Annie Ernaux – La honte [dt. Die Scham]

Annie Ernaux – La honte

An einem Sonntagnachmittag im Juni 1952 wollte der Vater der 12-jährigen Annie ihre Mutter umbringen. Damit eröffnet die französische Autorin ihren Roman, der mehr einem Tagebuch der Erinnerungen gleicht. Das Ereignis hat Spuren bei dem Mädchen hinterlassen, zwei Bilder aus dem fraglichen Jahr belegen dies, es gibt ein Davor und ein Danach. Detailliert schildert sie die Situation in der heimischen Küche, dem Durchgangszimmer zwischen dem Café der Eltern und der Wohnung der Familie, der Raum, der Einblick in das Leben erlaubt, das eigentlich verborgen sein sollte, denn alles Private ist auch mit Scham besetzt. Das erlebt das Mädchen immer wieder, so wird sie erzogen. Das kleine Dörfchen der Normandie, in dem sie aufwächst, hat in den 1950ern klare Regeln, ebenso ihre katholische Privatschule, beides prägt die Autorin so stark, dass es sich auch 40 Jahre später nicht loslässt.

Die meisten Romane Annie Ernaux sind autobiografisch geprägt, sie öffnet damit die Tür und gibt Einblick in ein Leben, das bis dato weitgehend verborgen war. Sie gilt als Chronistin des einfachen Lebens in Frankreich, sie schreibt über fast banale Alltagsthemen, die jedoch für die Figuren (oft sie selbst) essentielle Momente darstellen. In dem Roman, der bereits Mitte der 1990er Jahren veröffentlicht wurde, ist es der Gewaltausbruch des Vaters, der außer in ihrem Gedächtnis nirgendwo dokumentiert ist.

Scham kommt als Thema immer wieder in ihren Büchern vor, vor allem bezogen auf ihre Herkunft. Die Eltern schon haben einen kleinen Aufstieg erreicht, indem sie von Fabrikarbeitern zu Selbstständigen wurden. Die Regeln für die Tochter sind streng, unter keinen Umständen darf sie den äußeren Schein gefährden. Dazu zählen auch die Frömmigkeit der Mutter und der Besuch der katholischen Schule, wo sie eine Außenseiterin bleibt, denn aus ihrem Viertel gehen alle Kinder in die staatliche Schule und mit ihren Mitschülerinnen aus gutbürgerlichen Elternhäusern hat sie nur wenig gemein. Dennoch will sie gefallen, vor allem den Lehrerinnen und den bewunderten älteren Schülerinnen. Doch nie ist sie genug, zumindest so ihr Empfinden, es bleiben immer Makel, derer sie sich nicht entledigen kann und die ein tiefes Gefühl von Scham bei ihr hinterlassen, das sie ihr Leben lang begleiten wird.

Frankreich mangelte es nun wahrlich nie an Philosophen und Soziologen, die uns die Gesellschaft versuchten zu erklären. Annie Ernaux macht dies allerdings auf eine viel greifbarere Weise, die einem als Leser unmittelbar trifft. Auch viele Jahrzehnte später kann sie sich noch in das junge Mädchen und sein damaliges Empfinden hineinversetzen und ihr eine Stimme verleihen, die sie damals noch nicht hatte. Im Suhrkamp Verlag sind in den vergangenen Jahren einige Neuübersetzungen von Annie Ernaux erschienen, so auch „Die Scham“. Sicherlich kein Roman für die Massen und für mich auch nicht ganz so stark wie „Erinnerung eines Mädchens“, aber auf jeden Fall empfehlenswert, wenn man unsere Nachbarn etwas besser verstehen möchte, denn gerade auch dieser Roman erklärt, weshalb Annie Ernaux eine leidenschaftliche Unterstützerin der „Gilets Jaune“ (Gelbwesten) war.

Annie Ernaux – Erinnerung eines Mädchens

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Annie Ernaux – Erinnerung eines Mädchens

Annie wächst behütet in der Kleinstadt auf, in ihrer katholischen Schule lernt sie die in den 1950er Jahren wesentlichen Dinge für eine Frau. Im Sommer vor ihrem 18. Geburtstag will sie als Betreuerin in einer Ferienkolonie arbeiten und endlich dazugehören, so den Großen, Erwachsenen, die die Kinder dort betreuen. Mit Jungs hat sie keinerlei Erfahrung, aber das will sie nachholen und die Gelegenheit ergibt sich schneller als gedacht. Doch es ist nicht das, was sie erwartet hat und auch fünfzig Jahre später noch verfolgen sie die Ereignisse dieser Nacht.

Annie Ernaux‘ autobiographisch basiertes Buch ist die Geschichte eines Mädchens im Erwachsenwerden. Auch wenn die Handlung Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre angesiedelt ist, sind die Probleme und Sorgen doch diejenigen, die viele jungen Menschen auch heute kennen. Annie wächst in einem kleinbürgerlichen Haushalt auf, ihre Eltern haben einen kleinen Lebensmittelladen in der Provinz. Dem Mädchen fehlt es an nichts, aber sie hat auch nie Kontakt zu intellektuellen Milieus und kann ihr Interesse an Literatur und Philosophie mit niemandem teilen. In der Schule hat sie beste Noten, aber richtig gefordert wird sie in diesem Umfeld auch nicht.

In der Ferienkolonie trifft sie erstmals auf Jugendliche aus anderen sozialen Schichten, was sie verunsichert. Sie kennt die geheimen Codes nicht, weiß nicht, wie sie sich verhalten soll, welche Meinung sie haben muss, um auch dazuzugehören. Schnell wird sie zum Gespött. Die fehlende sexuelle Erfahrung versucht sie durch Freizügigkeit aufzuholen und versteht dabei nicht, dass dies ebenfalls nicht richtig ist und sie wiederum der Verachtung der anderen aussetzt.

Die angehenden Lehrerinnen sind ihr Vorbild, weshalb sie sich selbst auch für das Lehramtsstudium einschreibt. Annie will sein wie sie, um im nächsten Sommer mithalten zu können, dabei vergisst sie völlig, dass sie weder geeignet noch interessiert ist an diesem Beruf und das Fiasko im Praktikum lässt nicht lange auf sich warten. Auch der Au Pair-Aufenthalt in London erfüllt die Erwartungen nicht: ihr Englisch verbessert sich nicht und ihr Vater wirft ihr letztlich treffend an den Kopf, dass sie eigentlich dort nicht mehr war als ein Dienstmädchen.

Es dauert Jahre, bis sie erkennt, was sie gut kann und was sie im Leben will. Der Weg dahin ist schmerzlich und ihre Entscheidung erfüllt nicht die Erwartungen der Eltern, denen jedoch gefangen in ihrer überschaubaren Welt der notwendige Weitblick fehlt. Annie muss sie freischwimmen, um ihren Horizont zu erkennen und ihre eigenen Ziele zu finden.

Maren Kroymann liest Annie Ernaux‘ Erinnerung mit überzeugend prononcierter Stimme und verleiht sowohl dem Mädchen Annie die notwendige Naivität wie auch der erwachsenen Frau die immer noch schmerzliche Gebrochenheit, die die Geschichte ausmachen.