Camille Kouchner – La familia grande [dt. Die große Familie]

Camille Kouchner – La familia grande

Manchmal reicht ja der Autorenname, dass man neugierig auf ein Buch wird. Camille Kouchner, klar, Tochter berühmter Eltern, die über ihre Familie schreibt. Ein wenig Sensationslust und schon öffnet man ein Buch, ohne zu ahnen, dass man die Büchse der Pandora in Händen hält. Daher eine Warnung vorweg – der deutsche Klappentext beinhaltet dies, im französische nicht einmal eine winzige Andeutung – das Buch ist die Schilderung dessen, was ein verheimlichter Missbrauchsfall in der Familie anrichtet.

Camille Kouchner ist die Tochter von Bernard Kouchner, Gründer der Médecins sans Frontières und ehemaliger Außenminister, und Évelyne Pisier, ehemalige Geliebte von Fidel Castro, erste Professorin für Öffentliches Recht an der Sorbonne und hohe Beamtin im Kulturministerium. Ihre Tante, Marie-France Pisier war eine bekannte und vielfach ausgezeichnete Schauspielerin und immer präsent in ihrem Leben, da die beiden Schwestern unzertrennbar waren. Nach der Trennung der Eltern heiratet ihre Mutter Olivier Duhamel, ebenfalls angesehener Jura-Professor aus einer bekannten Intellektuellenfamilie.

Die Autorin wächst mit ihrem Zwillingsbruder Victor und dem 4 Jahre ältere Colin unbeschwert auf, der Vater war zwar überwiegend abwesend und die Mutter und Großmutter hatten sehr eigene Ansichten von Freiheit und Erziehung, doch ihre Erinnerungen sind positiv. Auch als Duhanel zu der Familie stößt, erweitert dies nur den illustren Kreis und vor allem im Sommerhaus in Südfrankreich kommen unzählige Freunde der Eltern zusammen und die Sommermonate werden von der „großen Familie“ mit viel Alkohol exzessiv ausgelebt, Kinder sind dabei immer ein natürlicher Teil des Geschehens.

Was dort auch geschah, beichtet Victor seiner Schwester erst Jahre später als sie beide 14 sind. Diese ist entsetzt, hat den Stiefvater immer vergöttert. Victor bittet sie zu schweigen, denn sie wissen, dass ihre Mutter damit nicht umgehen könnte. Nach dem Selbstmord ihrer Eltern war sie in ein tiefes Loch gefallen, aus dem sie sich nur schwer befreien konnte. Der Vater ist ebenso wenig als Ansprechpartner geeignet und so tragen die beiden ein Geheimnis mit sich, das sie zerstört.

Psychisch und physisch hinterlässt der Missbrauch Spuren bei beiden, erst als sie selbst Eltern werden, drängt Camille darauf zu handeln, um ihre eigenen Kinder zu schützen. Es geschieht das, was Victor immer befürchtet hat: die Tat wird nicht bestritten, aber die Schuld wird den Kindern zugeschoben. Camille, weil sie geschwiegen hat, beiden, weil sie jetzt alles zerstören und so eine Ungeheuerlichkeit ausbreiten. Die große Familie wendet sich ab, nicht aber, um den Täter zu ächten, sondern weil Camille und Victor nicht geschwiegen haben. Nur ihre Tante hält zu ihnen, nimmt den Bruch mit ihrer geliebten Schwester in Kauf, kann mit der Situation in der Familie jedoch auch nicht leben.

Seit einiger Zeit gibt es auffällig viele Berichte von französischen Frauen um die 40, die ihre Kindheitserlebnisse schildern. Gemeinsam haben sie, dass sie im Umfeld von gefeierten Persönlichkeiten aufgewachsen und oftmals durch die Hölle gegangen sind. Vanessa Springora, die ähnlich wie Victor Kouchner missbraucht wurde und man ihr jedoch einredete, dass das alles so richtig sei. Sarah Biasini, die als Tochter von Romy Schneider nach deren Tod zwar familiär behütet aufwuchs, aber von klein auf von der Presse verfolgt wurde. Das jahrelange Schweigen gehörte offenbar in den 70er bis 90er Jahren dazu, wurde von früh auf gelernt, ebenso wie das „stell dich nicht so an“ und eine Umkehr der Schuld. Jedes einzelne Buch erschreckend zu lesen und doch wichtig, für die Autorinnen, die sich damit befreien können, aber auch um eine andere Zukunft für ihre Kinder zu gestalten.

Tess Sharpe – The Girls I’ve Been

Tess Sharpe – The Girls I’ve Been

Nora O’Malley will eigentlich nur mit ihrer aktuellen Freundin Iris und ihrem Ex Wes Geld auf einer Bank einzahlen, als sich zwei weitere Kunden als Bankräumer zu erkennen geben. Sie wollen nicht an Geld, sondern an etwas, das sich in den Schließfächern befindet; dafür benötigen sie den Filialleiter, der jedoch an diesem Morgen noch nicht da ist. Wo andere in Panik ausbrechen würden, bleibt Nora ruhig, sie hat schon Schlimmeres durchlebt. Sie ist die Tochter einer notorischen Betrügerin und hat ihre Kindheit damit verbracht, Männer auszunehmen. Bis sie an Raymond gerieten, der noch gerissener als die beiden Frauen war. Aber auch er hatte Nora oder Ashley oder Samantha oder Rebecca oder wie auch immer sie gerade hieß unterschätzt. Jetzt muss sie auf das zurückgreifen, was sie schon als kleines Mädchen verinnerlicht hatte.

Tess Sharpe lässt in ihrem Jugendbuch-Krimi die Gegenwart der Geiselnahme in der Bank mit Noras Erinnerungen an die Zeit mit ihrer Mutter abwechseln. Seit fünf Jahren schon lebt die Jugendliche ein undercover Dasein als quasi normales Mädchen, ihre Halbschwester hat ihr eine neue Identität ermöglicht, die nun durch die unheilvollen Ereignisse droht aufzufliegen. Nur langsam bekommt man einen Eindruck davon, was in ihrem früheren Leben geschehen ist, während vor Ort die Zeit davonläuft und die Lage immer weiter eskaliert.

Die kurzen Kapitel und der rasche Wechsel zwischen den beiden Zeitebenen sorgen für ein hohes Tempo der Handlung und für Spannung, da man gerne beide Handlungsstränge mitverfolgen möchte. Weiß man anfangs noch wenig über Nora und hält ihre Überzeugung zwei bewaffneten Bankräubern etwas entgegensetzen zu können für etwas übertrieben, zeigt sich bald, dass deren Planung mehr so semi-optimal war und sie über weitaus mehr Cleverness verfügt als die beiden Männer.

Auch wenn die Krimi-Handlung und Noras eigene kriminelle Vergangenheit im Vordergrund stehen, so hat das Jugendbuch doch auch durchaus sehr ernste und kritische Untertöne. Nora hat all dies, was sie als Kind verbrochen hat, nicht freiwillig getan, ihre Mutter hat sie gezwungen, mal subtiler Mal offener. Sie musste psychische wie physische Gewalt erleiden, um das Spiel ihrer Mutter mitzuspielen. Auch ihre beiden Freunde haben familiäre Gewalterfahrungen gemacht, das verbindet sie einerseits, ist aber auch das, worüber nicht offen gesprochen wird, was Kinder und Jugendliche stumm erdulden, weil man ihnen droht und sie keinen Ausweg sehen.

Ein auch für Erwachsene unterhaltsames Jugendbuch, dessen Verfilmung und Besetzung von Netflix schon angekündigt war, sich aber scheinbar unbestimmt verzögert.

Antje Rávik Strubel – Blaue Frau

Antje Rávik Strubel – Blaue Frau

In ihrem tschechischen Dorf ist Adina die letzte Jugendliche, außer den russischen Touristen kommt auch nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs kein wirkliches Leben mehr in die abgelegene Region im Riesengebirge. Nach der Schule fährt sie nach Berlin mit dem Ziel, dort erst die Sprache zu lernen und dann zu studieren. Mit der Fotografin Rickie lernt sie eine Frau kennen, die ganz anders ist als sie, offen, gewandt, die einfach tut, was sie tun möchte. Sie ist es auch, die ihr weiterhilft und ein bezahltes Praktikum mit freier Kost und Logis vermittelt, das jedoch im Desaster und einer neuerlichen Flucht endet. Nun versteckt sie sich in Helsinki, schuftet in einem Hotel, wo sie in einer Dachkammer hausen kann. Als sie dort den estnischen Professor Leonides Siilmann kennenlernt, könnte sich die Chance auf einen Neubeginn ergeben. Doch davor liegen noch Abgründe, die es zu überwinden gilt und Schluchten, die sich unerwartet auftun.

„Ich schlage deshalb vor, wie gehabt zu verfahren. Jeder von uns hat seine Schwachstellen, jeder macht Fehler. Wenn der jungen Frau etwas Schlimmes widerfahren ist, in Deutschland wohlgemerkt, muss sie sich an die entsprechenden Behörden wenden. Lasst uns aber nicht das große Ganze aus den Augen verlieren.“

Antje Rávik Strubels Roman eröffnet mit Fragezeichen. Man weiß, dass sich die junge Protagonistin versteckt, warum bleibt jedoch lange unklar. Sie ist offenkundig in einem fremden Land, sie benötigt einen Anwalt, was sie erlebt hat, muss schlimm gewesen sein. Sie will für Gerechtigkeit kämpfen und ahnt, dass dies ein ungleicher, unfairer und kaum zu gewinnender Kampf werden wird. Immer wieder taucht die blaue Frau auf, ein Geist, ein Gedanke offenbar, der Adina begleitet und leitet und Mut macht, auf dem Weg, der nicht steinig ist, sondern auf dem Felsen stehen.

Das Bild lichtet sich bald und nach und nach wird klar, dass es sich bei „Blaue Frau“ um die Geschichte einer missbrauchten, traumatisierten Frau handelt, die sich mächtigen älteren Männern gegenübersieht. Sie findet Unterstützer, doch auch diese erleben Hilflosigkeit ob der Machtstrukturen. Im großen Getriebe ist Adina nur ein Rädchen, ein ganz kleines, das keine Rolle spielt für die Maschinerie der Wirtschaft und Kultur und das doch bitte einfach funktionieren und den Betrieb nicht stören soll.

Es ist jedoch nicht nur das Einzelschicksal, das die Autorin schildert, sie setzt es in einen größeren Kontext, denn es ist Adinas spezifische Herkunft als Osteuropäerin, die jenen, die sie missbrauchen, zusätzliche Macht verleiht. Sie ist nicht Mensch zweiter Klasse – Frau – sondern dritter oder vierter Klasse, Mensch, dem keine Rechte und keine Würde zugesprochen werden. Dass sie einmal Träume hatte und ein Leben vor sich, darauf kann leider keine Rücksicht genommen werden.

Inhaltlich greift Strubel sowohl das Private wie auch europäische Fragen auf, offene Grenzen reißen nicht Mauern in Köpfen ein, ebenso wenig wie rechtliche Gleichberechtigung selbige auch in den Köpfen herstellt. Nicht chronologisch erzählt transferiert sie literarisch das Gedankenmäandern, das ganz typisch ist für Opfer von Gewalt, die sich in einem Strudel befinden und wo sich bisweilen Realitäten überlagern. Folglich ist die Nominierung auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021 keine wirkliche Überraschung, sondern notwendige Konsequenz.

Wolfgang Kaes – Das Lemming-Projekt

Wolfgang Kaes – Das Lemming-Projekt

Die andalusische Provinz hat sich von der großen Immobilienkrise 2008 nie wirklich erholt. Die jungen Menschen ziehen entweder weg oder müssen sich mit gering bezahlten Jobs unter ihrer Qualifikation begnügen. So auch der Historiker Alejandro, der in einem IT Unternehmen online Content durchsucht und alles löscht, was unter Hass, Gewalt oder Pornografie fällt. Sie alle arbeiten dort im Akkord, doch eine seiner Kolleginnen scheint zunehmend unter der Arbeit zu leiden; sie erhält, genauso auch Alejandro, immer wieder verstörende Bilder, die sich persönlich betreffen. Bei Alejandro ist es ein Foto, das er als Kind zu Hause gesehen hat. Als Maria sich das Leben nimmt, beginnt er nachzuforschen und stößt dabei nicht nur auf ein gut gehütetes Familiengeheimnis, sondern auf die Verwicklung von staatlichen Institutionen, Kirche und einer nebulösen Untergrundorganisation, die als Reconquista 2.0 das vermeintlich von Ausländern übersäte und unter einer jüdischen Weltelite leidende Land zurückerobern möchte.

Der Journalist Wolfgang Kaes ist für seine intensiven Recherchen bekannt, mit denen er bereits mehrere ungelöste Fälle aufklären konnte. Immer wieder legt er auch mit seinen Büchern den Finger in Wunden und verbindet so spannende Unterhaltung mit journalistischer Arbeit und Aufklärung. Auch sein aktueller Thriller fügt sich in dieses Schema und greift gleich mehrere heiße Eisen an: die zweifelhafte Rolle der katholischen Kirche unter Franco, die scheinbar bis heute lieber unter den Teppich gekehrt als aufgeklärt wird; im politischen Spektrum eher rechts angesiedelte Bewegungen, die mit gezielter Propaganda nach schlichten Gemütern suchen, die auf ihre simplen Erklärungsmuster hereinfallen und sich leicht instrumentalisieren lassen; die Macht der Internet-Konzerne, die mit ihren Algorithmen steuern, was die Massen zu sehen bekommen und so nicht unwesentlich die öffentliche Stimmung beeinflussen und eine neue Macht darstellen – all dies vor dem Hintergrund der prekären Situation junger Spanier, die gerade in den provinziellen Gebieten kaum mehr Zukunftschancen haben.

„Das Geheimnis des Facebook-Erfolgs ist die Sehnsucht der Menschen nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Auch Sehnsucht kann eine Sucht sein. Weltweit erliegen ihr rund 2,7 Milliarden Nutzer, die wie die Lemminge ein paar Meinungsführern und Heilsbringern hinterherhecheln.“

Alejandro weiß wenig über die Firma, für die er arbeitet, auch seine Kollegen kennt er kaum, die Vorgaben sind strikt und der Druck ist groß. Er ist ein moderner Sklave, der sich ob mangelnder Alternativen fügen muss. Seine Arbeit wird eigentlich in dritte Welt-Ländern erledigt, wo Arbeitskräfte willig und billig sind, so weit ist es inzwischen mit Spanien auch gekommen. An wen er bei CleanContent bzw. dem Mutterkonzern ThinkContent geraten ist, ahnt er noch nicht.

Doch mindestens genauso zweifelhaft ist die „Fromme Bruderschaft der Heiligen Agatha“, die als Wohltäter in der Öffentlichkeit auftritt und sich verlorener Kinderseelen annimmt, nur um diese in ihren Erziehungsanstalten gefügig zu machen, zu quälen und zu missbrauchen. Doch wer würde die bescheidenen Kirchenmänner hinterfragen, die sich ganz in den Dienste Gottes gestellt haben?

Viel spanische Geschichte findet Eingang in den Thriller, belegt aber auch, dass sich manches strukturell immer wieder wiederholt, lediglich die Medien sind andere. Und dass es einzelne mutige Menschen braucht, die sich dem Treiben entgegenstellen, für Werte wie Gerechtigkeit einstehen und bereit sind, ihr eigenes Leben für die Wahrheit und das Ende des Schweigens zu riskieren. Einmal mehr eine perfekt orchestrierte anspruchsvolle Lektüre, die thematisch komplex und dennoch spannungsreich gestaltet ist.

Juno Dawson – Meat Market

Juno Dawson – Meat Market

Die 16-jährige Jana Novak wird in einem Londoner Park von einem Modelscout angesprochen. Sie kann erst gar nicht glauben, dass das sein Ernst sein soll, ist sie doch ihr Leben lang schon aufgrund ihrer Größe dem Spott der Mitschüler ausgesetzt. Über Nacht wird das Mädchen zum Superstar der Modelszene, alle reißen sich um das außergewöhnliche neue Gesicht. Sie fliegt um die Welt, lernt berühmte Schauspieler und Models kennen und begegnet sich selbst auf Werbeplakaten auf den meistbesuchten Plätzen der Metropolen. Doch bald wird ihr auch die Schattenseite der Branche bewusst, sie ist kaum mehr zu Hause, der Kontakt zu ihren Freunden wird immer schwieriger und die Erschöpfung von viel Arbeit, viel Party und kaum ordentlicher Nahrung hinterlässt auch ihre Spuren. Glücklicherweise haben ihre Kolleginnen Mittel und Wege gefunden, damit umzugehen und versorgen auch Jana mit den kleinen Glückspillen. Doch der wirkliche Tiefpunkt steht ihr erst noch bevor…

Die Jugendbuchautorin Juno Dawson greift in ihren Geschichten genau jene Themen auf, die die Zielgruppe bewegen und denen sie oftmals eher leichtgläubig begegnen. Ihr gelingt dabei der schmale Grat zwischen erhobenem Zeigefinger und Unterhaltung und auch mit „Meat Market“ schafft sie es, den Mythos des schönen Scheins der Modewelt kräftig anzukratzen, ohne dabei wie die meckernde, besserwissende Mutti daherzukommen. Ihre Protagonistin wirkt authentisch in ihren Gedanken und auch wenn das Ende für meinen Geschmack übers Ziel hinausschießt, kann der Roman mit seiner Message doch überzeugen.

Janas Aufstieg verläuft katapultartig, heute noch Schülerin, morgen schon begehrtes Supermodel. Gedanklich kommt das Vorstadtmädchen kaum hinterher, immer noch empfindet sie sich als nicht anders als ihre Freunde, mit denen sie gerade noch die Schulbank gedrückt hat. Sie wird von einem Tsunami erfasst und in eine fremde Welt geschleudert. Gerade die Darstellung dessen, wie sie versucht, noch an dem alten Leben festzuhalten und wie doch unübersehbare Risse entstehen und sie sich zunehmend entfremdet, ist der Autorin hervorragend gelungen.

Auch wenn ich die Darstellung der Modelwelt grundsätzlich glaubhaft finde – totale Überhöhung neuer Gesichter, permanenter Druck auf die jungen Mädchen abzunehmen, versiffte Modelwohnungen, unglaubliche Summen für Fotoshootings, leichtfertiger Drogen- und Tablettenkonsum um das hohe Tempo der Branche auszuhalten – war einiges doch auch eher klischeehaft überzeichnet. Die osteuropäischen Mädchen, die sich neben dem Modeln in der Oberschicht regelrecht prostituieren, um mehr Geld zu verdienen, die eine gute Freundin in der Branche, die am Ende alles rettet und zum dem großen Sieg gegen die dunklen Mächte der Branche verhilft – das war etwas zu einfach aus meiner Sicht und verleitet zum dem Irrglauben, dass jedes kleine und naive Mädchen selbstverständlich ganz Großes bewirken kann.

Trotz der Schwächen ein lesenswerter und unterhaltsamer Roman, der es auch schaffen wird, das eine oder andere etwas verrückte Bild der Topmodel-Welt wieder geradezurücken.

Brandon Taylor – Real Life

Brandon Taylor – Real Life

Wallace ist Doktorand an einer vorwiegend von Weißen besuchten Universität im Mittleren Westen. Als Schwarzer aus Alabama hat er sich vom ersten Tag an als Außenseiter gefühlt, nicht nur im Labor, in dem er mit Nematoden arbeitet, sondern auch in seinem kleinen Freundeskreis. Er befindet sich an einem Scheideweg, stellt seine Arbeit in Frage, für die er scheinbar gänzlich ungeeignet ist und die ihm auch bei weitem nicht so wichtig ist wie seinen Mitdoktoranden, aber auch privat ist er unglücklich. Beziehungen sind schwierig, er hat eine Art Affäre mit Miller, der jedoch sein homosexuelles Dasein öffentlich leugnet. Zu dieser ungünstigen emotionalen Gemengelage kommt Wallace’ permanentes Gefühl, Rassismus ausgesetzt zu sein. Er hat diverse Erlebnisse, die ihn aufgrund seiner Hautfarbe klar in eine Schublade stecken und herabwürdigen, zugleich hat dies in ihm eine provokante Haltung befördert, mit der er aneckt und so wiederum neue Konflikte heraufbeschwört. Er wird zu einer tickenden Zeitbombe, es ist nur nicht klar, ob er explodieren oder implodieren wird.


„Eigentlich wollte er nicht die Universität verlassen, sondern sein Leben.“

Gerade von Vertreter:innen der queeren Scene in den USA ist Brandon Taylors Debütroman mit großer Begeisterung aufgenommen worden. Die Stärke von „Real Life“ liegt zweifelsohne in der Darstellung der Zerrissenheit und Isolation des Protagonisten. Der Autor überlagert verschiedene Narrative von Diskriminierung, indem Wallace sowohl als Schwarzer wie auch als Homosexueller und zudem aus einer sozial- wie finanzschwachen Familie stammt, ist er in vielerlei Hinsicht Außenseiter und Randfigur in seinem eigenen Leben. Auch für ihn selbst ist nicht immer eindeutig zuzuordnen, wogegen sich die Angriffe gerade richten, die er erlebt.

„Wallace räusperte sich. « Ich weiß würde nicht sagen, dass ich alles hinschmeißen will, aber ja, ich habe darüber nachgedacht. »

« Warum solltest du so was tun? Du weißt schon, bei den Aussichten für… für Schwarze? »“

Vom ersten Tag an ist die Universität nicht der befreiende Ort, den Wallace erwartet hatte. Immer wieder hat er Begegnungen, die wohlmeinend als unsensibel oder offengesagt als rassistisch einzuordnen sind. An seinen fachlichen Defiziten kann er arbeiten, aber irgendwann wird ihm klar, dass er nie passend sein wird für sein professionelles Umfeld, da er das Defizit Schwarzer zu sein, schlichtweg nicht ändern kann. Dies kann er ebenso wenig abstreifen wie seine Vergangenheit, die er hinter sich lassen wollte.

Die Schwierigkeiten, Vertrauen zu fassen und funktionierende Beziehungen zu führen, sind seiner Kindheit und den Erlebnissen zu jener Zeit geschuldet. Seine Eltern konnten ihm kein Vertrauen vermitteln, was seine Grundfähigkeit, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen und an das Gute zu glauben nachhaltig erschüttert ist. Zeigt er sich einerseits devot, immer bereit, seine Schuld einzugestehen, auch wenn es dafür keinen Grund gibt, kann er andererseits extrem provozieren und natürlich auch enttäuschen.

Wallace ist keine einfache, sympathische Figur. Seine destruktive Grundhaltung macht es schwer, einen Zugang zu ihm zu finden. Aber so wenig wie der Leser ist er in seinem Leben beheimatet und sicher. Man kann seine Perspektive vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen verstehen, auch wenn sie befremdlich sind, insofern öffnet der Autor eine fremde Welt für den Leser, deren Denkstrukturen vielfach näher an jener Wallace‘ Antagonisten sein dürfte. Sein Rückzug ist nachvollziehbar, zugleich jedoch auch ein Zeichen seines eigenen Egoismus und ein Stück weit auch der Verachtung, die er anderen gegenüber hegt: als nämlich seine asiatische Kollegin von ihren eigenen Rassismuserfahrungen berichtet, negiert er diese.

Ein Roman voller Emotionen, der bereichern wie auch abstoßen kann. Mit gutem Grund stand der Roman auf der Shortlist des 2020 Booker Prize, ein literarischer Beitrag zur hochaktuellen Diskussion.

Mirna Funk – Zwischen Du und Ich

Mirna Funk – Zwischen Du und Ich

Eine böse Erinnerung und plötzlich die Chance zur Flucht: Nike kann für ein Jahr ihre Arbeit beim DAAD statt in Berlin von Tel Aviv aus erledigen. Dort plant die Judaistin eine Konferenz und da sie die Voraussetzungen zur Alija erfüllt, kann sie auch problemlos in das Land am Mittelmeer übersiedeln. Die ersten Tage sind hart, doch dann lernt sie Noam kennen, der ebenso wie sie gerade einen beruflichen Schlussstrich gezogen hat. Doch sie haben noch mehr gemeinsam: Erfahrungen von Gewalt und Vertrauensmissbrauch haben sie geprägt und machen funktionierende Beziehungen nahezu zu einem Ding der Unmöglichkeit. Zwei verwandte Seelen, die wissen, wie man mit Verletzungen umgehen muss und an welchem Punkt man lieber keine weiteren Fragen stellen sollte. Aber können die beiden so einfach überwinden, was sie seit Jahren verfolgt?

Die Journalistin Mirna Funk lässt den Leser lange im Dunkeln, was es genau ist, das die beiden Protagonisten so hat werden lassen, wie man sie kennenlernt. Damit einher geht die Illusion, dass es ein Happy-End geben könnte, dass ein Neuanfang ohne Ballast möglich sei und man schlimme Erlebnisse überwinden und hinter sich lassen könnte. Doch der Rahmen, den die Autorin in ihrem zweiten Roman setzt, ist noch viel größer: nicht nur die Erlebnisse von Nike und Noam haben Spuren bei diesen hinterlassen, sie tragen auch noch den Ballast der älteren Generationen mit sich, als Enkelkinder von Holocaust-Überlebenden lastet zusätzlich die Geschichte auf ihren Schultern.

Nike und Noam werden zunächst nacheinander vorgestellt und könnten eigentlich verschiedener kaum sein: die Berliner Mitt-30erin, die beruflich mit beiden Beinen auf der Erde steht, aber emotional ins Wanken gerät, als sie zufällig ihrem Ex-Freund begegnet und sich dann entscheidet, einen Neuanfang zu wagen. Einfach so in ein Land zu ziehen, das sie noch nie besucht hat, erfordert Mut und Tatendrang – doch schon kurz nach ihrer Ankunft werden alte Wunden wieder aufgerissen und man erfährt, was sie eigentlich gedanklich zurück in Deutschland lassen wollte.

So sympathisch Nike erscheint, so unsympathisch wirkt Noam von Beginn an auf mich. Ein völlig überhöhtes Ego, sein rücksichtloser Umgang mit Frauen und eine Art Jagdinstinkt, der ihn auf Nikes Spur leitet, lässt Schlimmes befürchten. Doch die Begegnung scheint in ihm etwas Anderes auszulösen, er kann sich zu dem Partner entwickeln, der er eigentlich immer sein wollte:  verständnisvoll, das Positive sehend und die eigenen Bedürfnisse zurückstellen.

Wird jedoch der Mechanismus erst einmal in Gang gesetzt, lässt sich das Unglück nicht mehr aufhalten. Als Leser ahnt man, was geschehen wird, welches Ende es nehmen wird und hofft doch, dass irgendein Hindernis alles aufhalten könnte. Die Spirale der Gewalt dreht sich und es bleibt letztlich nur noch die Frage, wie schlimm die Verwüstung sein wird, die diese anrichtet.

Kein Wohlfühlroman, eher einer, der eine Triggerwarnung verdient hätte, da so manch ein Leser mit ähnlichen Erfahrungen hier an eigene Erlebnisse erinnert werden könnte. Nichtsdestotrotz eine lesenswerte Geschichte, da es der Autorin hervorragend gelingt, zum einen Dynamiken in der Interaktion aufzuzeigen, die unweigerlich zu einer Eskalation führen und sie ebenso ein toxisches Männlichkeitsbild mit seinen ganz eigenen Regeln vorführt, das jedoch auch seine Gründe hat – die jedoch zum keinem Zeitpunkt als Entschuldigung herangezogen werden. Spannend fand ich die im Roman aufgerissene Frage, inwieweit Kinder die Erlebnisse der Eltern ebenso verinnerlichen und diese auch ihr Leben bestimmen. Erzählerisch überzeugend und thematisch ganz sicher einer DER Romane der Gegenwart.

Michaela Kastel – Ich bin der Sturm

Michaela Kastel – Ich bin der Sturm

Mit einer List kann sie dem Martyrium entfliehen. Jahrelang wurde die junge Frau, die alle nur Madonna nennen, in einem Kerker festgehalten und von Männern, die dafür bezahlten, auf alle erdenklichen Weisen misshandelt. Sie war nicht allein, zahlreiche Schicksalsgenossin teilten ihr Leid bis sie den Gnadentod fanden. Endlich in Freiheit geht Madonna auf die Suche nach dem Mann, der das Ganze zu verantworten hat, dem sie einst Glauben schenkte und der sie so enttäuschte. Ihr Weg ist lang und blutig, aber darauf kann sie keine Rücksicht mehr nehmen, denn sie will Rache. Und sie will wissen, wer sie eigentlich ist, wo sie herkommt und was es mit den bruchstückhaften Kindheitserinnerungen auf sich hat.

Michaela Kastels Romane „So dunkel der Wald“ und „Worüber wir schweigen“ konnten mich restlos begeistern Entsprechend hoch waren meine Erwartungen an ihren aktuellen Thriller, der diese für mich jedoch leider nicht erfüllen konnte. Das Thema Zwangsprostitution hat ohne Frage Potenzial für einen herausfordernden Roman, allerdings ist für mich die Geschichte eine Ansammlung von brutalen Gewaltakten, mehr oder weniger lose hintereinander gereiht und getragen von einer Protagonistin, die mir nur sehr begrenzt glaubwürdig erscheint und eher einem wilden Comic entsprungen zu sein scheint.

Eine Frau auf Rachefeldzug kann funktionieren, aber so wirklich stimmig wirkt Madonna für mich als Figur nicht. Die offenkundigen Erlebnisse so locker wegzustecken und sie hinter die vermeintliche Härte zurückzudrängen, ist für mich nicht plausibel, vor allem nicht vor dem Hintergrund der großen Erinnerungslücken aus der Kindheit, die auf hochtraumatische Erlebnisse schließen lassen. Auch die körperlichen Misshandlungen haben offenbar kaum wirkliche Folgeerscheinungen, was mich nicht überzeugt. Bei der Figur gibt es keine Entwicklung und nur wenig Nuancen, auch die anderen sind mir zu eindimensional, um zu überzeugen. Die Handlung besteht im Wesentlichen aus exzessiven Gewaltausbrüchen und am Ende einer knappen Auflösung, die zwar durchaus logisch ist, aber leider für mich auch nichts mehr rettet.

Karin Kalisa – Radio Activity

karin kalisa radio activity
Karin Kalisa – Radio Activity

Nachdem sie fluchtartig die USA und ihre Tanzcompagnie verlassen hat, kehrt Nora in ihre Heimatstadt und die Wohnung ihrer Mutter zurück. Neben dem Talent fürs Tanzen hat sie auch eine außergewöhnliche Stimme, geradezu perfekt fürs Radio und so plant sie mit zwei Freunden einen eigenen Sender. Auf 100,7 werden sie als Tee und Teer – Meer Radio der Ostfriedenküste einen neuen Sound einflößen. Aber Nora hat noch eine zweite, heimliche Agenda, die sie mit dem Sender verfolgt. Jahrzehntelang hatte ihre Mutter geschwiegen, erst auf dem Sterbebett hat sie ihr ein schreckliches Vergehen anvertraut, das zu berichten sie als Kind nicht in der Lage war: der Missbrauch durch ihren Nachhilfelehrer, einen angesehenen Bewohner der Stadt. Da das Recht nicht auf Noras Seite ist, hat sie einen nachhaltigen Plan der Rache entwickelt und dieses Mal soll nicht verschwiegen, sondern öffentlich bekannt gemacht werden.

Karin Kalisas Roman beginnt eigentlich eher heiter mit der zunächst nur gealberten Idee eines Senders, die dann aber zunehmend konkreter wird und den Figuren, genau wie dem Leser, unheimlichen Spaß bereitet. Ganz heimlich schleicht sich jedoch ein zweiter Plot ein, der um den nicht gesühnten Missbrauch und mit diesem wandelt sich auch die Stimmung von heiter-locker zu trüb-melancholisch. Man begleitet Noras Mutter in den letzten Stunden, in denen sie endlich bereit ist, über das zu sprechen, was man ihr angetan hat. Der Autorin gelingt es trotz dieser doppelt schweren Thematik, den Leser emotional nicht in ein Loch fallen zu lassen, denn die Protagonistin selbst wird nun aktiv und vor allem kreativ, um diese Tat nicht einfach mit dem Sarg der Mutter für immer zu begraben. Ein Thema, über das nicht leicht zu schreiben oder sprechen ist, das in diesem Roman aber von unterschiedlichen Seiten beleuchtet und auch informativ in die Handlung eingebaut wird, ohne diese zu erdrücken.

«Natürlich haben wir miteinander gesprochen – wie man eben miteinander spricht, wenn man zusammen in einer Schule, aber nicht befreundet ist. Über Noten und Lehrer. Aber darüber, nein, darüber haben wir nicht gesprochen.»  «Wenn ihr euch zusammengetan hättet, hättet ihr ihn fertigmachen können», sagte Nora. Ihre Mutter schwieg. «Wenn wir uns nicht so geschämt hätten, es auszusprechen», sagte sie dann. Voreinander. Jede eine Zeugin der anderen.

Noras Mutter teilt ein Erlebnis, wie es leider vielfach vorkommt und verschwiegen wird, durch Druck und Scham bleiben Täter oft unentdeckt und ganz häufig passiert es quasi vor den Augen der Eltern und Lehrer. Nein, das ist eigentlich keine Thematik, über die man an einem heißen Sommernachmittag lesen möchte. Doch, es ist eine Thematik, über die geschrieben und gesprochen werden muss, um den Opfern eine Stimme zu geben und den Danebenstehenden die Augen für das zu öffnen, was sie sehen können, wenn es schon nichts zu hören gibt. Gerade unter diesem Gesichtspunkt finde ich es hilfreich, wenn Literatur sich solcher Themen annimmt; sie erlaubt es, sie als Fiktion ein Stück weit von einem zu schieben, über die Empathie, die man mit den Figuren empfindet, aber auch ein Verständnis für die Not und die Dringlichkeit zu entwickeln – und vielleicht auch dem einen oder anderen Betroffenen Mut zu schenken.

Wunderbare, eigensinnige Figuren bringen die Handlung voran. Es sind die Introvertierten und oft Unscheinbaren, die hier Großes bewegen. Dabei begleitet einem die Autorin auf einer emotional hohen Welle, die einem jedoch gemächlich wieder in sichere Gewässer leitet. Vielschichtig und tiefgründig, dabei sprachlich auf den Punkt und federleicht. Und was bleibt am Ende: die Hoffnung, dass es immer genügend Menschen mit (vielleicht nicht ganz so viel krimineller) Energie, Kreativität und vor allem Mut gibt.

Edna O’Brien – Das Mädchen

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Edna O’Brien – Das Mädchen

Gerade noch ist die Welt der Schulmädchen in Ordnung, doch von einer Sekunde auf die nächste ist nichts mehr so wie es war. Die Milizionäre von Boko Haram überfallen sie und bringen die Schülerinnen in ein Camp im Dschungel. Dort erwarten sie Misshandlungen, Vergewaltigungen, Beschimpfungen und Verachtung. Sie sollen bekehrt werden, konvertieren zum rechten Glauben und Kindersoldaten produzieren für den Kampf der Gotteskrieger. Maryam und Buki sind zwei von ihnen, die die Qualen erdulden müssen, innerlich sterben, um das, was man ihnen äußerlich antut, aushalten zu können. Gemeinsam gelingt ihnen die Flucht und mit Maryams Tochter Babby begeben sie sich auf den langen und beschwerlichen Weg nach Hause. Die Mädchen sind nicht mehr, wer sie waren und auch die Überlebenden ihrer Dörfer sehen sie nicht mehr als die Töchter, die ihnen einst gestohlen wurden.

Edna O’Brien verarbeitet in ihrem Roman das Schicksal der 276 Chibok Mädchen, die im April 2014 von Boko Haram entführt wurden, was weltweit für Aufsehen gesorgt hatte. Sie schildert unverblümt das, was sie in der Gefangenschaft erleben, was sowohl die physischen Misshandlungen aber auch die psychologischen Indoktrinationen mit ihnen tun. Viele der Mädchen bleiben namenlos, beispielhaft für das Schicksal vieler folgt die Erzählung Maryam, die trotz aller Widrigkeiten einen Weg findet, die Situation auszuhalten, weiterzukämpfen und nicht aufzugeben, sondern auf den Morgen und einen besseren Tag zu hoffen.

„Es liegt nicht in unserer Macht, etwas zu ändern“, sagte sie (…).

„Warum nicht?“, fragte ich.

„Weil wir Frauen sind.“

Gerade wurde global der Weltfrauentag gefeiert, die Lebenswelt der nigerianischen Mädchen und Frauen ist weit davon entfernt, ihnen Rechte oder gar Gleichberechtigung einzuräumen. Die Grausamkeiten, die Maryam in Gefangenschaft erleidet, sind nur ein Teil der Erzählung. Nach ihrer beschwerlichen und gefährlichen Rückkehr muss sie erleben, dass sie auch in ihrem Heimatort, ja sogar in ihrer eigenen Familie nicht mehr wirklich willkommen ist. Man nimmt ihr ihr Kind weg, das das Blut des Teufels in sich trägt und macht Maryam selbst mitverantwortlich für das, was man ihr angetan hat. Die Umkehr des Opfers zum Täter ist fast noch perfider als die Gräueltaten der Entführer.

Bisweilen könnte man beim Lesen den Glauben an die Menschheit verlieren, so wie eine der Figuren resigniert feststellt, dass die menschliche Natur teuflisch geworden sei und die Welt nicht mehr die sei, die es mal gab. Aber Edna O’Brien liefert auch die Gegenbeispiele, Buki, die Maryam bei der Flucht nach Kräften unterstützt, der Hirtenstamm, der sie temporär aufnimmt und beschützt und letztlich die Nonnen, die sie und ihr Kind so annehmen, wie sie sind. Maryam fühl sich bisweilen innerlich tot, von jedem Lebenswillen verlassen und doch bleibt am Ende Hoffnung, dass sich alles zum Guten wenden kann. Auch wenn Maryams Mutter nicht an die Macht der Frauen glaubt, ist es aber vielleicht die nächste Generation, die vor dem Hintergrund ihrer eigenen und auch der kollektiven Erfahrungen die Welt zu einem besseren Ort verändern wird können.