Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

Ein Dorf im Hunsrück der 1980er Jahre. Ela ist noch ein Kind und versteht nicht alles, was um sie herum geschieht. Offenkundig ist jedoch, dass das Gewicht ihrer Mutter ein Problem ist. Mehr als das, es scheint die Ursache für alles Unglücks ihres Vaters zu sein. Ein Mann, der sich immer für Großes geboren sah und seiner Frau die Schuld dafür gab, dass er nicht befördert wurde, nicht über so viel Geld und Bildung wie sie verfügte, im Dorf nicht so anerkannt war, wie er sich das gewünscht hätte. Aber wie sollte er das auch erreichen, mit einer dicken, nicht präsentablen Frau an seiner Seite? Als Erwachsene Blickt Ela zurück, spricht endlich mit ihrer Mutter über das Jahrzehnte lange Martyrium, das diese stoisch ertragen hat und mit ihrer Gesundheit bezahlte.

Zugegebenermaßen hat mich erst die Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2022 so richtig neugierig auf „Lügen über meine Mutter“ gemacht. Die rheinland-pfälzische Provinz als Schauplatz fand ich eher wenig attraktiv, kenne ich sie doch zur Genüge und weiß um den Horror, der Dorfleben bedeutet. Daniela Dröscher verdichtet den Roman jedoch, die Handlung spielt sich weitgehend im Nukleus der Familie, den eigenen vier Wänden ab, die zur Kampfarena zwischen den Eltern werden mit einem Kind, das zu jung ist, um die Mechanismen des innerfamiliären Krieges zu verstehen. Eine schonungslose Milieustudie, die letztlich das Portrait einer ganzen Generation von Frauen ist.

Als Erwachsene stellt die Erzählerin fest, dass sie ihre Mutter nie verstanden hat und beginnt endlich, mit ihr über die Erinnerungen zu reden. Episoden aus der Kindheit wechseln sich so mit Analysen ab und ordnen den ganzen Schrecken ein, den die Mutter widerspruchslos zum Wohle der Töchter ertragen hat. Immer wieder läuft es darauf hinaus, dass der Vater versucht seine Unterlegenheit und Minderwertigkeitskomplexe zu überwinden, indem er die Mutter klein macht. Als Schlesiendeutsche ist sie keine richtige Deutsche, sie spricht ja nicht einmal den richtigen Dialekt! Das Geld ihrer Familie kann nur illegal erworben sein, Verbrecher müssen sie sein, nie kann man durch ehrliche Arbeit so vermögend werden. Ihre Bildung? Sie will doch nur angeben, das sind gar keine richtigen Diplome die sie hat.

Endlos ist die Liste der Angriffspunkte, zentral wird jedoch immer wieder ihr Gewicht. Vieles kann der Mann kontrollieren, wohin sie geht, wofür das Geld ausgegeben wird, aber ihr Gewicht unterliegt trotz aller Bemühungen – öffentliches Wiegen und Notieren der Zahl in einem Buch! – nicht seiner Macht. Alle Schikanen erträgt sie, frisst alles in wahrsten Sinne des Wortes in sich hinein und kümmert sich doch selbstlos um alle anderen um sie herum.

Es ist beim Lesen oftmals fast unmöglich auszuhalten, was Elas Mutter an psychischer Gewalt angetan wird und man fragt sich, weshalb sie nicht ausbricht, nicht einfach geht. Und zugleich weiß man, dass es so einfach nicht ist und erinnert sich, wie viele dieser kleingeistigen Männer man selbst erlebt hat, die sich für etwas Besseres hielten, wenn sie im ballonseidenen Jogginganzug mit dem Cabrio vorm dörflichen Tennisplatz vorfuhren und sich für den König der Provinz hielten und dabei doch nur alle Peinlichkeit zur Schau trugen.

Was in den 80ern als völlig normales Familienleben erschienen sein mag, würde man heute ganz anders einordnen, wie es die Erzählerin auch tut und womit sie ein Licht auf eine ganze Generation von Frauen wirft, die von ihren Müttern noch zum Schweigen erzogen wurden, ihren eigenen Töchtern jedoch Stimmen mit auf den weg gegeben haben.

Auch sprachlich bietet der Roman viele interessanten Facetten, weshalb er für mich ganz eindeutig ein würdiger Kandidat für den diesjährigen Buchpreis wäre, vor allem, um dem Thema die verdiente Aufmerksamkeit zu schenken.

Romy Hausmann – Perfect Day

Romy Hausmann – Perfect Day

Als man ihren Vater, einen angesehenen Philosophie Professor, verhaftet und beschuldigt, der brutale Schleifenmörder zu sein, der zehn Mädchen entführt und getötet hat, kann Ann das nicht glauben. Nach dem Tod ihrer Mutter hat er sich liebevoll um die Tochter gekümmert, war immer für sie da. Außerdem hätte sie ja etwas davon merken müssen! Die Polizei scheint sich sicher zu sein, andere Spuren verfolgen sie erst gar nicht und auch Ludwig, Anwalt und Freund des Vaters, kümmert sich nur halbherzig um dessen Verteidigung. Als Ann zufällig die Mutter eines der Mädchen kennenlernt, führt sie dies auf eine andere Spur, die die Ermittler schon vor Jahren ignorierten, dabei sind die Indizien eindeutig. Als es in einem bayerischen Dorf zu einer Entführung eines Mädchens kommt, macht sich an mit dem befreundeten Journalisten Jakob auf dorthin. Ihr Vater im Gefängnis kommt nun unmöglich als Täter infrage.

Romy Hausmann erzählt ihren Roman aus Sicht der verzweifelten Tochter, die offenbar alleine an die Unschuld ihres liebenswerten Vaters glaubt. Unterbrochen wird die Handlung durch Protokolle, in denen der Mörder offenbar Jahre später in Interviews über seine Beweggründe berichtet sowie eine Innenschau in diesen, wenn es zu den Taten kommt. Man erhält so Einblick in die Gedankenwelt ohne dass schon viel offengelegt wird.

Sowohl das Szenario wie auch die zusätzlichen Informationen des Täters sind spannend angelegt. Durch die persönliche und vor allem emotionale Involvierung der Protagonistin weiß man, dass ihr Blick getrübt und verfälscht sein kann, dass sie nur sieht, was sie sehen will, da sie nicht objektiv nach einem Schuldigen sucht, sondern sich rasch in ihr Gedankenkonstrukt verbeißt. Aber man hat ja noch einen zweiten Blick, dem man als Leser versucht, weitere Details, kleine Anhaltspunkte zu entlocken, um den Mörder zu entlarven.

Leider wurde für mich vieles davon durch für mich gänzlich unglaubwürdige Zufälle und eine doch stark überzogene Hauptfigur verleidet. Die Handlung kommt eigentlich immer nur durch unerwartete Glücksfälle voran, selten ist etwas glaubwürdig motiviert; im passenden Moment geschieht immer etwas, das den nächsten Schritt auslöst. Auch dass sich genau jene Figuren immer begegnen, die sich zwingend begegnen müssen, wirkt nicht authentisch – mal davon abgesehen, dass die Polizei offenbar keine Veranlassung sieht, sie ernsthaft in die Schranken zu weisen, wenn sie überall rumplatscht und sich einmischt. Natürlich haben wir es mit einer Superheldin zu tun, die schlimmste Situationen und Verletzungen meistert, um sich drei Minuten später in den nächsten Kampf zu begeben. Was ich bei James Bond augenzwinkernd hinnehmen kann, wirkt hier einfach überzogen.

Guter Ansatz, leider für mich nicht überzeugend ausgearbeitet. Auch das letztliche Motiv, das am Ende aus dem Hut gezaubert wird, kann nur halbherzig die Taten erklären. Fazit: durchaus spannend erzählt, aber auf der Plotebene doch auch mit großen Schwächen.

Édouard Louis – Die Freiheit einer Frau

Édouard Louis – Die Freiheit einer Frau

Der junge französische Autor Édouard Louis setzt die Erzählung seiner Familie fort. Nachdem er in „En finir avec Eddy Belleguele“ (dt. „Das Ende von Eddy“) seine eigene Geschichte erzählte, in „Histoire de la violence“ (dt. „Im Herzen der Gewalt“) eine nahezu unerträgliche Gewalteskapade ausführte, näherte er sich in „Wer hat meinen Vater umgebracht“ seinem Vater. Jetzt ist seine Mutter, die auch das Cover ziert, in „Die Freiheit einer Frau“ im Fokus. Genau jenes Bild, das er zufällig entdeckte, war auch der Auslöser für das Buch, das einmal mehr in seiner ganz eigenen literarischen Form zwischen Erzählung, Memoiren und Biografie verfasst wurde.

„Sie war gedemütigt, aber sie hatte keine andere Wahl, oder sie dachte, sie hätte keine, die Grenze dazwischen ist schwer zu bestimmen, (…)“

Moniques Leben gerät früh schon auf die schiefe Bahn. Während der Ausbildung wird sie als Teenager schwanger, bekommt bald schon das zweite Kind. Sie verlässt den Vater der Kinder für einen anderen Mann, der jedoch ebenso gewalttätig und unterdrückend ist. Mit ihm folgen weitere Kinder, darunter auch Édouard. Ihr bleibt das Leben als Hausfrau und Mutter auf dem nordfranzösischen Dorf. Dass sie einmal eine lebenslustige Frau mit Träumen war, davon ist nichts mehr zu spüren. Stoisch erträgt sie das Schicksal, das ihr scheinbar zugewiesen wurde. Sie braucht Jahrzehnte, um sich zu erinnern, dass sie schon einmal geflüchtet ist und dass sie sie diese Möglichkeit wieder hätte.

„Sie war sich ganz sicher, dass sie ein anderes Leben verdiente, dass es dieses Leben irgendwo gab, abstrakt gesehen, in einer virtuellen Welt, so gut wie in Reichweite, und dass ihr Leben in der wirklichen Welt eigentlich wegen eines Versehens so aussah wie es war.“

Was die Erzählungen Édouard Louis‘ auszeichnet, ist die gnadenlose Beschreibung einer unschönen Realität. Er kommt aus einem prekären Milieu, das von Gewalt und Hoffnungslosigkeit geprägt ist und eröffnet mit seinen Büchern einen Blick in diese Welt, vor der man lieber die Augen verschließen möchte. Ihm selbst ist nicht nur der soziale Aufstieg geglückt, er kann mit dem Abstand von Zeit und Raum auch das reflektieren, was er als Kind und Jugendlicher erlebt und gesehen hat und schreibt dies nieder.

Auch wenn die schon bekannte endlose Spirale, die sich von Generation zu Generation wiederholt –  geboren in Gewalt und Armut, den Ausweg nicht finden, den Weg der Eltern reproduzieren, selbst gewalttätig werden und mit prekären Jobs gerade so überleben – auch hier geschildert wird, erlaubt der Blick auf die Mutter doch auch einen Funken von Hoffnung. Und Versöhnung, denn der Sohn ist älter und reifer, erkennt seine eigenen Fehler gegenüber der Mutter, seine Fehleinschätzungen, die blinden Flecken, die er in jungen Jahren nicht sehen oder richtig deuten konnte. Somit wird der Bericht auf eine Reflektion über das eigene Denken und das Eingeständnis von selbst ausgeübter Gewalt, die in seinem Fall eher psychologisch denn physisch war.

Eine Hommage an eine letztlich starke Frau, keine schöne Lebensgeschichte, aber eine aus dem echten Leben, das nun einmal nicht immer rosarot ist.

Marianne Cedervall – Schwedische Familienbande

Marianne Cedervall – Schwedische Familienbande

Samuel Williams muss die Großstadt verlassen, um in dem Dörfchen Klockarvik seine neue Stelle als Pfarrer anzutreten. Doch kaum ist er angekommen, ist es mit der beschaulichen Dorfruhe auch schon vorbei als er auf dem Friedhof die grausam zugerichtete Leiche von Finn Mats Hansson findet. Der Hotelbesitzer war gut bekannt und hat sich mit seinen Geschäften nicht wenige Feinde gemacht. Aber auch seine Ex-Frau, gerade durch eine Jüngere ersetzt, hätte durchaus ein Motiv, sich ihres Mannes zu erledigen. Ebenso sein Sohn, der um das Erbe fürchten muss. Statt sich auf das Seelenheil seiner neuen Schäfchen zu konzentrieren beginnt Samuel zu ermitteln, sehr zum Missfallen von Maja-Sofia Rantatalo, der zuständigen Kommissarin.

Marianne Cedervall hat ihren cosy crime Fall zu Beginn der Adventszeit angesiedelt, in der die Menschen eigentlich in besinnlicher Stimmung sein sollten, das schwedische Dorf jedoch durch den Mord aufgerüttelt wird. „Schwedische Familienbande“ greift mit dem in Eigenregie ermittelnden Geistlichen ein bekanntes Thema auf und unterscheidet sich damit stark von den typischen schwedischen Psychothrillern, die in nervenzerreißender Weise grausame Brutalität schildern. Hier geht es eher beschaulich und gemächlich zu, in guter Tradition eines Father Brown oder Brother Cadfael.

In seinem ersten Fall muss der Neuankömmling sich erst mit den Bewohnern und den Traditionen seines neuen Wirkkreises vertraut machen, womit auch dem Leser der Einstieg leicht gelingt. Das fehlende Wissen um Verbindungen und alte Fehden muss dich der Pfarrer erst mühsam erfragen, ist dabei aber erfolgreicher als die Polizei. Mit Maja-Sofia hat er eine würdige Gegenspielerin, die so gar nicht von seinem Tun begeistert ist, aber erkennen muss, dass der Kirchenmann durchaus clever kombiniert und seinen eigenen Zugang zu den Menschen findet.

Als Protagonist ist Samuel mit einigen Eigentümlichkeiten ausgestattet: geschieden mit Freundin passt er nur bedingt in das Bild des gottesfürchtigen braven Bürgers. Mit seinem Boss, also dem ganz oben, führt er Zwiegespräche, vor allem dann, wenn ihm die attraktive Kommissarin wieder einmal droht seine eigentliche Freundin vergessen zu lassen.

Leider funktioniert nicht alles in der Übersetzung. Der Running Gag bezüglich der Namen hat sich mir schlichtweg nicht erschlossen und wurde dadurch irgendwann etwas müßig, ebenso die Dialektfrage, die aber wohl scheinbar auf eine Erfindung der Autorin zurückgeht. Handlung und Figuren sind etwas schematisch und lassen leicht die bekannten Vorbilder erkennen, hier hätte etwa mehr Originalität gutgetan.

René Goscinny/Albert Uderzo – Astérix et le Griffon [Asterix und der Greif]

René Goscinny/Albert Uderzo – Astérix et le Griffon

Caesar äußert Gefallen an einem neuen ikonischen Tier, das seine Macht symbolisieren soll: der Greif. Halb Adler, halb Löwe und mit Pferdeohren lebt das magische Tier ganz weit im Osten, in jener Region, die noch nie ein Römer betreten hat. Praktischerweise haben die Römer auch gerade eine Amazone gefangen genommen, die just aus dieser Gegen kommt und den Weg zum Greif weisen kann. Die Aufregung in dem sarmatischen Dorf, aus dem Kalachnikovna stammt, ist groß und so nimmt der Schamane Kontakt zu seinen gallischen Freunden auf und bittet um Hilfe. Astérix, Obélix, Panoramix (Miraculix) und Hund Idéfix machen sich auf in den Kampf.

Jean-Yves Ferri und Didier Conrad setzen bereits zum fünften Mal die Erfolgsserie der widerspenstigen Gallier fort. Schauplatz ist der eisige Winter tief im Osten bei einem wenig bekannten Nomadenvolk. Wie gewohnt kann man sich einfach an der unterhaltsamen Geschichte erfreuen oder auch die zahlreichen Anspielungen und Verweise auf aktuelle Ereignisse entdecken.

Besonderes Highlight sind die sarmatischen Frauen: unerschrockene Amazonen, die in den Krieg ziehen während die Männer daheim in der Jurte die Kinder hüten. An Zaubertränke und dergleichen glauben sie nicht, so ein Unfug mag was für Männer sein, die Frauen kommen locker auch ohne aus. Herrlich gelungen vor allem die Gefangene Kalachnikovna, die allen Römern den Kopf verdreht und dabei nur Verachtung für sie übrig hat.

Auch die Römer bieten interessantes Personal: Geograf Terrinconus ist unverkennbar nach Michel Houellebecq gestaltet und zitiert nebenbei die Werke des Autors. Der Legionär Fakenius wittert hinter allem eine böse Verschwörung, vor allem, als sie sich dem Ende der Welt – Scheibe oder Globus ist hier die Frage – nähern.

Eine Reihe von Hindernissen und Konfrontationen mit den Legionären gilt es wie immer zu meistern, die auch im 39. Band einen großen Spaß bereiten. Herrlich dieses Mal umgesetzt die Sprechweise des asiatischen Völkchens, das zumindest in der französischen Ausgabe nur mit umgedrehten „E“ kommuniziert, was auch zu dem einen oder anderen Missverständnis führt.

Antje Rávik Strubel – Blaue Frau

Antje Rávik Strubel – Blaue Frau

In ihrem tschechischen Dorf ist Adina die letzte Jugendliche, außer den russischen Touristen kommt auch nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs kein wirkliches Leben mehr in die abgelegene Region im Riesengebirge. Nach der Schule fährt sie nach Berlin mit dem Ziel, dort erst die Sprache zu lernen und dann zu studieren. Mit der Fotografin Rickie lernt sie eine Frau kennen, die ganz anders ist als sie, offen, gewandt, die einfach tut, was sie tun möchte. Sie ist es auch, die ihr weiterhilft und ein bezahltes Praktikum mit freier Kost und Logis vermittelt, das jedoch im Desaster und einer neuerlichen Flucht endet. Nun versteckt sie sich in Helsinki, schuftet in einem Hotel, wo sie in einer Dachkammer hausen kann. Als sie dort den estnischen Professor Leonides Siilmann kennenlernt, könnte sich die Chance auf einen Neubeginn ergeben. Doch davor liegen noch Abgründe, die es zu überwinden gilt und Schluchten, die sich unerwartet auftun.

„Ich schlage deshalb vor, wie gehabt zu verfahren. Jeder von uns hat seine Schwachstellen, jeder macht Fehler. Wenn der jungen Frau etwas Schlimmes widerfahren ist, in Deutschland wohlgemerkt, muss sie sich an die entsprechenden Behörden wenden. Lasst uns aber nicht das große Ganze aus den Augen verlieren.“

Antje Rávik Strubels Roman eröffnet mit Fragezeichen. Man weiß, dass sich die junge Protagonistin versteckt, warum bleibt jedoch lange unklar. Sie ist offenkundig in einem fremden Land, sie benötigt einen Anwalt, was sie erlebt hat, muss schlimm gewesen sein. Sie will für Gerechtigkeit kämpfen und ahnt, dass dies ein ungleicher, unfairer und kaum zu gewinnender Kampf werden wird. Immer wieder taucht die blaue Frau auf, ein Geist, ein Gedanke offenbar, der Adina begleitet und leitet und Mut macht, auf dem Weg, der nicht steinig ist, sondern auf dem Felsen stehen.

Das Bild lichtet sich bald und nach und nach wird klar, dass es sich bei „Blaue Frau“ um die Geschichte einer missbrauchten, traumatisierten Frau handelt, die sich mächtigen älteren Männern gegenübersieht. Sie findet Unterstützer, doch auch diese erleben Hilflosigkeit ob der Machtstrukturen. Im großen Getriebe ist Adina nur ein Rädchen, ein ganz kleines, das keine Rolle spielt für die Maschinerie der Wirtschaft und Kultur und das doch bitte einfach funktionieren und den Betrieb nicht stören soll.

Es ist jedoch nicht nur das Einzelschicksal, das die Autorin schildert, sie setzt es in einen größeren Kontext, denn es ist Adinas spezifische Herkunft als Osteuropäerin, die jenen, die sie missbrauchen, zusätzliche Macht verleiht. Sie ist nicht Mensch zweiter Klasse – Frau – sondern dritter oder vierter Klasse, Mensch, dem keine Rechte und keine Würde zugesprochen werden. Dass sie einmal Träume hatte und ein Leben vor sich, darauf kann leider keine Rücksicht genommen werden.

Inhaltlich greift Strubel sowohl das Private wie auch europäische Fragen auf, offene Grenzen reißen nicht Mauern in Köpfen ein, ebenso wenig wie rechtliche Gleichberechtigung selbige auch in den Köpfen herstellt. Nicht chronologisch erzählt transferiert sie literarisch das Gedankenmäandern, das ganz typisch ist für Opfer von Gewalt, die sich in einem Strudel befinden und wo sich bisweilen Realitäten überlagern. Folglich ist die Nominierung auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021 keine wirkliche Überraschung, sondern notwendige Konsequenz.

Daniela Krien – Der Brand

Daniela Krien – Der Brand

Viele Jahrzehnte schon gehen Rahel und Peter gemeinsame Wege, doch nachdem die Kinder erwachsen und ausgezogen sind, haben sie immer weniger gemeinsam. Rahel hofft, im Urlaub wieder zueinander zu finden. Drei Wochen werden sie auf dem Bauernhof eines befreundeten Paares verbringen und sich dort um alles kümmern, während diese in einer Reha sind. Sie schätzen und respektieren sich, aber die Liebe, die einmal da war, scheint sich verflüchtigt zu haben, in getrennten Betten liegen sie wach, sinnieren über sich, ihr Leben, ihren jeweiligen Beruf und natürlich auch darüber, was die Pandemie so verändert. Mal scheinen sie sich anzunähern, dann jedoch driften sie so weit auseinander, dass das Hand Reichen unmöglich erscheint.

Daniela Krien greift in ihrem Roman ein schwieriges Thema auf: wie geht man nach mehreren Jahrzehnten gemeinsamem Leben mit möglichen Rissen in der Beziehung um? Kann man jenseits der Mitte des Lebens nochmal neu beginnen, allein oder zu zweit, was ist wirklich wichtig, wenn plötzlich gleich von mehreren Seiten Bedrohungen aufziehen? Rahel wie auch Peter sind reflektierte Akademiker, die sich nicht von ihren Emotionen leiten lassen, im Gegenteil, diese scheinen oftmals gar nicht zugänglich, doch nicht auf alle Fragen des Lebens gibt es rationale Antworten.

Als Leser ist man bei Rahel, die als Psychoanalytikerin täglich ihren Klientel hilft klar zu sehen, Konflikte zu erkennen und zu lösen, in ihrer eigenen Beziehung, aber auch jener zu ihrer Tochter, ebenso hilflos dasteht, wie diejenigen, die bei ihr Hilfe suchen. Sie liebt Peter immer noch, ist sicher aber unsicher, ob er das genauso empfindet. Ihr Körper sendet Signale aus, doch sie kann sie nicht lesen und so auch kaum Antworten darauf finden, wo sie selbst steht.

Der Alltag auf dem Bauernhof ist konkret, die Pflanzen müssen gegossen, die Tiere versorgt werden, so ganz anders als ihr theoretisches Dasein Zuhause. Aber der idyllische, einfache Hintergrund liefert auch Ablenkung und Flucht, so dass sie kaum dazu kommen das anzusprechen, was besprochen werden muss. Es ist ein zögerlicher Tanz, keiner von beiden will verletzen oder Grenzen übertreten, doch genau das Unausgesprochene verursache gleichermaßen Schmerz.

Die Autorin fängt die widersprüchlichen Empfindungen, die feinen Wahrnehmungen und Verletzlichkeiten der Figuren überzeugend ein. Gerade die Unfähigkeit die großen Gefühle anzusprechen setzt sie so überzeugend um. Rahel wie auch Peter wirken authentisch, ebenso ihre Konflikte. Eine detailgenaue Studie menschlicher Empfindungen an einem möglichen Wendepunkt im Leben.

Wolfgang Franßen – Mado

Wolfgang Franßen – Mado

Mado ist die rebellische Tochter einer rebellischen Tochter einer selbstbewussten, unabhängigen Frau. Sturheit und Eigensinn ziehen sich durch die Familie und werden von einer an die nächste Generation weitergegeben. Nichtsdestotrotz gilt jedoch im Notfall: Blut ist dicker als Wasser und wenn eine Hilfe braucht, sind die anderen da, ohne Wenn und Aber. Mado ist in so einer Situation. Nachdem sie ihren Freund erschlagen hat, ist sie aus Paris zurück in die bretonische Heimat geflüchtet, wo sie Zuflucht bei der Oma sucht. Diese verspricht, sich um das Malheur zu kümmern. Schnell merkt Mado jedoch, dass sie sogleich wieder von all dem eingeholt wird, das sie schon hinter sich gelassen glaubte: die Kneipe der Mutter, die Streitigkeiten mit ihrer Schwester Verelle, die Langeweile, die sie in die Arme von Thierry treibt, und die Geldnot, die ein besseres Leben verhindert. Für die 25-Jährige steht jedoch fest: sie lässt sich nicht mehr unterkriegen und wird sich gegen die Widrigkeiten des Lebens wehren.

„Ihre Großmutter hatte im Gefängnis gesessen. Ihre Mutter war eine Hure. Ihre Schwester eine Nonne. Sie eine Mörderin. Eine perfekte Familie.“

Der Verleger Wolfgang Franßen schreibt in seinem gleichnamigen Roman die Geschichte einer jungen Frau, der wenig im Leben geschenkt wurde. Die Mutter betreibt eine Kneipe auf dem Land, schon der Ruf der Großmutter war zweifelhaft und so hält die Zukunft auch für Mado wenig Hoffnung bereit. Bleibt also nur die Flucht nach vorne in die schillernde Hauptstadt, in der Provinz nichts zu haben, ist genauso gut wie in Paris nichts haben, also bleibt nichts zu verlieren.

„Ihr stand eine Nacht voller Selbstmitleid, Prahlerei und hartem Sex bevor, in der es nur darauf ankam, wie lange er durchhielt. Am besten, sie schloss sich gleich im Bad ein.“

Häufig verlaufen die Erfahrungen zyklisch und so erlebt auch Mado das, was sie schon kennt: Gewalt, insbesondere gegen Frauen. Das haben ihre Mutter und Großmutter auch schon hinter sich gebracht und es folgt einer gewissen Logik, dass auch Mado – wie später auch ihre Schwester Verelle – auf misogyne Männer trifft, die in ihr keine gleichberechtigte Partnerin, sondern eine nützliche Freizeitbeschäftigung sehen.

„Mado was fünfundzwanzig und von ihrer Großmutter nicht dazu erzogen worden, einen Herd zu bewachen.“

Mado versucht dies zu durchbrechen, zumindest ausreichend Willensstärke wurde ihr mitgegeben, die Lösung, die sie dafür wählt, ist jedoch mehr so semioptimal, weshalb sie genau dahin zurückkehrt, woher sie kam. Damit geht sie auch zurück auf Start, denn nichts hat sich für sie verändert.

Der Roman hinterlässt zwiespältige Gefühle. Einerseits sieht man, wie die Frauen der Familie Kaaris ihren Kopf haben und sich nicht unterkriegen lassen, zusammenhalten und pragmatisch tun, was getan werden muss. Andererseits kommen sie aus der Gewaltspirale und dem Leben am Rand der Gesellschaft nicht heraus. Mado hat Träume und ein verdammtes Recht auf ein bisschen Glück – nur irgendwie hat das noch keiner dem Schicksal erklärt.

Ein Milieuroman, der nah an seiner Protagonistin ist, die mir mit all ihrer Störrigkeit und Wut – und bisweilen auch der derben Sprache und dem durchaus grenzwertigen Verhalten – dennoch gut gefallen hat, gerade weil sie so ist, wie sie ist.

Bénédicte Belpois – Hingabe

Bénédicte Beplois – Hingabe

In dem kleinen spanischen Dorf geht alles seinen gemächlichen Gang. Bis eine unbekannte Frau auftaucht. Da man sie nicht versteht und sie für etwas dumm hält, nennt man sie kurzerhand Suiza, da man vermutet, dass sie Schweizerin ist. Den Männern verdreht sie mit ihren rotblonden Haaren den Kopf, auch Witwer Tomás ist sofort hin und weg und nimmt sie kurzerhand mit auf seinen Hof. Die Lust überkommt ihn immer wieder, ein Blick genügt und er ist erregt. Suiza weht sich nicht, sondern gibt sich hin. Die Machtverhältnisse sind klar, doch nach und nach entfaltet Suiza ihre Art der Macht. Langsam und unaufdringlich wird sie unentbehrlich für Tomás, sie lernt Spanisch und beginnt Haus und Hof zu verändern. Damit auch Tomás, der nicht nur durch eine Erkrankung geschwächt ist, sondern erkennt, dass Suiza ein ganz besonderer Mensch ist, der eine entsprechende Behandlung verdient hat.

Bénédicte Belpois Debutroman ist zunächst alles andere als leichte Kost. Einerseits das unbedarfte, reichlich naive Mädchen, das aus dem Wohnheim in Besançon flüchtet, um das Meer zu sehen, und schließlich in Galicien landet. Andererseits die Männer des Dorfes, die sich nehmen, was sie wollen; hier herrscht das Recht des Stärkeren und des Reicheren. Tomás erscheint in jeder Hinsicht animalisch, rücksichtslos befriedigt er seine Bedürfnisse, viel mehr als das erwartet er nicht von Suiza.

„Sie schrie auf vor Schmerz, aber ich machte weiter, ich wollte ihr weh tun, wollte, dass sie verstand, wer ich war, Teufel noch mal, dass sie wusste, dass ich zeitweilig noch der Stärkere war, dass sie mir gehörte, ich mit ihr machte, was ich wollte, und dass ich, weil ich sterben würde, tun musste, wozu ich nie den Mut oder schlicht die Möglichkeit gehabt hatte.“ (S. 118)

Die Autorin setzt sprachlich genau das um, was Suiza zunächst erlebt. Sie rebelliert nicht, wehrt sich nicht, sondern gibt sich hin, denn sie hat gelernt, dass Widerstand Folgen hat. Ihre Seele hat gelitten, offenkundig, schweres Leid, nicht nur körperlich hat man ihr angetan, so dass sie stets wie ein Reh auf der Hut und verschreckt ist und sich lieber fügt. Sie hat es jedoch auch nicht anders kennengelernt, dies ist ihr einziges internalisiertes Verhaltensmuster.

Die Handlung ist in Galicien angesiedelt, jenem gelobten Land der Pilger, die dort Zuflucht und Erneuerung suchen. Für Suiza wie auch für Tomás ist die Begegnung ein Wendepunkt und Ausgang für einen gänzlich neuen Weg in ihrem Leben. Tomás ist eigentlich fest verankert in seinem Sein und hat seinen Platz und Rolle im Leben gefunden. Doch die faszinierende Frau stößt etwas in ihm an und erst unbemerkt und dann doch immer stärker und aktiver verändert auch er sich.

Ohne Frage ist die Entwicklung der Figuren und die Beziehung zwischen Suiza und Tomás nicht nur der zentrale, sondern auch der stärkste Aspekt des Romans. So wie sie sich auf einander einlassen müssen, muss man sich auch als Leser auf den Text einlassen, was grade im ersten Drittel doch einige Überwindung kostet, dann aber belohnt wird. Manchmal muss man sich Literatur erarbeiten, was keineswegs negativ zu verstehen ist. Die Welt, die Belpois abbildet, ist nun einmal so, wie sie ist, da gibt es nichts zu beschönigen, aber es gibt immer die Möglichkeit auf Veränderung, die oft mit einem kleinen, ersten Schritt beginnt.

Christian Guay-Poliquin – Das Gewicht von Schnee

Christian Guay-Poliquin – Das Gewicht von Schnee

Sie finden ihn schwerverletzt unter seinem Auto liegend, die Beine eingeklemmt. Obwohl die Situation schwierig ist, will man dem Besucher helfen. Die Veterinärin kümmert sich um die Wunden und der alte Matthias, dem etwas abseits des Dorfes eine Hütte zugewiesen wurde, soll sich um seine Pflege kümmern. Schon länger haben sie keinen Strom mehr, der Winter naht und der Schnee steigt täglich höher. Es herrscht Endzeitstimmung, abgeschieden von der Außenwelt, mit langsam zur Neige gehenden Lebensmittelvorräten, sieht sich die kleine Gemeinschaft den Naturgewalten ausgeliefert. Die beiden ungleichen Männer ertragen derweil ihr Schicksal tapfer. Beide wortkarg beäugen sie sich zunächst stumm, bis sie langsam Vertrauen fassen auf den wenigen Quadratmetern, die sie miteinander teilen.

Christian Guay-Poliquin schildert zwar ein gänzlich anders geartetes Szenario in der kanadischen Provinz, es könnte aber kaum besser in die Welt passen, die man im Jahr 2020 erlebt. Zwar sind die Menschen nicht von der Außenwelt abgeschnitten und haben auch Strom und zahlreiche Kommunikationsmittel, aber das gemeinsam ans Haus gefesselt sein, die Schwierigkeit, einander aushalten zu müssen und nicht zu wissen, wann und ob sich die Situation entspannen wird, teilt die Fiktion mit der Realität. Mit dem steigenden Gewicht des Schnees, der anfangs nur kniehoch liegt, dann aber dramatische und bedrohliche Dimensionen annimmt, steigt auch der Druck auf die Menschen, die einerseits in der Krise voneinander abhängig sind, gleichzeitig aber auch feindseliger und egoistischer werden.

Dem Autor gelingt es mit einer einerseits sehr klaren und präzisen, andererseits aber auch hochpoetischen Sprache die Emotionen, die selten offenkundig gezeigt werden, einzufangen. Die Gleichförmigkeit der Tage, die Langsamkeit der Zeit, Langeweile durch das Eingesperrt sein und im Falle des Erzählers zudem der Immobilität werden immer wieder deutlich spürbar. Einzig das Feuer im Kamin versprüht bisweilen eine gewisse Wärme, ansonsten herrschen Kälte und unbarmherzige Natur. Aber auch die Menschen offenbaren ihre grausamen Seiten.

Die Kapitel – zunächst irritierend, da der Roman mit „Neununddreissig“ beginnt, was sich aber rasch erklärt – werden von der Ikarus-Sage eingerahmt, die in sieben Teilen untergliedert ist. Es beginnt im Labyrinth und der Leser ist gewarnt, dass zu viel Übermut das Leben kosten kann.

Eine sehr dichte Erzählung, deren reduzierte Handlung und Schauplatz beinahe zu erdrücken drohen, der jedoch zugleich wie eine Hommage an die Natur und den kanadischen Winter wirkt.