Mithu Sanyal – Identitti

Mithu Sanyal – Identitti

Für Nivedita ist ihre Professorin Dr. Saraswati die Erleuchtung. Endlich jemand, der sie versteht, der ihr die Augen öffnet und zu der Identität verhilft, die sie schon so lange gesucht hat. Mit einem indischen Vater und einer polnischen Mutter war sie nie richtige Deutsche und nie die typische Ausländerin. In ihrem Studium der Postcolonial Studies nun werden Rassismus, Othering und auch Identität greifbar für sie. Doch dann der Schock: Professor Saraswati ist weiß. Sie hat sich ihre Rasse nur konstruiert, sie identifiziert sich selbst als Person of Colour, dabei ist sie nichts dergleichen. Der Internet Shitstorm lässt nicht lange auf sich warten, aber Nivedita ist noch nicht so schnell fertig mit ihr.

Mithu M. Sanyals Roman greift ein aktuelles Thema auf, was mit ein Grund für die Nominierung auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis sein dürfte. Stärker jedoch als die thematische Relevanz erscheint mir der lockere Erzählton, der fantastisch zur Protagonistin passt, bisweilen etwas rotzig und doch in der Sache präzise und genau den Nerv der Zeit treffend. Die beiden Frauen, die junge Studentin wie auch die Professorin, bilden interessante Gegensätze, die der Handlung eine besondere Note verleihen.

Nivedita hat zeitlebens ihren Platz gesucht. Bei ihrer Cousine Piti in England ist die Lage einfach, die indische Community ist groß, wird als solche wahrgenommen und ist klar definiert. Mit nur einem indischen Elternteil und keiner weiteren Verwandtschaft in der Nähe ist Nivedita im Gegensatz etwa zu den türkischen Mitschülerinnen weniger offensichtlich einzuordnen, mit der relativ hellen Haut eher etwas wie „Ausländerin light“, was sich vor allem dadurch auszeichnet, dass ihr direkte Anfeindungen und Rassismus erspart bleiben. Dies macht es jedoch nicht leichter für sie, sich selbst zu identifizieren, denn es gibt für sie wahrnehmbare Unterschiede ohne dass sie in eine der verfügbaren Schubladen passen würde.

Die Professorin hat sich ihre eigene Identität geschaffen, eine Transition von weiß zu PoC erlaubt ihr den Marsch durch die Institution und große Popularität unter den Studierenden. Die Enttäuschung ist groß, noch größer ist jedoch die Frage: darf sie das? Kann Rasse fluide sein wie das Geschlecht? Und: wer hat das Definitionsrecht hierüber?

Interessanterweise ist der Weg in diesem Fall weg von der privilegierten hin zur benachteiligten Identität, was vieles geradezu auf den Kopf stellt. Ihre Anhänger fühlen sich betrogen, man hat sie nicht nur ihres Idols beraubt, sondern auch der Illusion für die eigene Identität zu stehen und dennoch eine Karriere zu haben.

Der Autorin gelingt der Spagat zwischen der Internetsprache, die geschickt untergemischt wird, und dem akademischen Diskurs hervorragend. Aktuelle Fakten und Ereignisse werden ebenso nebenbei eingebaut wie sie strukturellen Rassismus offenlegt. Wenn engagierte Literatur etwas erreichen will, dann so. Ein lockerer Ton bei ernsthafter Thematik, auch mal lustig und dadurch, dass alles gegen bekannte Narrative läuft, nicht verletzend, sondern eher das Denken in bekannten Mustern störend und dadurch neue Denkwege erlaubend. Dieser Roman wäre wahrlich ein würdiger Kandidat für den diesjährigen Buchpreis.

Norbert Gstrein – Der zweite Jakob

Norbert Gstrein – Der zweite Jakob

Kurz vor seinem sechzigsten Geburtstag soll eine Biografie des Schauspielers Jakob Thurner erscheinen. Weder hat er Lust auf die Feierlichkeiten, noch auf die Termine mit seinem Biografen. Im Zuge der Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit stellt ihm seine Tochter Luzie eine Frage, die die Beziehung der beiden nachhaltig erschüttern wird: was ist das Schlimmste, dass er je getan hat? Es gibt etwas, das er seit Jahrzehnten für sich behalten hat: beim Filmdreh nahe der mexikanischen Grenze bei El Paso war er in einen Unfall verwickelt, bei dem eine Frau ums Leben kam. Er und seine Begleiterin, die Hauptdarstellerin des Films und Partnerin seines besten Freundes, haben sie nach dem Aufprall in der Wüste zurückgelassen, sind einfach weggefahren, sie konnten ja auch nichts mehr für sie tun. Doch war das wirklich so?

Norbert Gstreins Roman über das Älterwerden und die Beschäftigung mit dem eigenen Dasein und dem Erreichten hat es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Er erzählt die Geschichte eines alternden Mannes, der Herr bleiben will über seine eigene Biographie, die er über Jahrzehnte selbst gestaltet hat, ausblendete, was nicht so hübsch und vorzeigbar war, hervorhob, was mehr schillerte und für Glanz im biederen Österreich sorgte. Sein eigenes Gewissen hat er damit ebenso versucht zu täuschen wie das öffentliche Bild.

Die Handlung springt zwischen dem Jetzt, kurz vor dem runden Geburtstag und den Kontroversen mit dem bohrenden und hartnäckigen Biographen, sowie dem daraus resultierenden Auseinanderdriften mit der Tochter und der Erinnerungen an die Ereignisse in New Mexico hin und her. Thurner macht sich selbst zum passiven Teilhaber des fatalen Unfalls, der von ihm als Höhepunkt eines unter schlechtem Stern stehenden Filmdrehs stilisiert wird. Doch die Flucht vor der Schuld gelingt nicht, ebenso wenig wie jene vor der Herkunft, die er geflissentlich versucht zu verleugnen, die ihm jedoch erst die Schauspielerei ermöglichte. Mit einem großzügigen Erbe gesegnet kennt er keine finanziellen Sorgen, konnte immer vor Frauen und Kindern und Sonstigem zu fliehen, um ja, zu sich zu finden, eine Auszeit von seinem Leben zu nehmen, schlichtweg wegzulaufen.

Bekanntgeworden ist er mit der Darstellung des Fieslings, eine Rolle, von der er sich als Mensch natürlich distanzieren will, einzig, es gelingt nicht; seine Tochter spiegelt ihm in aller Brutalität, was er ist und leugnet zu sein. Die Geschichte seines Lebens, die er Genre geschrieben gesehen hätte, kann es nicht geben, denn sie existiert in der gewünschten Form nicht, sondern ist nur in seinem Kopf und seiner Vorstellung vorhanden.

Voller interessanter Dynamiken zwischen den Figuren entsteht ein vielschichtiges Bild des Protagonisten, der sich Stück für Stück seine Identität erschaffen will und damit scheitert. Nicht nur für sich scheitert, sondern auch in seinen Beziehungen zu anderen Menschen – den Ehefrauen, den Freunden, der Tochter – scheitert, denn er kann nicht im Beruf und im wahren Leben nur Schauspieler sein, der sich seine Rolle je nach Gusto gestaltet. Und dabei ist er nie ein Original, sondern immer nur der zweite Jakob.

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

Lena wächst im ukrainischen Teil der Sowjetunion auf. Die Sommer darf sie bei der Großmutter in Sotschi verbringen, doch als sie zur Schule kommt, beginnt der Ernst des Lebens und die Eltern wissen, wie wichtig Leistung in der UDSSR ist. Das ganze Jahr über pauken, bevor dann das Pionier-Lager die langen Ferien füllt. Früh schon ist ihre Mutter krank, die Ärzte scheinen nicht helfen zu können, was bei der kleinen Lena den Wunsch nach einem Medizinstudium weckt. Doch gute Leistungen allein genügen nicht, das Land ist korrupt und ohne die richtigen Menschen und entsprechende Zahlungen sind auch Bestnoten nichts wert. Sie kann sich den Traum erfüllen, ist erfolgreich, doch als das Land zusammenbricht, steht sie vor dem nichts und muss mit ihrer Familie in der Ferne neu beginnen.

Sasha Marianna Salzmanns Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ springt über Generationen und Grenzen, der rote Faden bildet die Sprachlosigkeit der Töchter und Mütter. So wie Lenas Mutter und Großmutter in der beengten Wohnung in Gorlowka in der Oblast Donezk nicht zu einander finden, die eine schwerkrank, die andere die Freiheit am Schwarzen Meer vermissend, sind es später Lena und ihre Tochter Edi, die einander nicht verstehen, ebenso wie Lenas Freundin Tatjana und deren Tochter Nina. Sie habe allen Vorstellungen und Vermutungen über die anderen, der Mangel an Kommunikation jedoch führt sie immer wieder aneinander vorbei statt zueinander hin.

Dramaturgisch dreht sich die Geschichte im Kreis, beginnt in der Gegenwart in Deutschland, kehrt in Lenas sowjetische Kindheit zurück und nähert sich wieder an. Von Kindern mit großen Träumen, die ihre Realität jedoch nicht erfüllen kann, von Sprachlosigkeit in der Familie und dem Wunsch, sich in die Umwelt möglichst geräuschlos einzufügen, um nicht aufzufallen und dazuzugehören, was jedoch keiner der Frauenfiguren gelingt.

Für mich fügen sich zwar die Teile zu einem Gesamtbild, aber Lenas Lebensgeschichte über die drei letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist deutlich stärker als die nachfolgenden Handlungsteile. Sie wird als Charakter am greifbarsten, bekommt jedoch im Vergleich zu Edi, Tatjana und Nina auch den größten Raum, um sich zu entfalten. Es bleibt am Ende etwas Ratlosigkeit, wäre nicht mit der Flucht nach Deutschland schon der richtige Endpunkt gesetzt gewesen? Insbesondere Tatjanas Geschichte konnte mich kaum mehr erreichen, war auch zu wenig verbunden mit Lenas Vergangenheit, als dass sie für mich logische Handlungskonsequenz gewesen wäre.

Die Autorin hat ein Händchen für Dramaturgie und kann begeisternd erzählen, wie auch ihr Roman „Außer sich“ empfinde ich den aktuellen jedoch etwas zu sperrig, alles andere als ein geschmeidiger Lesegenuss, was ihn jedoch auch wiederum interessant und zu einem würdigen Kandidaten für die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises macht.

Clemens Bruno Gatzmaga – Jacob träumt nicht mehr

Clemens Bruno Katzmaga – Jacob träumt nicht mehr

Jacob führt das hippe Leben eines erfolgreichen Teamleiters in einer Agentur. Immer Gas geben, auf Social Media präsent sein, Kleidung und Frisur genau abgestimmt auf die Erwartungen an einen jungen dynamischen Erfolgsmenschen. Der nächste Pitch steht an, eine Großbank, ein Auftrag, den die Agentur sich nicht entgehen lassen kann. Jacobs Team arbeitet rund um die Uhr, um ein innovatives Konzept präsentieren zu können. Doch je näher der wichtige Termin kommt, desto unwohler fühlt sich Jacob, er wird doch nicht etwa krank werden? Er hat in den Jahren in der Agentur nur wenige Tage versäumt und das auch nur wegen übermäßigem Alkohol am Vorabend. Der Druck steigt und plötzlich träumt Jacob nachts nicht mehr, er schläft auch schlecht, dafür nehmen jedoch tagsüber die Halluzinationen zu und als er nur wenige Minuten vor der Präsentation plötzlich in einem Wald steht, merkt er, dass etwas so gar nicht in Ordnung ist.

Clemens Bruno Gatzmagas Debüt kratzt am schönen Schein der Agenturwelt, wo attraktive und erfolgreiche Menschen wie im Rausch ihre Kreativität ausleben und auf den Social Media Kanälen alle neidisch und glauben machen wollen, dass es keine Steigerung mehr geben könnte. Es fehlt nicht an Klischees, der esoterisch veranlagte Chef, der „Nitrogold“ mit Hilfe von Gefühlsanalysen und unter dem Fokus der Persönlichkeitsentwicklung führt – alles unter Anleitung eines erfahrenen Gurus – verschanzt sich hinter seinem Selbstoptimierungsdenglisch, allerdings nur so lange, bis der Geschäftsmann gefragt ist und er knallhart mit Klage droht, wenn die Vertragspflichten nicht eingehalten werden.

„Alright“, stand er auf, „dann haben wir die gleiche Wirklichkeitsauffassung.“

Genau da greift der Roman ein. Die Scheinwelt des aufgehübschten Agenturdaseins ist genauso künstlich wie Jacobs Instagram Feed, den Bezug zur Realität hat er verloren, bis sein Körper ihn gnadenlos auf den Boden der Erde zurückholt. Auf Koffein rund um die Uhr im Höhenflug zu operieren kann langfristig nicht gutgehen und so erlebt der Ich-Erzähler den Absturz, der mit dem harten Aufschlag der Sinnfrage endet.

Der Autor räumt jedoch nicht nur mit dem ohnehin fragilen Mythos der schönen Internet New Work Welt auf, sondern ermöglicht über Jacobs Träume, die abwesenden wie die Alpträume, die Rückkehr zur Urgrund des Daseins. Als Kind hatte er Träume, genährt durch die Phantasie und Naturverbundenheit seiner Mutter, doch diese sind ihm abhanden gekommen. Er hat sich selbst verloren und versucht nun das wiederzufinden, was er als Kind empfunden hat.

Es ist ein Roman der Zeit, der den Stellenwert von Arbeit und unser Verhältnis zu ihr infrage stellt. Bigger, better, faster, more – das kann nicht alles gewesen sein. Der Protagonist trägt durch die Handlung und kann als Identifikationsangebot überzeugen. Der Rausch, den der Erfolg mit sich bringt, das Gefühl, jetzt nicht aufhören zu können, wo schon so viel erreicht wurde und der nächste Karriereschritt greifbar ist. Und doch: die Verbindung zur Partnerin und deren Lebenswelt wird brüchig, das, was sie einmal vereint hat, ist nur noch ein seidener Faden. Für Jacob wird der Zusammenbruch zur Chance, die er sonst nicht gesehen hätte und die ihm den Ausstieg ermöglicht.

Ein unaufgeregter Roman, der nah bei seiner Hauptfigur ist und den modernen Großstadtmenschen unaufdringlich zur Selbstreflexion einlädt. Aufgrund der Thematik verdient auf der Shortlist Debüt 2021 des Österreichischen Buchpreises.

Mai Thi Nguyen-Kim – Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit

Mai Thi Nguyen-Kim – Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit

Die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim ist in der deutschen Medienlandschaft seit einigen Jahren eine feste Größe, weil sie unermüdlich mit charmanter Sachlichkeit gegen wissenschaftliches Unwissen, Fake News und Populismus ankämpft. In ihrem aktuellen Buch greift die Chemikerin acht große Diskussionsthemen auf, die sie nicht nur auf ihren wissenschaftlichen Gehalt hin überprüft, sondern dem Leser auch die Methoden und Hintergründe erklärt, wie sie zu den Antworten kommt (oder auch mal nicht). Sie spricht über die Legalisierung von Drogen, den Zusammenhang von Videospielen und Gewalt, den Gender Pay Gap, klassische vs. alternative Medizin, die Sicherheit von Impfungen, die Erblichkeit von Intelligenz, die Unterschiede zwischen Männer- und Frauengehirnen und reißt die Frage nach der ethischen Vertretbarkeit von Tierversuchen auf. Abschließend plädiert sie – sehr passend vor dem Hintergrund der letzten Monate in der Corona-Pandemie – für eine andere Diskussionskultur und einen anderen Umgang mit der Wissenschaft.

Was wird bleiben aus dieser unsäglichen Zeit der Pandemie? Neben den dramatischen Einschnitten in unser Privatleben, mit denen wir sicherlich unsere Enkelkinder irgendwann einmal nerven werden, sind es für mich zwei Erkenntnisse: 1. es gibt sehr viele Menschen mit sehr seltsamen Weltanschauungen, die sie im Internetzeitalter frei in die Welt rausbrüllen, und 2. der Transfer von wissenschaftlicher Erkenntnis in die breite Öffentlichkeit glückt nicht wirklich. Viele Forscher kommunizieren so, dass sie in ihrer Community verstanden werden, wer nicht vom Fach ist oder auch nur wenig Ahnung von naturwissenschaftlichen Methoden und vor allem Dingen wie Statistik und Stochastik hat, kann entweder gleich gar nichts mit den Informationen anfangen oder deutet sie gänzlich falsch. Da wir nicht alle kurzfristig fortbilden können – und dies auch nicht alle wollen – sind Vermittler, die beide Sprachen sprechen unentbehrlich. Uns nutzt der Zugang zu allen Daten nichts, wenn wir diese nicht verstehen und keine sinnvollen Schlüsse aus ihnen ziehen können.

Genau wie auch auf ihrem YouTube-Kanal oder in Quarks nähert sich Mai Thi Nguyen-Kim mit naiver Neugier den Fragen. Vor allem der Blick hinter die Ergebnisse, also die Frage wie geforscht wurde, welches Versuchssetting es gab und was die gewonnenen Daten tatsächlich aussagen – oder auch nicht – ist erhellend zu lesen. Sie bricht die Komplexität auf Laienniveau herunter, erklärt wichtige Fachbegriffe auf leicht verständliche Weise und macht vor allem deutlich, weshalb keine Antwort manchmal eine gute Erkenntnis in der Wissenschaft ist.

Was ihr vor allem gelungen ist, ist zu zeigen, das wissenschaftliche Diskussion anders funktioniert als politische oder öffentliche Meinungsbildung. Es geht nicht um Personen oder darum Recht zu haben, sondern sich gegenseitig zu prüfen, um als Community in der Erkenntnis weiterzukommen. Um vernünftig miteinander zu diskutieren und die Komplexität der Welt zu begreifen, benötigen wir jedoch eine gemeinsame Basis, ihr aktuelles Buch ist ein gelungener Beitrag, dem es gelingt, zwei Welten einander näher zu bringen und denjenigen, die sich lieber sachlich fundiert eine Meinung bilden möchten, dazu etwas an die Hand zu geben.

Mercedes Spannagel – Das Palais muss brennen

Mercedes Spannagel – Das Palais muss brennen

Luise ist die Tochter der österreichischen Bundespräsidentin, deren Hundetick ihr nicht nur gehörig auf den Geist geht, sondern mit deren politischer Ausrichtung am rechten Rand die Studentin so gar nichts anfangen kann. Zunächst subtil weitet sie ihren Protest gegen die Mutter zunehmend aus bis sie und ihre Freunde zum finalen Schlag gegen die politische und gesellschaftliche Elite ausholen, der dann aber doch ganz anders ausfällt als geplant.

Mercedes Spannagels Erstlingswerk ist für den österreichischen Buchpreis in der Kategorie „Debütpreis“ nominiert. In den letzten Jahren fanden sich dort ungeahnte Schätze, die eine große Lesefreude bereiteten wie etwa Angela Lehners „Vater unser“, Tanja Raichs „Jesolo“ oder Nava Ebrahimis „Sechzehn Wörter“. Leider konnte die Nachwuchsautorin meine zugegebenermaßen hohen Erwartungen nicht erfüllen. Insbesondere der vielgepriesene junge und vermeintlich neue Ton der Erzählung hat mich leider nicht erreicht.

Der Klappentext klingt nach einer spannenden Mutter-Tochter-Beziehung, die in einen Wettkampf mit ungleichen Mitteln mündet und insbesondere auch eine spannende politische Komponente verspricht. Angekommen ist bei mir eine Studentin, die ihren Trotz in der Art einer 14-jährigen vollpubertären Göre auslebt, die intellektuell nichts beizutragen und schon gar nichts entgegenzusetzen hat, sondern einen hedonistischen Lebensstil frönt, bei dem es dann scheinbar doch gar nicht so relevant ist, wer diesen finanziert, denn so dramatisch unbequem ist es im Palais nicht. Die streitbaren Großthemen bleiben Randnotizen zwischen Party und Drogenkonsum und letztlich völlig nachrangig bis sogar egal.

Ach ja, man könnte die Auswüchse nicht erfolgter Erziehung erkennen, wollte man dem Roman eine Aussage entlocken. Verwahrlost sind die Kinder nicht, verwöhnt viel eher und sie jammern auf verdammt hohen Niveau ohne die Augen für die Realität außerhalb ihres goldenen Käfigs zu öffnen. Mit ein paar vermeintlich cleveren philosophischen Einwürfen können sie auch nicht wirklich Intellekt und Bildung vortäuschen. Man ist dann doch froh, dass sie lediglich Romanfiguren sind und es da draußen eine wirklich interessierte und engagierte Jugend gibt, die viel eher Raum verdient hätte als Luise und ihre Freunde.

Arno Camenisch – Goldene Jahre

Arno Camenisch – Goldene Jahre

Vor 51 Jahren haben sie ihren Kiosk eröffnet und noch immer leuchtet die Reklame auf 800 Meter Höhe über dem Tal. Rosa-Maria und Margrit erzählen von ihrer bewegten Zeit, die mit der Mondladung begann und sie zu einer festen Größe im Dorfalltag werden ließ. Jeden Morgen schalteten sie die Reklame ein, putzen die Scheiben und holen die Zeitungen; immer derselbe Ablauf, der sich den beiden Damen eingebrannt hat. Winters wie Sommers sind sie der zentrale Anlaufpunkt, an dem alles kulminiert und sowohl die Versorgung mit Gütern wie auch mit Informationen stets gesichert ist.

„Wir sind da ein bisschen wie die Zentrale im Dorf, die Leute tragen uns die Informationen zu, da steht man schon in der Verantwortung, die Daten auch mit der nötigen Sorgfalt zu behandeln, das ist nämlich brisant, stell dir vor, wir würden herumerzählen, was der liebe Herr Pfarrer hier jeden Freitag kauft, das wäre ein Scandal für den Boulevard, aber was für ein Scandal das denn wäre, stell dir vor. Da sind wir dezent (…)“

Es ist herrlichen erfrischend, den beiden ungezwungenen Protagonistinnen bei ihren Erinnerungen zu folgen. Natürlich haben sie allerlei über die Bewohner des Örtchens zu berichten, denn dezent sind sie nun wahrlich nicht – die Fremdgeher, die Lotteriegewinner, der, der immer alles verpasste und erst der Pfarrer – genauso haben sie aber auch jede Menge Prominenz gesehen: Ornella Muti, Roger Moore, Eddy Merckx. Alles notieren sie in ihren Heften, damit nichts vergessen geht, eine ganz eigene Graubündner Chronik.

Inhaltlich irgendwo zwischen Dorfklatsch und lokaler Weltgeschichte besticht der Roman vor allem durch den lässigen Plauderton, der durchaus mal ironisch wird und so lebendig ist, dass man sich Rosa-Maria und Margrit bildlich vorstellen kann. Dass dies mit einer Nominierung auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises honoriert wird, geht für mich mehr als in Ordnung, eine frische Stimme voller beschwingter Leichtigkeit, der man gerne folgt.

Aber der Text ist nicht nur oberflächlich humorvoll, die Veränderungen des ländlichen Raums werden auch deutlich. War einst die Tankstelle der zentrale Treffpunkt, hält nun allein schon die Umgehungsstraße die Menschen fern. Die alte Zeit ist nicht mehr, nur die beiden Damen und ihr Kiosk halten tapfer die Stellung, bis irgendwann jedoch auch ihr Raumschiff endgültig schließt und die Reise zu Ende ist – wie so vieles auf den Dörfern mit den Bewohnern auszusterben droht.

Vielleicht nicht der heißeste Anwärter auf den Buchpreis Titel, für mich aber zweifelsohne ein Lesehighlight, das ich auf jeden Fall nur weiterempfehlen kann.

Ilija Trojanow – Doppelte Spur

Ilija Trojanow – Doppelte Spur

Ein Journalist erhält zwei kryptische Emails kurz hintereinander. Man will ihm geheime Unterlagen zuspielen. Offenbar derselbe Absender, doch nachdem er sein Interesse bekundet hat, muss er feststellen, dass ihm zeitgleich ein amerikanischer und ein russischer Whistleblower Informationen zukommen lassen. So unterschiedlich das Material auch ist, bald schon lassen sich Verbindungen ziehen, die schlimmste Befürchtungen zu untermauern scheinen: noch viel tiefer als bislang geglaubt scheinen die Präsidenten der beiden Länder in Korruption und illegale Verstrickungen verwickelt zu sein.

Ilija Trojanow greift in seinem aktuellen Roman Themen auf, die seit Jahren die Schlagzeilen dominieren: Verstrickungen Trumps mit Moskau, sein manipulierter Wahlkampf 2016, die Affäre um Jeffrey Epstein, verdächtige Geldflüsse mit zweifelhafter Rolle auch deutscher Großbanken. Man hat den Eindruck als sei das Ende des Kalten Kriegs nur eine Randnotiz der Geschichte gewesen und die Welt heute von einer Allianz aus FBI, KGB, Oligarchen und dubiosen Investoren regiert. Nicht nur lenken diese das Weltgeschehen und den internationalen Geldfluss, viel wichtiger noch: sie steuern Kommunikation und Information und entscheiden darüber, was vermeintlich wahr ist bzw. welche Variante von Wahrheit der Öffentlichkeit präsentiert und von dieser geglaubt werden soll.

„Der [Anm: der Präsident der USA] malt jede schwarze Katze rosarot. Es ist kein Betrug, wenn man nicht erwischt wird. Das interpretiert er wortwörtlich. Auch im ethischen Sinn. Wenn du nicht erwischt wirst, bist du unschuldig. (…) Da alle bescheißen, darf jeder bescheißen. Wer’s nicht tut, ist ein Trottel, schlimmer noch, ein Verlierer.“

Die Grenze zwischen Realität und Fiktion ist fließend, gerade das Ende wirft weitere Fragen auf: der fiktive Journalist Ilija Trojanow flüchtet und versteckt sich, da er um sein Leben fürchtet. Legt er letztlich nur das schützende Mäntelchen der vermeintlichen Fiktion über das, was eigentlich wahr ist? Der Roman könnte ebenso ein Enthüllungsbuch sein. Vielleicht ist es aber auch nur die richtige Antwort auf all jene, denen mit Fakten und Tatsachen nicht beizukommen ist, die lieber an Fiktionen glauben und denen durch diese wiederum die Augen geöffnet werden sollen.

„Doppelte Spur“ ist ein doppeltes Spiel in jeder Hinsicht. Das Buch liest sich gerade in der ersten Hälfte nicht wirklich wie ein Roman, zu viele Fakten werden aneinandergereiht, um eine Grundlage für die Deutung zu schaffen. Es passt jedoch perfekt in eine Zeit, in der Fake News neben echten Nachrichten publiziert werden und jede Schlagzeile zugleich wahrgenommen wird als „könnte wahr sein – oder eben auch nicht“.  Nach dem Lesen hegt man jedenfalls nicht weniger Zweifel an dem, was einem tagtäglich präsentiert wird.

Jackie Thomae – Brüder

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Jackie Thomae – Brüder

Mick und Gabriel sind Brüder, doch das wissen sie nicht, denn sie haben außer den Genen des Vaters und der dadurch dunklen Hautfarbe wenig gemeinsam. Mick wächst im Ost-Berlin der DDR auf und auch nach der Wende hat das Leben wenig zu bieten. Mit Delia könnte alles in sichere und ruhige Bahnen laufen, aber er kann ihr das nicht geben, was sie will: ein Baby. Gabriel hingegen wächst in Sachsen bei den Großeltern auf, nachdem seine Mutter früh bei einem Unfall starb. Zielstrebig wird er zu einem der besten Architekten weltweit und baut sich in London genau das Leben auf, das er als Kind nicht hatte und von dem er nur träumen konnte. Ihre Wege sollten sich nie kreuzen, doch es gibt ja den gemeinsamen Vater.

Jackie Thomae erzählt in ihrem zweiten Roman, der es 2019 auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, zwei Geschichten. Die Ausgangssituation ist vergleichbar, doch dann sind es Umstände, Begegnungen, Zufälle, persönliche Dispositionen, die dazu führen, dass die beiden Jungs sich ganz unterschiedlich entwickeln. Überzeugend zeigt die Autorin so, dass das Leben nie planbar ist und es immer viele Faktoren sind, die darüber entscheiden, wie die Dinge laufen.

„und er begriff erst jetzt: sein Bruder war nicht wie seine Schwestern mit diesem Mann hier aufgewachsen. Nein. Sein Bruder war wie er.“

Mick täuscht sich kolossal in seiner Einschätzung, denn die beiden Brüder könnten verschiedener kaum sein. Mick wirft sich voll ins Leben, erwartet alles und will es mit allen Sinnen auskosten. Frauen, Drogen, Partys bis in den Morgen – you name it. Gabriel hingegen ist ehrgeizig und zielstrebig und überlässt wenig dem Zufall. Seine Entscheidungen sind durchdacht und sorgfältig gewählt. So verlaufen ihre beruflichen Karrieren und Beziehungen auch diametral entgegengesetzt.

Ein Thema, das eigentlich keins ist, ist ihre Hautfarbe. Im multikulturellen London ist Gabriel einer von vielen, selbst als ihm ein Angriff vorgeworfen wird, wird seine Hautfarbe nicht thematisiert. Er lässt sich nicht in die britische Gesellschaft mit ihrem strengen Klassensystem eingruppieren, sondern wird nach seinem Erfolg und Charakter beurteilt. Sie ist jedoch für ihn wesentliches Kriterium, einen Job in den USA auszuschlagen, denn dort sieht er trotz Obamas Erfolg immer noch eine Reduktion auf sein Äußeres. Auch in Berlin ist Mick nicht ernsthaft Rassismus ausgesetzt, Stigmatisierungen verlaufen eher über soziale Faktoren. Einzig in seiner Beziehung mit Delia kommen ihm gelegentlich Zweifel, ob er nicht gerade wegen seinem Aussehen als Partner in Frage kam, sein Einkommen und Status können es kaum gewesen sein.

Jackie Thomae erzählt lebendig mit eingängigem Humor, der einem immer wieder Schmunzeln lässt. Sie verfällt nicht naheliegenden Klischeedarstellungen, weder wie erwähnt die Hautfarbe noch die Wende werden als Schicksalsschlag ausgeschlachtet, dem die Figuren nicht entkommen können. Es ist ein Blick in den Alltag zweier interessanter Individuen, der auch erzählperspektivisch überzeugend gestaltet wurde.

Norbert Gstrein – Als ich jung war

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Norbert Gstrein – Als ich jung war

Franz wächst in den Tiroler Bergen auf, wo seine Eltern ein Hotel haben, in dem regelmäßig Hochzeiten ausgerichtet werden. Dass die Kinder mithelfen müssen, steht außer Frage und so wird der Junge schon früh zum Hochzeitsfotograf, der den schönsten Tag im Leben der Verliebten für immer festhalten soll. Ein mysteriöser Suizid einer Braut lässt ihn jedoch aus der Enge der Berge nach Jackson, Wyoming, flüchten, wo er sich als Skilehrer durchschlägt. Ach in der Ferne kann er jedoch Sarah nicht vergessen, offenbar seine große Liebe. Dem tschechischen Professor, der ihn engagiert hat, erzählt er von ihr, kurz bevor dieser verunglückt. Überhaupt häufen sich seltsame Todesfälle in Franz‘ Umgebung, so dass auf beiden Seiten des Atlantik ermittelt wird. Doch Franz kann sich die Vorkommnisse nicht erklären, Zufälle wohl, und kehrt nach einer schweren Verletzung zurück in die Heimat und das Familienhotel, wo er erneut mit der Vergangenheit konfrontiert wird.

Man muss Norbert Gstreins Roman erst sacken lassen, bevor man das, was man da gelesen hat, so richtig begreifen kann. Die Nominierung für den österreichischen Buchpreis verwundert zunächst, je weiter die Gedanken jedoch um die Geschichte kreisen, desto klarer sieht man jedoch, welch genialer Einfall hier literarisch umgesetzt wurde. In Romanen geht es immer darum, was erzählt wird, bei Gstrein geht es jedoch viel mehr um das, was nicht erzählt wird, die Leerstellen sind es, die besonders interessant sind, die Lücken in der Erinnerung bzw. auch die bewussten Verdrängungen in der eignen Biografie.

Der Ich-Erzähler schildert seine zunächst eher unspektakuläre Kindheit und die unzähligen Hochzeiten, die er erlebt und für die Ewigkeit festhält. Was er hier einfängt, weist schon daraufhin, dass ihm auch als Erzähler nicht zu trauen ist, denn nicht alles, was man sieht, entspricht der Wirklichkeit hinter dem Bild:

„sie wollten alle auf den Fotos besser dastehen als in Wirklichkeit, aber dazu brauchte es nicht viel, dazu brauchte ich nur die billigsten Tricks anzuwenden, oder ich fotografierte an ihren Unvollkommenheiten und Menschlichkeiten vorbei.“

So wie er die Frischvermählten im besten Licht einfängt, schildert er auch sein eigenes Leben, das voller Unschuld zu sein scheint, bis am Rand die Zweifel ins Bild drängen. Der Tod der Braut, das Verschwinden einer Frau in den USA, die vermeintlich unschuldige Schwärmerei für Sarah, die sich jedoch dramatisch in eine ganz andere Richtung entwickelt – Franz erzählt sein Leben, wie er es sich zurechtgerückt hat. Doch Wesentliches scheint er dabei auszulassen.

So wird der Roman fast zu einem Krimi und das Unbehagen beim Leser wächst. Mit was für einem Erzähler hat man es da zu tun, was hat er getan? So wie Franz nach dem Tod des Professors erkennt, dass er diesen eigentlich gar nicht kannte und nichts über ihn wusste, geht es einem mit dem Protagonisten ebenfalls. Ob er sich und die Welt bewusst täuscht und sich seine Realität so erschafft, wie er sie gerne hätte, oder ob seine Wahrnehmung tatsächlich so ist, bleibt ebenso offen wie vieles andere auch. Das nicht Gesagte, die Fragezeichen, die bleiben, machen den Reiz der Geschichte aus, deren klare Sprache eine Eindeutigkeit suggeriert, die jedoch keineswegs vorhanden ist. Und so muss man als Leser selbst die Ereignisse konstruieren und steckt damit mitten in der Geschichte.