Madeline Miller – Galatea

Madeline Miller – Galatea

Der Pygmalion Mythos neu interpretiert. Zehn Jahre sind vergangen, seit Pygmalion seine in Stein gemeißelte Frau zum Leben erweckte. Nun befindet sich Galatea in eingesperrt in einem Zimmer unter Aufsicht einer Schwester und eines Arztes. Ihre Tochter darf sie nicht sehen, auch den Raum nicht verlassen. Die einzigen Unterbrechungen sind ein widerlicher Tee, den sie unter Aufsicht trinken muss, und der ihr Kopfschmerzen bereitet, und die Besuche ihres Gatten, bei denen sie ihren Schöpfungsmythos nachspielen muss. Doch nun will sie ausbrechen, vor allem für ihre Tochter Paphos, die nicht hinter einer neuerlichen Statue verschwinden soll.

Madeline Miller ist mit Neuerzählungen klassischer Sagen in den vergangenen Jahren aufgefallen und vielfach ausgezeichnet worden. „Galatea“ ist nicht nur wegen der Kürze bemerkenswert anders, der Text unterscheidet sich vor allem dadurch, dass er Leerstellen füllt und die weibliche Sicht schildert, die Ovid in seinen Metamorphosen nicht bietet. Der zauberhafte Pygmalion Mythos erscheint dadurch in einem gänzlich anderen Licht. Ergänzt wird durch Text durch Illustrationen von Thomke Meyer, die der lebendigen Statue auch hier Leben einhauchen.

Aus dem kreativen Schöpfer, der die Götter anfleht, wird ein herrschsüchtiger und gewalttätiger Mann, der Frau und Tochter kontrolliert, einsperrt und von Bildung fernhält. Was er als Schutz deklariert ist ein Beschneiden von Rechten, zu seinen eigenen gehört auch das Verfügen über den Körper seiner Frau, den er bewundert, nachdem er durch allerlei Hämatome wundervolle Farben auf ihn gezeichnet hat.

Was in der Antike als Inbegriff grenzenloser Liebe erschienen sein mag, wirkt unter heutigem Blick wie der Inbegriff häuslicher, männlicher Gewalt in vielerlei Facetten, oft schweigsam geduldet und als übliche Geschlechterverhältnis herabgespielt.

Vor- und Nachwort ordnen die kurze Geschichte gewinnbringend ein und erläutern den unterschiedlichen Deutungskontext, weshalb sie nicht überblättert werden sollten. So kurz die Geschichte und Neuinterpretation des Mythos ist, so stark wirkt sie nach in den Fragen, ob man Ovids Meisterwerk nicht nochmals unter einem anderen Blickwinkel betrachten sollte und ob wir nicht bestimmte Verhaltensweisen damit legitimiert haben, dass wir über Jahrhunderte zweifelhafte Verhältnisse unhinterfragt als große Literatur bewundert haben.

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

Ein Dorf im Hunsrück der 1980er Jahre. Ela ist noch ein Kind und versteht nicht alles, was um sie herum geschieht. Offenkundig ist jedoch, dass das Gewicht ihrer Mutter ein Problem ist. Mehr als das, es scheint die Ursache für alles Unglücks ihres Vaters zu sein. Ein Mann, der sich immer für Großes geboren sah und seiner Frau die Schuld dafür gab, dass er nicht befördert wurde, nicht über so viel Geld und Bildung wie sie verfügte, im Dorf nicht so anerkannt war, wie er sich das gewünscht hätte. Aber wie sollte er das auch erreichen, mit einer dicken, nicht präsentablen Frau an seiner Seite? Als Erwachsene Blickt Ela zurück, spricht endlich mit ihrer Mutter über das Jahrzehnte lange Martyrium, das diese stoisch ertragen hat und mit ihrer Gesundheit bezahlte.

Zugegebenermaßen hat mich erst die Nominierung für den Deutschen Buchpreis 2022 so richtig neugierig auf „Lügen über meine Mutter“ gemacht. Die rheinland-pfälzische Provinz als Schauplatz fand ich eher wenig attraktiv, kenne ich sie doch zur Genüge und weiß um den Horror, der Dorfleben bedeutet. Daniela Dröscher verdichtet den Roman jedoch, die Handlung spielt sich weitgehend im Nukleus der Familie, den eigenen vier Wänden ab, die zur Kampfarena zwischen den Eltern werden mit einem Kind, das zu jung ist, um die Mechanismen des innerfamiliären Krieges zu verstehen. Eine schonungslose Milieustudie, die letztlich das Portrait einer ganzen Generation von Frauen ist.

Als Erwachsene stellt die Erzählerin fest, dass sie ihre Mutter nie verstanden hat und beginnt endlich, mit ihr über die Erinnerungen zu reden. Episoden aus der Kindheit wechseln sich so mit Analysen ab und ordnen den ganzen Schrecken ein, den die Mutter widerspruchslos zum Wohle der Töchter ertragen hat. Immer wieder läuft es darauf hinaus, dass der Vater versucht seine Unterlegenheit und Minderwertigkeitskomplexe zu überwinden, indem er die Mutter klein macht. Als Schlesiendeutsche ist sie keine richtige Deutsche, sie spricht ja nicht einmal den richtigen Dialekt! Das Geld ihrer Familie kann nur illegal erworben sein, Verbrecher müssen sie sein, nie kann man durch ehrliche Arbeit so vermögend werden. Ihre Bildung? Sie will doch nur angeben, das sind gar keine richtigen Diplome die sie hat.

Endlos ist die Liste der Angriffspunkte, zentral wird jedoch immer wieder ihr Gewicht. Vieles kann der Mann kontrollieren, wohin sie geht, wofür das Geld ausgegeben wird, aber ihr Gewicht unterliegt trotz aller Bemühungen – öffentliches Wiegen und Notieren der Zahl in einem Buch! – nicht seiner Macht. Alle Schikanen erträgt sie, frisst alles in wahrsten Sinne des Wortes in sich hinein und kümmert sich doch selbstlos um alle anderen um sie herum.

Es ist beim Lesen oftmals fast unmöglich auszuhalten, was Elas Mutter an psychischer Gewalt angetan wird und man fragt sich, weshalb sie nicht ausbricht, nicht einfach geht. Und zugleich weiß man, dass es so einfach nicht ist und erinnert sich, wie viele dieser kleingeistigen Männer man selbst erlebt hat, die sich für etwas Besseres hielten, wenn sie im ballonseidenen Jogginganzug mit dem Cabrio vorm dörflichen Tennisplatz vorfuhren und sich für den König der Provinz hielten und dabei doch nur alle Peinlichkeit zur Schau trugen.

Was in den 80ern als völlig normales Familienleben erschienen sein mag, würde man heute ganz anders einordnen, wie es die Erzählerin auch tut und womit sie ein Licht auf eine ganze Generation von Frauen wirft, die von ihren Müttern noch zum Schweigen erzogen wurden, ihren eigenen Töchtern jedoch Stimmen mit auf den weg gegeben haben.

Auch sprachlich bietet der Roman viele interessanten Facetten, weshalb er für mich ganz eindeutig ein würdiger Kandidat für den diesjährigen Buchpreis wäre, vor allem, um dem Thema die verdiente Aufmerksamkeit zu schenken.

Hanna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt

Hanna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt

Kayleigh braucht einen neuen Job, da klingt das, was sie bei HEXA tun muss, geradezu verlockend: Internetbeiträge anschauen und unangemessene Inhalte löschen. Kann so schwer ja nicht sein. Doch die Rahmenbedingungen sind hart und das, was die Mitarbeiter zu sehen bekommen, geht oftmals über das Ertragbare hinaus. Schnell wird eine verschworene Gemeinschaft aus der neuen Gruppe. Doch der Druck, das auszuhalten, was man Minute für Minute, Stunde für Stunde an Abgründen zu sehen bekommt, wird bald zur Belastung. Schließlich verklagen einige HEXA, Kayleigh jedoch nicht, einem Anwalt, der sie immer wieder mit Fragen bombardiert, erläutert sie, weshalb sie sich nicht anschließen möchte.

Hanna Bervoets Roman ist mir in den letzten Wochen mehrfach begegnet, weshalb ich neugierig auf das Buch wurde.  „Dieser Beitrag wurde entfernt“ klang nach einem ähnlichen Thema wie Dave Eggers „The Circle“ und ich erwartete aufgrund des Klappentextes, meine Sensationslust mit einem Blick hinter die Kulissen eines Internetkonzerns stillen zu können. Leider musste ich schnell feststellen, dass das eigentliche Thema des Romans ein ganz anderes ist und es vorrangig um enttäuschte Liebe geht und die Arbeit bei HEXA nur den Hintergrund für diese liefert.

Bei Kayleighs Training bekommt man zwar Einblicke in die Regeln, nach welchen Beiträge gelöscht werden oder online bleiben, auch werden immer wieder Beispiele für unangemessene Inhalte eingefügt, aber dies bleibt nebensächlich. Die Figuren durchlaufen eine gewisse Entwicklung, denn so ganz spurlos kann diese Arbeit an niemandem vorbeigehen, mit Kayleigh als Erzählerin bleibt dies jedoch auch flüchtig und nur von außen sichtbar, sie selbst scheint kaum belastet durch das kritische Material. Ihr Thema ist Sigrid, eine Kollegin, in die sie sich verliebt und mit der sie eine Beziehung beginnt. Bald schon treten die ersten Schwierigkeiten auf, die sich noch kitten lassen, aufgrund ihrer bestimmenden und manipulativen Art, ist jedoch der große Knall mit Sigrid vorprogrammiert.

Aufgrund der Kürze mit nur knapp über 100 Seiten kann man sicherlich keine tiefgreifende Psychologisierung erwarten, vieles bleibt an der Oberfläche und wird nur angerissen. Da, wo es endlich spannend und interessant wird – wie gehen die Figuren mit den Verschwörungstheorien um, wer kann ihnen standhalten und warum, wie erträgt man brutale Gewaltexzesse ohne selbst aggressiv zu werden, welche Verantwortung tragen die Mitarbeiter, die von Straftaten erfahren – reißt die Handlung immer wieder ab, dabei wäre es das Motiv wert gewesen, tiefer beleuchtet zu werden. Thematisch hatte ich leider auch gänzlich andere Erwartungen, eine Frau, die einer toxischen Beziehung nachweint, ist schlichtweg nicht mein Thema und so konnte ich auch nur wenig Sympathie für die Erzählerin aufbringen.

Gute Ansätze, aus denen sich was hätte entwickeln können, die jedoch ohne Tiefgang bleiben und eine etwas irreführende Beschreibung – leider nicht mein Roman.

Anna Burns – Amelia

Anna Burns – Amelia

In Belfast aufzuwachsen und zu überleben erfordert eine gewisse Gelassenheit und Cleverness. Auch wenn man es nicht so nennt, es herrscht Krieg auf den Straßen und in den Häusern und Kinder wie Amelia Lovett lernen schon in jungen Jahren, wer Freund ist, wer Feind ist und wann ein Feind auch mal zu Freund werden kann, weil es einen anderen, gemeinsamen Feind gibt. Gewalt spielt sich tagtäglich vor ihren Augen ab, gehört zu Leben wie die Schule. Da muss man manchmal gedanklich einfach abschweifen, um all das zu vergessen, was sich um einen rum zuträgt, denn sonst schlägt sich das irgendwann nieder.

Ihr Roman „Milchmann“ wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Man Booker Prize, dem National Book Critics Award und dem Orwell Prize, was die nordirische Autorin Anna Burns weit über ihre Heimat hinaus bekannt machte. „Amelia“ ist ihr Debüt aus dem Jahr 2001, welches ebenfalls von den Kritikern begeistert aufgenommen wurde und für zahlreiche Preise nominiert war. Beide Romane haben gemein, dass die Autorin mit einer ungeschönten, direkten Sprache das alltägliche Grauen, dem die Mädchen bzw. junge Frauen ausgesetzt sind, schildert und den Leser damit ins Mark trifft. Es ist manchmal nur schwer auszuhalten – verglichen jedoch mit der Realität, die sie einfängt, ist das Lesen ein Klacks, wenn man es sich realistischer Weise vor Augen führt.

Die Kinder leben während der Troubles eine Normalität, die man sich kaum vorstellen kann. Tote, Blut, Gewaltexzesse – nichts bringt sie mehr aus der Ruhe, weil es so normal ist, dass im Puppenwagen genauso gut eine Bombe wie eine Puppe liegen könnte oder dass der Vater oder Bruder morgen schon zu den Opfern gehören könnte. Die Frauen sind gleichermaßen abgestumpft und tragen ihre Streitigkeiten ebenso gewalttätig aus, wie die Männer. Es wirkt geradezu grotesk, wie Amelia die Tage zählt, bis ihr Elternhaus an der Reihe ist, niedergebrannt zu werden, nun ja, Troubles eben. Dass dies nicht ohne Spuren bleiben kann, gerade auch weil selbst innerhalb der Familie keine Loyalität zu erwarten ist, verwundert nicht. Die Spuren der Verwüstung ziehen sich zwar in anderer Art, aber nicht weniger heftig durch ihr Erwachsenenleben.

Die Geschichte Amelias überspannt mehrere Jahrzehnte, es sind kurze Kapitel, nur Episoden, die jedoch eindrücklich nachwirken. Sie erscheinen wie Flashbacks, böse Erinnerungen, die sich eingebrannt haben und die Amelia nicht mehr los wird. Narben, die sie zeichnen und eine von vielen Geschichten eines Landes im andauernden Ausnahmezustand erzählen.

Charlotte McConaghy – Wo die Wölfe sind

Charlotte McConaghy – Wo die Wölfe sind

Schon seit langem gibt es keine Wölfe mehr in Schottland, die Menschen haben sie ausgerottet ohne zu bedenken, was dies für das Gleichgewicht der Natur bedeutet. Inti Flynn kommt mit einem Forschungsteam in die Highlands, um ein Rudel auszuwildern. Aber das ist nicht der einzige Grund, der sie in die Abgeschiedenheit bringt, es ist auch eine Flucht vor den Ereignissen in Alaska, von denen sich ihre Zwillingsschwester kaum mehr erholt hat und nun in sich gekehrt nichts mehr von dem lebensfrohen Wesen mehr hat, das sie einst war. Schon immer waren die Schwestern unzertrennlich und von ihrem Vater haben sie die Liebe zur Natur und den Tieren kennengelernt. Doch nicht nur das macht sie besonders, Inti leidet an Mirror-Touch-Synästhesie, wodurch sie das, was sie sieht, auch unmittelbar empfindet und dadurch eine ganz besondere Verbindung zu anderen Lebewesen aufbauen kann. Doch auch die besten Absichten können sie nicht vor dem Hass der lokalen Bevölkerung schützen, die nur wenig Verständnis für die Ansiedelung der Raubtiere aufbringen.

Die Zerstörung ihres eigenen Lebensraums, der rücksichtlose Umgang der Menschen mit der Natur und dem Planeten hat die australische Autorin Charlotte McConaghy zum zentralen Thema ihrer Romane gemacht. „Wo die Wölfe sind“ greift dieses auf, indem der Roman zeigt, dass es eben nicht ohne Folgen bleibt, wenn man eine Spezies ausrottet. Zugleich ist es auch eine feministische Geschichte, die unterstreicht, dass die eigentliche Gefahr für die Menschen nicht von der wilden Natur ausgeht, sondern von ihren eigenen Artgenossen, mit denen genauso brutal und unbarmherzig umgegangen wird wie mit allen anderen Lebewesen.

Die Naturverbundenheit der Protagonistin fasziniert von der ersten Seite an, sie kann Tiere wie Pflanzen lesen, etwas, das wir durch die Zivilisation weitgehend verlernt haben. Die Natur ist ein komplexes Zusammenspiel, das sich über Jahrtausende entwickelt hat und erst durch den Menschen aus der Balance geraten ist. Der Vater, der versucht im Einklang mit ihr zu leben und nicht so zerstörerisch zu wirken wie seine Mitmenschen, muss scheitern und verzweifeln, der Schaden, den wir angerichtet haben, ist nicht mehr rückgängig zu machen. Inti hingegen fokussiert auf das, was sie tun kann, doch die irre Wolfsfrau findet wenig Gehör, wie viele, die warnend die Stimme erheben.

Der zweite zentrale Aspekt wird zunächst durch die Arbeit der Mutter der beiden Zwillinge eingeführt, die Gewaltverbrechen an Frauen aufklärt und ihren Töchtern schon früh versucht aufzuzeigen, wo die tatsächliche Gefahr lauert: in den eigenen vier Wänden. In verschiedenen Facetten taucht häusliche Gewalt auf und bildet damit den Gegensatz zu den vermeintlich gefährlichen Raubtieren, die sich jedoch in ihrem Rudel gänzlich anders verhalten als die Familienmenschen.

Die Geschichte sprudelt nur so vor Faszination des Lebens außerhalb der menschlichen Sphäre und führt dem Leser vor Augen, was er alles nicht sieht und was ihm entgeht. Dass es gerade die Menschen sind, die sich gänzlich unzivilisiert verhalten, sollte noch mehr die vermeintliche Überlegenheit unserer Spezies infrage stellen. Dass wir uns die eigene Lebensgrundlage entziehen, ist noch nicht absurd genug, wir fügen uns auch gegenseitig unendlichen Schmerz und Leid zu. Ein Buch, das tiefe Emotionen weckt und einem mit gemischten Gefühlen zurücklässt.

Vladimir Sorokin – Der Tag des Opritschniks

Vladimir Sorokin – Der Tag des Opritschniks

Russland 2027 ist von der Außenwelt durch eine Mauer abgeschottet. Regiert wird das Land von dem Alleinherrscher, dem „Gossudar“, der mit Hilfe seiner Leibgarde das Land mit harter Hand führt. Andrej Danilowitsch ist einer der Opritschniki, der Auserwählten, die sich immer wieder in seiner Nähe aufhalten dürfen und unmittelbar von ihm Befehle empfangen. Er lässt den Leser an einem typischen Tag teilhaben: eine Hinrichtung eines Oligarchen samt Vergewaltigung dessen Frau, Auspeitschung, Bestechung, Besuch bei einer Wahrsagerin und zum Ausklang ein Festmal samt Saunagang.

Vladimir Sorokins Roman aus dem Jahr 2008 lässt sich vor dem Hintergrund der Ereignisse im Frühjahr 2022 kaum ertragen. „Der Tag des Opritschniks“ wurde als dystopische Satire verfasst, davon ist nicht viel übrig geblieben, zu real erscheinen die Schilderungen, nein, man ist geneigt zu sagen die Realität hat den Roman bereits überholt.

Der Protagonist ist obrigkeitstreuer Diener seines Herrschers, der nichts hinterfragt und ergeben seine Rolle ausübt. Gewalt ist die Methode der Wahl, die Facetten selbiger je nach Ziel verschieden aber immer erbarmungslos und unmenschlich. Die Leibgarde und der Herrscher haben mit dem Volk nichts mehr gemein, abgeschottet leben sie in Saus und Braus, verfügen sogar über eigene Spuren auf den Straßen.

Symbolisch arbeitet Sorokin geschickt mit bekannten Mustern, verbindet rückständige, geradezu mittelalterlich anmutende Sprache – „Faustkeil“ für Handy – mit der Huldigung des religiösen Führers. Man kann nicht anders als die rückwärtsgewandte Argumentation Putins, die Gewalt seiner Armee in der Ukraine und die totalitäre Abschottung wiederzuerkennen. Keine Dystopie, keine Satire in 2022, sondern schlichtweg Realität. Das nicht Hinterfragen, das bedingungslose Folgen des Führers haben genau zu jener Welt geführt, die Sorokin bereits vor über zehn Jahren literarisch skizzierte.

Liest man sich Rezension zur Zeit des Erscheinungstermins, beschleicht einem ein ungutes Gefühl: zu vorhersehbar, unglaubwürdig barbarisch – die Liste der negativen Kommentare ist so lange wie die der Fehleinschätzungen Russlands und Putins der vergangenen 20 Jahre. Vielleicht hätte man doch besser zuhören und genauer lesen sollen, um Tausende Opfer zu vermeiden.

Sorokin wird vermutlich wider Willen zur Kassandra, die Böses voraussagt und der niemand glaubt, niemand glauben will. Auch Literatur kann nur Augen öffnen, wenn die Leser dazu bereit sind.

Sandra Cisneros – Das Haus in der Mango Street

Sandra Cisneros – Das Haus in der Mango Street

Esperanza wohnt in der Mango Street in Chicago. Es ist nicht das, was sie als ihr „Zuhause“ betrachten würde, aber das Haus, in dem sie wohnt, befindet sich nun einmal dort. Die Mango Street ist ein wildes Sammelsurium an Menschen, die dort alle gestrandet sind und auf bessere Zeiten hoffen. Esperanza wächst zwischen ihnen und den unterschiedlichen Lebensentwürfen auf, schon früh mit der Absicht, irgendwann einmal als Schriftstellerin mit ihrem eigenen Haus erfolgreich zu sein.

Wie die mexikanisch-amerikanische Autorin Sandra Cisneros bereits im Vorwort ankündigt, handelt es sich nicht um einen Roman im eigentlichen Sinne. Zur Entstehungszeit Anfang der 80er Jahre waren kurze Texte angesagt und so finden sich in „Das Haus in der Mango Street“ 44 kurze Episoden aus dem Lebensalltag Esperanzas, die den realen Erfahrungen der Autorin entlehnt sind. Sie ermöglicht durch ihre Augen einen kurzen Blick in die Leben der Bewohner der Straße, wirft durchaus auch brisante Fragen auf, führt die Geschichten jedoch nie so ganz zu einem Ende.

„Leute, die keine Ahnung haben, kommen ganz verschreckt in unser Viertel. Sie glauben, wir sind gefährlich. Sie glauben, wir gehen mit blitzenden Messern auf sie los. Sie sind Dummköpfe, die sich verirrt haben und nur versehentlich hier gelandet sind. Wir aber haben keine Angst.“

„Das Haus in der Mango Street“ wird vielfach als wichtiges Werk sowohl der Chicano-Literatur wie auch aus feministischer Sicht interpretiert. Cisneros schildert vor allem das Leben der mexikanischen Einwanderer bzw. ihrer Nachfahren, so werden Ehefrauen aus Mexico importiert, die kein Englisch sprechen und dadurch ans Haus gebunden sind, andere hoffen mit dem Umzug in die reichen USA auf ein besseres Leben. Alte Familienstrukturen und vor allem das Verhältnis von Männern und Frauen zueinander wird nicht an die neuen, offeneren gesellschaftlichen Lebensrealitäten angepasst, sondern so wie schon immer fortgesetzt. Man kennt sich im Viertel und weiß, wann etwas zu kommentieren ist und wann auch einfach nicht.

Esperanza ist am Beginn der Pubertät, interessiert sich zunehmend für das Verhältnis zwischen Mädchen und Jungs, sucht selbst aber noch keinen Kontakt. Es steht jedoch außer Frage, dass sie irgendwann einen Freund und dann auch Mann braucht, wenn das nicht einfach so klappt, kann man immer noch zur Zauberhexe gehen, die dann Abhilfe weiß.

Die kurzen Episoden lassen durchscheinen, dass das Leben in der Mango Street nicht einfach, vielfach auch von Gewalt geprägt ist und doch alle ihre Träume von einem besseren Leben hegen – oder sie hoffen dies zumindest für ihre Kinder. Insbesondere für die Frauen wird es aber beim Traum bleiben, denn ihre Lebenswege sind vorgezeichnet und sehr begrenzt. So sehr sich auch Esperanza wünscht ausbrechen zu können, ist ihr schon als Mädchen bewusst, dass sie nicht alles einfach wird hinter sich lassen können, sondern dass sie auch davon geprägt wird, in dem, wie sie die Welt sieht.

Durch die Stimme des jungen Mädchens kann Cisneros die sozialkritischen Themen etwas abmildern, da sie mit einer gewissen Naivität und Unwissenheit präsentiert werden. Präsent sind sie dennoch und machen den Roman dadurch durchaus auch zu einer Anklage. Dies wird allein dadurch deutlich, dass er zu den Jugendromanen zählt, die regelmäßig auf den Verbannungslisten erscheinen, die Mitglieder der weißen Oberschicht an die US-amerikanischen Schulen und Bibliotheken herantragen.

Annie Ernaux – La honte [dt. Die Scham]

Annie Ernaux – La honte

An einem Sonntagnachmittag im Juni 1952 wollte der Vater der 12-jährigen Annie ihre Mutter umbringen. Damit eröffnet die französische Autorin ihren Roman, der mehr einem Tagebuch der Erinnerungen gleicht. Das Ereignis hat Spuren bei dem Mädchen hinterlassen, zwei Bilder aus dem fraglichen Jahr belegen dies, es gibt ein Davor und ein Danach. Detailliert schildert sie die Situation in der heimischen Küche, dem Durchgangszimmer zwischen dem Café der Eltern und der Wohnung der Familie, der Raum, der Einblick in das Leben erlaubt, das eigentlich verborgen sein sollte, denn alles Private ist auch mit Scham besetzt. Das erlebt das Mädchen immer wieder, so wird sie erzogen. Das kleine Dörfchen der Normandie, in dem sie aufwächst, hat in den 1950ern klare Regeln, ebenso ihre katholische Privatschule, beides prägt die Autorin so stark, dass es sich auch 40 Jahre später nicht loslässt.

Die meisten Romane Annie Ernaux sind autobiografisch geprägt, sie öffnet damit die Tür und gibt Einblick in ein Leben, das bis dato weitgehend verborgen war. Sie gilt als Chronistin des einfachen Lebens in Frankreich, sie schreibt über fast banale Alltagsthemen, die jedoch für die Figuren (oft sie selbst) essentielle Momente darstellen. In dem Roman, der bereits Mitte der 1990er Jahren veröffentlicht wurde, ist es der Gewaltausbruch des Vaters, der außer in ihrem Gedächtnis nirgendwo dokumentiert ist.

Scham kommt als Thema immer wieder in ihren Büchern vor, vor allem bezogen auf ihre Herkunft. Die Eltern schon haben einen kleinen Aufstieg erreicht, indem sie von Fabrikarbeitern zu Selbstständigen wurden. Die Regeln für die Tochter sind streng, unter keinen Umständen darf sie den äußeren Schein gefährden. Dazu zählen auch die Frömmigkeit der Mutter und der Besuch der katholischen Schule, wo sie eine Außenseiterin bleibt, denn aus ihrem Viertel gehen alle Kinder in die staatliche Schule und mit ihren Mitschülerinnen aus gutbürgerlichen Elternhäusern hat sie nur wenig gemein. Dennoch will sie gefallen, vor allem den Lehrerinnen und den bewunderten älteren Schülerinnen. Doch nie ist sie genug, zumindest so ihr Empfinden, es bleiben immer Makel, derer sie sich nicht entledigen kann und die ein tiefes Gefühl von Scham bei ihr hinterlassen, das sie ihr Leben lang begleiten wird.

Frankreich mangelte es nun wahrlich nie an Philosophen und Soziologen, die uns die Gesellschaft versuchten zu erklären. Annie Ernaux macht dies allerdings auf eine viel greifbarere Weise, die einem als Leser unmittelbar trifft. Auch viele Jahrzehnte später kann sie sich noch in das junge Mädchen und sein damaliges Empfinden hineinversetzen und ihr eine Stimme verleihen, die sie damals noch nicht hatte. Im Suhrkamp Verlag sind in den vergangenen Jahren einige Neuübersetzungen von Annie Ernaux erschienen, so auch „Die Scham“. Sicherlich kein Roman für die Massen und für mich auch nicht ganz so stark wie „Erinnerung eines Mädchens“, aber auf jeden Fall empfehlenswert, wenn man unsere Nachbarn etwas besser verstehen möchte, denn gerade auch dieser Roman erklärt, weshalb Annie Ernaux eine leidenschaftliche Unterstützerin der „Gilets Jaune“ (Gelbwesten) war.

Dominique Manotti – Marseille.73

Dominique Manotti – Marseille.73

Commissare Daquin hat keine gute Zeit gewählt, um die französische Hauptstadt gegen die Mittelmeerstadt Marseille einzutauschen. Im Sommer 1973 explodiert dort die Gewalt zwischen Franzosen und Zuwanderern. Der Mord an dem Jugendlichen Algerier Malek droht die Stadt vollends im Chaos versinken zu lassen. Die Polizei fährt schwerste Geschütze auf, die Maghrebiner organisieren sich ebenfalls. Daquin steht dazwischen und muss bald erkennen, dass nicht nur die Zivilbevölkerung von Rassismus durchdrungen ist, sondern dass die größte Gefahr aus den eigenen Reihen kommt.

Es sind die sogenannten „Circulaires Marcellin-Fontanet“, die die französische Regierung anlässlich steigender Arbeitslosenzahlen im Jahr 1972 erlassen hat. Mit dem Gesetz wurde die Zuwanderung drastisch beschränkt und viele Arbeiter, die nach dem Algerienkrieg nach Frankreich übersiedelt waren, wurden plötzlich zu Illegalen. Dieses historische Ereignis mit seinen gesellschaftlichen Folgen greift die französische Grande Dame des Kriminalromans Dominique Manotti in „Marseille.73“ auf. Sie zeichnet dabei ein bedenkliches Bild nicht nur der Bewohner, sondern vor allem der Polizei und der Presse und beim Lesen wird man unweigerlich von der Frage verfolgt, ob sich in den fast 50 Jahren seither in Frankreich – oder auch bei uns – wirklich viel geändert hat. Ein Blick in eine x-beliebige Tageszeitung könnte einem dies recht schnell verneinen lassen.

„Nachdem das Offensichtliche ausgesprochen ist, fühlt sich jeder berufen, seine Meinung zu äußern. »Die haben uns aus Algerien rausgeschmissen, also müssen jetzt wir sie rausschmeißen. Ist doch normal.« – »Ja, aber man wird ein bisschen nachhelfen müssen, von selber gehen die nicht.« Manche meinen, eine Lösung zu haben: »Wenn man ein paar von ihnen umbringt, kriegen die anderen Angst und hauen ab.«“

Es ist eine komplexe Situation, die Leser, die mit der politischen Lage Anfang der 70er Jahre in Frankreich nicht vertraut sind, erst für sich sortieren müssen. Die Folgen des Krieges mit der ehemaligen Kolonie, die fragile Machtbalance zwischen konkurrierenden Banden in Südfrankreich, verflochtene Zugehörigkeitsgefüge, all dies muss erst durchdrungen werden, um den Fall in seiner Vielschichtigkeit zu erschließen. Dies macht den besonderen Reiz beim Lesen aus, weil nicht eine geradlinige Story von Motiv – Tat – Auflösung präsentiert wird.  

Basierend auf realen Ereignissen wird so aus einem spannenden Mordfall ein Dokument, das die Ursprünge von strukturellem, institutionalisiertem Rassismus erklärt. Dass es gerade in Südfrankreich viele Anhänger rechtsradikaler Parteien wie dem Front National gibt, ist kein Zufall. Als Lektüre auch unbedingt in Kombination mit Jean-Claude Izzos Marseille Trilogie (Total Khéops, Chourmo, Soléa) zu empfehlen, in der der Polizist Fabio Montale auf ziemlich verlorenem Posten gegen den korrupten Polizeiapparat kämpft und in der sich das, was sich bei Manotti andeutet, längst verfestigt hat.

Ein sozialkritischer Krimi, der leider kein bisschen an Relevanz und Warnung verloren hat und bei dem es sträflich wäre, sich entspannt zurückzulehnen und zu denken, dass dies ja nur ein französisches Problem sei.

Édouard Louis – Die Freiheit einer Frau

Édouard Louis – Die Freiheit einer Frau

Der junge französische Autor Édouard Louis setzt die Erzählung seiner Familie fort. Nachdem er in „En finir avec Eddy Belleguele“ (dt. „Das Ende von Eddy“) seine eigene Geschichte erzählte, in „Histoire de la violence“ (dt. „Im Herzen der Gewalt“) eine nahezu unerträgliche Gewalteskapade ausführte, näherte er sich in „Wer hat meinen Vater umgebracht“ seinem Vater. Jetzt ist seine Mutter, die auch das Cover ziert, in „Die Freiheit einer Frau“ im Fokus. Genau jenes Bild, das er zufällig entdeckte, war auch der Auslöser für das Buch, das einmal mehr in seiner ganz eigenen literarischen Form zwischen Erzählung, Memoiren und Biografie verfasst wurde.

„Sie war gedemütigt, aber sie hatte keine andere Wahl, oder sie dachte, sie hätte keine, die Grenze dazwischen ist schwer zu bestimmen, (…)“

Moniques Leben gerät früh schon auf die schiefe Bahn. Während der Ausbildung wird sie als Teenager schwanger, bekommt bald schon das zweite Kind. Sie verlässt den Vater der Kinder für einen anderen Mann, der jedoch ebenso gewalttätig und unterdrückend ist. Mit ihm folgen weitere Kinder, darunter auch Édouard. Ihr bleibt das Leben als Hausfrau und Mutter auf dem nordfranzösischen Dorf. Dass sie einmal eine lebenslustige Frau mit Träumen war, davon ist nichts mehr zu spüren. Stoisch erträgt sie das Schicksal, das ihr scheinbar zugewiesen wurde. Sie braucht Jahrzehnte, um sich zu erinnern, dass sie schon einmal geflüchtet ist und dass sie sie diese Möglichkeit wieder hätte.

„Sie war sich ganz sicher, dass sie ein anderes Leben verdiente, dass es dieses Leben irgendwo gab, abstrakt gesehen, in einer virtuellen Welt, so gut wie in Reichweite, und dass ihr Leben in der wirklichen Welt eigentlich wegen eines Versehens so aussah wie es war.“

Was die Erzählungen Édouard Louis‘ auszeichnet, ist die gnadenlose Beschreibung einer unschönen Realität. Er kommt aus einem prekären Milieu, das von Gewalt und Hoffnungslosigkeit geprägt ist und eröffnet mit seinen Büchern einen Blick in diese Welt, vor der man lieber die Augen verschließen möchte. Ihm selbst ist nicht nur der soziale Aufstieg geglückt, er kann mit dem Abstand von Zeit und Raum auch das reflektieren, was er als Kind und Jugendlicher erlebt und gesehen hat und schreibt dies nieder.

Auch wenn die schon bekannte endlose Spirale, die sich von Generation zu Generation wiederholt –  geboren in Gewalt und Armut, den Ausweg nicht finden, den Weg der Eltern reproduzieren, selbst gewalttätig werden und mit prekären Jobs gerade so überleben – auch hier geschildert wird, erlaubt der Blick auf die Mutter doch auch einen Funken von Hoffnung. Und Versöhnung, denn der Sohn ist älter und reifer, erkennt seine eigenen Fehler gegenüber der Mutter, seine Fehleinschätzungen, die blinden Flecken, die er in jungen Jahren nicht sehen oder richtig deuten konnte. Somit wird der Bericht auf eine Reflektion über das eigene Denken und das Eingeständnis von selbst ausgeübter Gewalt, die in seinem Fall eher psychologisch denn physisch war.

Eine Hommage an eine letztlich starke Frau, keine schöne Lebensgeschichte, aber eine aus dem echten Leben, das nun einmal nicht immer rosarot ist.