklich auseinanderhalten zu können.

Interessant machen den Roman jedoch weniger die präsentierten Charaktere, auch die Handlung der Reise – die tatsächlich nicht sehr weit führt und eher beschauliche Zwischenstopps als große Orte zu bieten hat – ist nicht das, was diesen Roman literarisch attraktiv gestaltet. Es ist letztlich der Rückgriff auf ein bekanntes Muster, das man länger nicht gelesen hat: Die Pilgerreise, auf der ganz klassisch die Figuren nacheinander eine Geschichte erzählen. Hier jeweils etwas, das die Freundinnen trotz der jahrelangen Verbundenheit nicht wussten, etwas ganz Persönliches, ein tiefer Blick in das Innerste der Freundin. Dieses alte Muster wird in neuem Gewand dargeboten und lässt sich doch leicht erkennen. Auch werden hier nicht bekannte Wege beschritten, es sind auch nicht fromme Gedanken, die die Wanderinnen leiten – aber sie suchen doch nach Sinn in ihrem Leben und finden am Ende sogar ein Ziel. 

Bodo Kirchhoff – Widerfahrnis

Rezension, Roman, Novelle, Deutscher Buchpreis
Zwei Menschen, Julius Reither und Leonie Palm. Beide mit großen Unternehmungen – einem Verlag und einem Hutgeschäft – gescheitert. Und nun hat das Schicksal sie zusammengeführt, um auf eine gemeinsame Reise zu gehen. Nach Sizilien brechen sie auf, mit im Gepäck ein Buch, das ohne Titel verlegt wurde und dessen Einband nur den Namen der Autorin zeigt: Leonie Palm. Sie scheinen beide schon alles gesehen und erlebt zu haben und sind doch nicht auf das vorbereitet, was ihnen auf der Reise widerfährt. Eine Reise, die ungeahnte Gefühle weckt und eine lange Suche zu einem gemeinsamen Ziel führt.
Bodo Kirchhoffs Novelle ist eins von zwanzig Büchern der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2016. Waren die beiden, die ich bisher von der Liste gelesen habe, eher sperrig und schwer zugänglich, Bücher, die nicht durch ihre Geschichte, sondern durch ihre Konstruktion überzeugen konnten, finde ich bei Kirchhoff nun zur erfreulichen Abwechslung den Inhalt das stärkere Moment. Seine beiden Protagonisten tragen die Geschichte und weben langsam ihre Verbindung. Mal schneller Mal langsamer nähern sie sich an einander an und blicken auf das, was war und das, was möglicherweise sein könnte. Der ganzen Handlung unterliegt eine leichte Melancholie, die den Leser in eine sehr eigene Stimmung taucht.

Besonders gelungen sind die Einwürfe und Einlassungen des Erzählers, der gelegentlich seine zugedachte Rolle verlässt und zeigt, dass Ausbrüche immer möglich sind und nicht so bleiben muss, wie es ist. Der zunächst seltsam anmutende Titel „Widerfahrnis“, der das Wiederfahren wie auch das Fahren vereint, passt am Ende auch ganz wunderbar zu der Novelle.