Yoko Ogawa – The Memory Police

Yoko Ogawa – The Memory Police

Eine unbenannte Insel, abgeschnitten vom Rest der Welt. Die Protagonistin ist Autorin und seit dem Tod ihrer Eltern alleine und zurückgezogen in ihrem Elternhaus. Über der Insel liegt ein Fluch, der die Menschen nicht nur vieles vergessen, sondern vor allem immer wieder Dinge verschwinden lässt. Vieles fällt fast gar nicht auf, bei anderen Dingen arrangiert man sich und hat bald schon keine Erinnerung mehr daran, dass es sie einmal gab. Einige Menschen jedoch können nicht vergessen und wissen, was verloren geht. Sie werden von der Memory Police systematisch aufgespürt und verschleppt, wie die Mutter der Protagonistin. Auch ihr Lektor ist davon bedroht, weshalb sie ihn kurzerhand in ihrem Keller versteckt. Mit Hilfe ihres alten Nachbarn versuchen sie, dem Schicksal zu entkommen und immer wieder gibt es kleine Momente, die Vergangenes aufblitzen lassen, aber das Schicksal, das ihnen droht, scheint letztlich unausweichlich.

Yoko Ogawa ist seit dem Ende der 1980er Jahre in ihrer japanischen Heimat eine vielbeachtete und ausgezeichnete Autorin. Der dystopische Roman „The Memory Police“ (dt. Titel: „Insel der verlorenen Erinnerung“) erschien bereits 1994, wurde aber erst 2019 ins Englische übersetzt, womit er auch der westlichen Welt zugänglich, mit Begeisterung aufgenommen und für zahlreiche namhafte Literaturpreise nominiert wurde. Der Roman wird vor allem von der düsteren Atmosphäre getragen, die auf das Ende der Menschheit hindeutet und in der scheinbar nichts die drohende Auslöschung, samt aller Erinnerung an das, was einmal gewesen ist, aufhalten kann.

Die Autorin wählt ein klassisches Szenario, in dem sie ihre Geschichte ansiedelt. Es gibt scheinbar keine Welt außerhalb der Insel, die Kontrolle durch den Staat und die Memory Police ist streng und erbarmungslos. Es kann jeden jederzeit treffen, selbst wer ein unauffälliges Leben gemäß den Regeln führt, kann sie nie ganz in Sicherheit wähnen. Ein paar Auserwählten jedoch ist ein anderer Blick gegönnt, der sie in größte Gefahr bringt.

Ogawas Stil ist schnörkellos und passt zu der unbarmherzigen Umgebung, die nach dem Verlust der Kalender für immer im kalten Winter feststeckt. Die Protagonistin versucht dennoch Routinen aufrechtzuerhalten, auch wenn dies immer schwieriger wird, denn als Schriftstellerin ist sie auch Worte angewiesen, die jedoch mit dem Verschwinden der Dinge immer weniger werden. Die Welt reduziert sich sukzessive. Die Handlung spielt fast ausschließlich in dem kleinen Haus und beschränkt sich weitgehend auf die drei Figuren während die Welt außerhalb verschwindet. Tiere, Pflanzen und bald auch der Mensch.

Die Auslöschung der Welt – bei Yoko Ogawa ist es eine undefinierte Kraft, die jedoch von Menschen unterstützt wird. Kein Vögel mehr? Egal, sind ohnehin bald vergessen. Sprache? Ist auch verzichtbar. Drastisch führt sie uns vor, wohin die Reduktion des Lebensraums führt, was wir mit der Umweltzerstörung riskieren zu verlieren und wie wir unser eigenes Habitat unmenschlich gestalten – bis wir selbst uns letztlich auslöschen. Ein eindrucksvoller Roman, der in bester Tradition des Genres steht und dieses überzeugend ergänzt.

Zoë Beck – Paradise City

Zoë Beck Paradise City
Zoë Beck – Paradise City

Erst ihr Chef und Liebhaber Yassin, dann auch noch Kaya, eine weitere investigative Journalistin. Liina und Özlem wird schmerzlich bewusst, dass irgendetwas nicht stimmt. Sie arbeiten in einer geheimen Agentur, die sich der Wahrheit verpflichtet hat und das veröffentlicht, was die Staatspresse versucht zu verheimlichen. Wie den seltsamen Tod einer Frau in der Uckermark, die scheinbar von einem wilden Tier zu Tode gebissen wurde. Doch vor Ort wollen die spärlichen Informationen, die sie zusammentragen können, einfach kein stimmiges Bild ergeben. Es muss mehr dahinterstecken. Für Liina wird der Stress lebensbedrohlich, denn ihre Herzschwäche verträgt Unregelmäßigkeiten nicht gut und gerade sie muss besonders aufpassen, denn in ihrem Körper schlägt ein ganz besonderes Organ, von dem ebenfalls wiederum niemand etwas wissen darf.

Zoë Becks neuester Roman verbindet unterschiedlichste aktuelle Themen der letzten Jahre: die zunehmende Technologisierung, die eine totale Überwachung der Bevölkerung ermöglichen könnte; ein Staat, der die Presse und Informationsveröffentlichung kontrolliert, um so die Bürger in Schach zu halten; ein Gesundheitsglaube, der alles, was nicht der optimierten Norm entspricht, versucht auszusortieren; die Folgen des Klimawandels, die weite Teile der Küstengebiete unbewohnbar machen; medizinische Forschung, die die Grenzen des ethisch vertretbaren immer weiter ausreizen. Im Zentrum eine rebellische junge Frau, die ihr Leben riskiert, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen und die all jene Ideale vertritt, die man mit Gruppierungen wie Anonymus oder Extinction Rebellion in Verbindung bringt.

Die lange Aufzählung lässt bereits erahnen, dass das alles zu viel ist für einen Thriller, der nicht einmal 300 Seiten hat. Die dystopische Anlage des Staates bleibt für mein Empfinden zu diffus, um zu überzeugen. Es gibt nur noch Megacities, deren Entstehung sich nicht wirklich erklärt, auch ist nicht ganz klar, wo die Grenzen des Staates verlaufen, was drumherum ist, wo Konstrukte wie die EU geblieben sind oder weshalb sie verschwanden. Ist dieser nebulöse Staat mit seiner Totalüberwachung und Pressekontrolle das böse Feindbild oder ist dies doch eher die medizinische Forschung? Angedeutet werden Massen- und Grippepandemien, aber sie bleiben zu nebensächlich, genauso wie die Gruppe der „Parallelen“, die sich rebellisch der verordneten Lebensweise entziehen.

Die Protagonistin Liina ist durchaus interessant angelegt, steckt sie ganz persönlich in dem Konflikt rund um die medizinische Versorgung, hat einerseits davon profitiert, wird aber auch zu deren Opfer. Sie genauso wie ihre Kollegen der geheimen Journalisten können mich jedoch nicht wirklich für sich gewinnen, sie sind mir zu schemenhaft und oberflächlich gezeichnet, um authentisch und überzeugend zu wirken.

Es entsteht zwar so etwas wie Spannung, aber ich hatte mehr den Eindruck wie ein blindes Huhn mal in diese, mal in jene Richtung zu rennen, nichts wirklich zu erkennen und plötzlich vor einem großen Verschwörungsfinale zu stehen. Das Grundgerüst der Handlung hätte mehr hergegeben, so hat es auf mich wie eine etwas lieblose Aneinanderreihung von zu vielen Themen gewirkt, die einfach nicht zu einer unterhaltsamen, spannenden Geschichte verschmelzen wollen.

Margaret Atwood – Die Zeuginnen

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Margaret Atwood – Die Zeuginnen

Fünfzehn Jahre nach dem ungewissen Ende von Desfred ist in Gilead wieder Ordnung eingekehrt. Doch immer noch wirkt das Ereignis nach, denn die Suche nach der Tochter Desfreds ist aktiv wie eh und je. Man vermutet sie in Kanada, wo sie bei Mitgliedern der Geheimorganisation Mayday untergekommen sein könnte. In Gilead folgen die Dinge derweil dem regulären Gang, junge Mädchen werden zu Ehefrauen oder Mägden, einige, wie Agnes und Becka stellen die nächste Generation der Tanten. Die Richterinnen, Ärztinnen und andere Frauen, die einst glaubten, sich ihrer natürlichen Pflicht entziehen zu können und dann erkennen mussten, dass die göttliche Ordnung Gileads nur zu ihrem Vorteil ist und dass sie es sind, die dafür sorgen müssen, dass der weibliche Teil der Bevölkerung dies auch versteht, führen die Mädchen und Frauen mit eiserner Hand. Doch es gibt einen Maulwurf, das System wird von innen heraus bedroht und wird dieses Mal einen herben Schlag erleben.

Fast 35 Jahre sind vergangen seit Margaret Atwood ihre feministische Dystopie „Der Report der Magd“/„The Handmaid’s Tale“ veröffentlichte und damit DAS Werk des Genres geschaffen hat. Vor allem das offene Ende hat viele Leser*innen etwas unzufrieden das Buch zuklappen lassen. Mit „Die Zeuginnen“/ „The Testaments“ wird diese Lücke nun geschlossen. Erzählt wird im Wechsel aus drei Perspektiven: Desfreds Tochter Agnes, die in Gilead adoptiert wurde und nun auf die Ehe vorbereitet werden soll; Daisy, die aus Gilead geschmuggelt wurde und in Kanada aufwuchs und Tante Lydia, die einst eine unabhängige Richterin war, sich dann aber ergeben hat und Gilead in seinen Grundzügen mit aufbaute.

Ist die Atmosphäre im Report der Magd geprägt von düsterner Aussichtslosigkeit, hat man bei den Zeuginnen viel mehr den Eindruck, dass es den Frauen gelingt, sich zu emanzipieren und das System für ihre Zwecke zu nutzen und zu unterwandern. Auch wenn es Figuren gibt, die den Glauben an die schlechte Natur der Frau verinnerlicht haben und sich durch und durch als Sünderinnen begreifen, wird nun ein Gegenpol aufgebaut, der Hoffnung gibt.

Die Stärke des ersten Bandes lag unter anderem darin, dass man die enge Perspektive Desfreds einnehmen musste als Leser, dass man unmittelbar ihre Erfahrungen teilte und keinen Überblick über das große Ganze hatte. Dies trug maßgeblich zu dem unbehaglichen Gefühl bei, das einem bei der Lektüre begleitete. Dieser Faktor fehlt nun, zwar wird vieles etwas klarer, aber dafür opfert Atwood ein Stück der Empathie, die man für die Figuren empfinden könnte. Durch die Aufteilung auf drei verschiedene Sichtweisen wird auch die Bindung nicht in dem Maße aufgebaut, wie es bei Desfred war und vieles an Gilead verliert seinen Schrecken. Es gibt zwar wieder furchtbare Vorkommnisse – Vergewaltigung, Missbrauch, Mord und deren Bestrafung ist nicht minder grausam – aber alles wird mit einem Schritt mehr Abstand betrachtet.

„Die Zeuginnen“ punktet auf einer anderen Ebene: man hat mehr Einblick in die Strukturen Gileads und auch wie diese unterwandert werden. Und trotz aller Fiktion sind wiederum auch Parallelen zu unserer Realität auszumachen. Wenn es für mich auch nicht an das große Werk Atwoods heranreicht, dennoch ein überzeugender und lesenswerter Roman, der keineswegs zu spät kam, sondern im Gegenteil heute bitter nötig war denn je.

Sibylle Berg – GRM. Brainfuck

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Sibylle Berg – GRM. Brainfuck

England nach dem Brexit. Der Klimakollaps hat das Land noch nicht eingeholt, das ist aber auch die einzige Katastrophe, die nicht über das Königreich hereingebrochen ist. Die Armen werden ärmer, die Reichen werden reicher, die Kinder und Jugendlichen sind chronisch vernachlässigt bis misshandelt, die Bevölkerung wird totalüberwacht, das Gesundheitssystem am Ende, Arbeit gibt es kaum mehr, die Computer mit ihren Algorithmen haben die Kontrolle übernommen. Vier Jugendliche, fast noch Kinder, schließen sich zusammen zu einer Zweckgemeinschaft, einem Familienersatz, und suchen nach dem Glück, das die Erwachsenen ihnen sicher nicht bieten können.

Sibylle Berg ist als Autorin bekannt, die vor harten Themen nicht zurückschreckt und mit scharfem Ton den Finger in Wunden zu legen weiß. Auch „GRM“ besticht durch eine bisweilen geradezu brutale Sprache, die nichts beschönigt, wo es nichts mehr zu beschönigen gibt, sondern die harten Wahrheiten beim Namen nennt. Die Begründung der Jury des Schweizer Buchpreises 2019 bringt schon so ziemlich alles auf den Punkt, was es zu dem Roman zu sagen gibt:

„In ihrem Roman «GRM» treibt Sibylle Berg den entfesselten Neoliberalismus auf die Spitze und attackiert eine moralisch verkommene Zwei-Klassen-Gesellschaft mit ihrer eigenen entfesselten Fantasie. Dieser Entwicklungsroman ist eine Mind Bomb von emotionaler Wucht.“

Die Geschichte befindet sich irgendwo zwischen Dystopie und beißender Satire und ist aufgrund des harten Tones, der zur Handlung hervorragend passt, keine leichte Lektüre. Die schlimmsten Auswüchse einer Gesellschaft treibt Berg einfach noch ein bisschen weiter: noch mehr Überwachung, noch mehr Gewalt (die nun auch gar niemanden mehr zu interessieren scheint), noch mehr Drogenrausch. Das Männer- und Frauenbild bewegt sich indes rückwärts und wird letztlich nur noch reduziert auf die Dichotomie „er bestimmt-sie untergibt sich“.

„Auch Rochdale wurde unerfreulich. Immer mehr Menschen bewaffneten sich, täglich gab es Schlägereien. Schwule wagten sich nach Einbruch der Dämmerung nicht mehr auf die Straßen, Frauen dito. Aber das nur am Rande, am Rande der Welt, die in eine neue Phase der Widerwärtigkeit taumelte. Ja, es ging allen besser.”

So bösartig und zynisch die Figurensteckbriefe erscheinen, reduziert und zugespitzt auf den Punkt, so sehr wachsen einem die vier Jugendlichen ans Herz.

„Die Kinder gehörten zur neu definierten Generation Z. Das Ende des Alphabets. Das Ende der Nahrungskette, gut erforscht, um Produkte besser verkaufen zu können. Sie waren die zweite Welle von Digital Natives. Körperlich verbunden mit digitaler Technologie, waren sie in Ermangelung irgendeiner Perspektive zur Darsteller-Generation geworden.”

Don, Peter, Hannah und Karen sind alle auf ihre Weise Außenseiter, von ihren Familien vergessen, von der Welt gemieden haben sie nur noch sich.

Ein Roman, der an die Substanz geht und doch in all seiner Drastik notwendig ist, damit niemand sagen kann, man hätte es ja nicht vorher wissen können. Für mich an mancher Stelle etwas zu viel, aber vermutlich hat es genau das gebraucht: ein Milieu, über das man nicht lesen will; Gewalt, die man nicht ertragen kann; eine Politik, die jede Menschlichkeit verloren zu haben scheint.

Sam Byers – Schönes Neues England

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sam Byers – Schönes Neues England

London war gestern, heute trended die Provinz. So wie Edmundsbury mit seinem Technologie Park und den zahlreichen ansässigen IT Firmen. Darunter auch The Arbor, eine Firma, die per Gamification das Maximum aus ihren Mitarbeitern herausholt. Sie ist es auch, die aus einer heruntergekommenen Wohnanlage eine lebenswerte und voll automatisierte Luxus-Siedlung gestalten will. Die Politiker brüsten sich mit dem Deal, doch nur so lange, bis die Kehrseite publik wird. Die armen, kleinen Leute, die dafür weichen müssen. Ein Scoop für Journalisten wie Robert Townsend, der in unmittelbarer Nähe wohnt und plötzlich genau die Menge an Internet Aufmerksamkeit erhält, von der er immer geträumt hat. Dass er sich dafür von seiner Freundin entfremdet, bemerkt er kaum im medialen Höhenflug. Ein großes Projekt, das plötzlich auf Widerstand stößt und die Stimmung aufheizt, eine Welt, die mehr online als offline stattzufinden scheint und in der Beziehungen fragil wie nie zuvor sind.

Sam Byers entwirft eine Welt, die man irgendwo zwischen Dystopie und bösartiger Satire einordnen möchte, aber die zu real scheint, um sie nur als Fiktion wahrzunehmen. Die Mechanismen, die er entlarvt, sind die, denen wir tagtäglich begegnen; das Verhalten seiner Figuren ist symptomatisch für unsere medial gesteuerte Welt. Ein erschreckendes Szenario, das womöglich von der Realität bereits überholt wurde, ohne dass wir uns dessen bewusst wären.

Es gibt viele interessante Aspekte, die allesamt auffällig authentisch wirken und so den fiktionalen Anstrich verlieren. Die Hightech Firma, die die Infrastruktur einer Siedlung erneuern möchte und deren Absichten bestens verschleiert sind, so sehr, dass selbst leitende Mitarbeiter keinen Überblick darüber haben, woran sie eigentlich arbeiten. Die Bewohner jenes Fleckchens, die man systematisch bedrängt und bedroht und denen wenig subtil das Verschwinden nahegelegt wird. Politiker, die aus der Not der Leute Profit zu schlagen versuchen und nur den Blick auf die nächste Wahl richten. Der Reporter, dem es weniger um Inhalte als um Klicks geht und der erkennt, dass er erst dann ganz oben angekommen ist, wenn er ausreichend viele Hassmails und Morddrohungen bekommt. Daneben anonyme Gruppen, die sich hinter Pseudonymen und Avataren verstecken und durch gezielte Provokation Stimmung machen.

Man rauscht durch die Geschichte und erkennt unsere Welt wieder – in jeder absurden Szene. Besonders die Mechanismen, die in der online Welt greifen fand ich faszinierend, wie etwa die simple Möglichkeit, sich mehrere Identitäten zu erschaffen und diese gezielt einzusetzen. Auch der schmale Grat zwischen Bewunderung und nicht mehr nur verbalem Hass wird glaubwürdig aufgezeigt. Die Dynamiken des Netzes bestimmen nicht nur das Handeln, sondern sogar das Denken.

„Wie war es so weit gekommen? Ihr wurde wieder bewusst, wie nahe sie sich einmal gewesen waren – und dass sie über dasselbe Medium Intimitäten ausgetauscht hatten, das sie heute nutzten, um einander zu verletzen.“

Das globale Netz hat die Welt zusammenrückenlassen und verkleinert, doch nun droht es in das Gegenteil umzuschlagen und zu entfremden. Auf der menschlichen Ebene eine wirklich nachdenklich stimmende Entwicklung, die Sam Byers hervorragend literarisch umgesetzt hat.

„War das nicht mehr normal? Sollte er sich für so was neuerdings entschuldigen?“

Es gibt noch eine hochaktuelle Nebenhandlung um einen Politiker, die genial eingebaut wurde, deren absurde Wirklichkeitsgetreue fassungslos macht. Das Zitat verrät nicht, worum es geht, aber allein nur für diesen Handlungsstrang hat die dazugehörige Figur hat der Autor alle Sterne, die man vergeben könnte, verdient.

Neal Shusterman/Jarrod Shusterman – Dry

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Neal Shusterman/Jarrod Shusterman – Dry

Und plötzlich kommt kein Wasser man aus dem Wasserhahn. Ganz Orange County ist stillgelegt, geradezu ausgetrocknet und das Mitten im Sommer. Alyssa und ihre Eltern nehmen das Problem noch nicht so ernst, es wird nur ein paar Stunden dauern, bis alles wieder reibungslos funktioniert. Doch sie irren sich. Der Tap out ist kein kleines, sondern ein großes Problem und bald schon fehlt nicht nur das Wasser zum Duschen, sondern vor allem die Flüssigkeit zum Trinken. Aus einer kleinen Unannehmlichkeit wird ein Kampf ums Überleben, den nur die Stärksten gewinnen können. Und dabei zeigt sich auch das hässliche Gesicht der Menschen gnadenlos.

Neal Shusterman hat zusammen mit seinem Sohn Jarrod eine hochaktuelle Dystopie für Jugendliche verfasst. Im Zentrum steht eine Gruppe Teenager, die allein ums Überleben kämpfen müssen. Das Szenario wirkt dabei nicht nur glaubwürdig, sondern in Anbetracht aktueller Entwicklungen erschreckend real, so dass der Text nicht nur durch die Bedrohung, der die Gruppe ausgesetzt ist, sondern vor allem durch das Potenzial in der Wirklichkeit einen tiefen Eindruck hinterlässt.

Neben der Grundproblematik und dem Überlebenskampf spielt die Geschichte auch mit Fragen um Freundschaft und dem Erhalt von Idealen und Werten in einer Krisensituation. Wie weit ist der einzelne bereit zu gehen, um sein Leben vor das der anderen zu stellen? Welche Gefahr geht man ein, um Verbündete zu schützen? Die Zweckgemeinschaft um Alyssa, ihren Bruder Garret und den Nachbarn Kelton fand ich in dieser Konstellation ergänzt um Henry und Jacqui, die später hinzustoßen, überzeugend und ausreichend facettenreich, so dass für viele Leser eine Identifikationsfigur zu finden sein dürfte. Die Handlung wird durch die über ihr schwebende Bedrohung immer weiter vorangetrieben, so dass sich die Jugendlichen permanent auf der Flucht und in neuen Krisensituationen befinden. Auch das fand ich insgesamt stimmig und überzeugend.

Abzug gibt es für einen Punkt, der mir wirklich zu schwach war: keiner der Jugendlichen bricht zusammen oder gibt auf. Selbst als die Eltern spurlos verschwinden und sie davon ausgehen müssen, dass diese tot sind, wird kaum eine Träne vergossen. Nicht nur dass mir das sehr unrealistisch vorkommt, es unterstützt auch das falsche Ideal des immer starken Menschen, der alles aushält und keine Schwäche zeigen darf. Die Bindungen zu anderen sind offenbar so schwach, dass ein Schulterzucken genügt, um deren Tod zu verarbeiten. In herausfordernden Situationen funktionieren viele Menschen sehr gut und brechen erst später zusammen, dass dies in so einem Ausmaß aber Kindern gelingen soll, erscheint mir doch eher utopisch. Nichtsdestotrotz ein insgesamt überzeugendes Jugendbuch.

John Lanchester – Die Mauer

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John Lanchester – Die Mauer

Zwei Jahre Dienst hat er vor sich, zwei Mal 365 Tage Ödnis und Verzicht, die Joseph Kavanagh wie alle anderen auch hinter sich bringen muss. Es geht nicht anders, sie müssen die Mauer beschützen, dafür sorgen, dass die Anderen nicht hereinkommen und ihr Land überrennen. Das ist der Preis des großen Wandels. Der Anfang ist hart, doch bald schon gewöhnt er sich an den Dienst und die damit verbundenen verlässlichen Routinen. Ein steter Wechsel von Wachen und Ruhen, nur durch Übungseinheiten unterbrochen, die ihre Aufmerksamkeit stärken und ihre Kampfkraft für den Ernstfall erhalten sollen. Der Ernstfall, auf den man immer gefasst sein muss, der aber nie eintreten soll. Doch dann ist es plötzlich so weit.

Die Kurzbeschreibung zu John Lancasters Roman war vielversprechend. Sie erweckte für mich den Anschein als wenn der Autor die aktuellen Ereignisse um die vermeintlich unkontrollierte Zuwanderung oder auch das Abschotten der Briten gegenüber Migranten, aber auch gegenüber der EU, als Anlass für eine Dystopie genommen hätte. Leider bleibt das Buch jedoch hinter jeder politisch und auch gesellschaftlich relevanten Frage zurück, sondern beschränkt sich weitgehend auf die Figurenebene und die unmittelbaren Auswirkungen des sogenannten Wandels auf diese. Das große Ganze können sie nicht überblicken, weshalb auch der Roman für mich hinter seinen Möglichkeiten bleibt.

Ohne Frage gelingt es Lancaster, die Empfindungen vor allem Joseph Kavanaghs überzeugend darzustellen. Die Figur wirkt glaubwürdig und authentisch, auch wenn ihre Vergangenheit weitgehend ausgeblendet und Kavanagh auf die unmittelbare Gegenwart beschränkt wird. Das Leben in der neuen Zweckgemeinschaft, das Überleben nach dem Überfall – all dies wirkt in sich stimmig und nachvollziehbar. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kavanagh und seine Weggefährten letztlich kleine Figuren in dem Spiel sind, die unbedeutend, gar verzichtbar sind und weder einen Einfluss auf die Geschehnisse nehmen, noch erkennen, was um sie herum geschieht. So austauschbar sie in dem neuen System sind, so irrelevant bleibt letztlich der Roman, der aufgrund der Reduktion auf diese beschränkte Perspektive keine großen Fragen aufwirft, keine neuen Szenarien entwirft und vor allem keine Wege für die Zukunft aufweist.

Karin Boye – Kallocain

Kallocain von Karin Boye
Karin Boye – Kallocain

Der Chemiker Leo Kall blickt zurück auf die Zeit vor seiner Verhaftung und will nun endlich nach unzähligen Jahren berichten, was damals geschah. In der Chemiestadt Nr. 4 arbeitete er in einem Labor und es gelang ihm ein sagenhaftes Medikament zu erfinden, das seinen Namen tragen sollte: Kallocain. Die Wahrheitsdroge führte dazu, dass die Versuchspersonen ihre Geheimnisse preisgaben und dem totalitären Staat ihre intimsten Gedanken verrieten. Schnell wird man auf ihn aufmerksam und lädt in gemeinsam mit seinem Vorgesetzten in die Hauptstadt ein, um der Staatsführung sein Experiment vorzuführen. Doch all der Erfolg kann Leo Kall nicht vor seinen Ängsten und Unsicherheiten schützen. Sein ganzes Leben lang wird er von Alpträumen geplagt und die für ihn nach all den Ehejahren immer noch offene Frage, ob ihn seine Frau Linda überhaupt jemals geliebt hat, lässt ihn eine Entscheidung mit schwerwiegenden Folgen treffen.

Karin Boyes Roman aus dem Jahre 1940 gilt als eines der wichtigsten schwedischen Romane des 20. Jahrhunderts. Ihr letztes Werk, bevor sie sich das Leben nahm, blickt in eine düstere Zukunft und ist stark beeinflusst von den Zeichen der Zeit. Die deutschen Vorfahren der Autorin haben sie immer wieder gen Süden blicken und beobachten lassen, was sich dort in den 1930er Jahren abspielte und wohin sich die Welt bewegte.

Leo Kall lebt im sogenannten Weltstaat, der mit seiner Überwachung und starren Struktur sowohl an die Ideen Hitlers anknüpfte wie auch an die stalinistische Sowjetunion erinnert. Ersteres kommt vor allem auch in der nur am Rande angerissenen Rassentheorie zum Ausdruck, der zufolge die Menschen im Weltstaat sich genetisch stark von jenen im verfeindeten Universaalstaat unterscheiden. Das Leben wird von Geburt an vom Staat bestimmt und gelenkt und spielt sich weitgehen unter der Erde ab, es bedarf einer Sondergenehmigung, um an die Oberfläche zu kommen. Die Gesellschaft ist stark kommunistisch ohne große Hierarchien geprägt, gleichzeitig durchdringt sie aber auch eine militärische Struktur, die sich beispielsweise in der Anrede als „Mitsoldat“ niederschlägt.

Interessant ist einerseits natürlich Kalls Erfindung namens „Kallocain“, die Wahrheitsdroge, die staatsfeindliche Gedanken aufdeckt und somit eine schnelle Reaktion auf konterrevolutionäre Strömungen erlaubt. Viel spannender fand ich jedoch den Charakter Kalls selbst, der fortwährend von Unsicherheit und Zweifel geplagt wird, der gefallen will und doch beinahe durchgängig starken Ängsten ausgeliefert ist. Letztlich ist das Gefängnis für ihn ein Ort der Befreiung, denn er ist die ihn beängstigende Freiheit im Staat losgeworden und die engen Mauern bieten ihm den Schutz vor sich selbst und seinen Gedanken, den er zuvor schmerzlich vermisst hat.

Boyes Roman steht in einer Reihe mit Dystopien wie „Schöne neue Welt“ oder „1984“, die in dieselbe Entstehungszeit fallen. Gerade weil Roman und Autorin einen starken Bezug zu Deutschland haben, ist mir unverständlich, weshalb er nicht weitaus bekannter bei uns ist. Vielleicht mag die Neuübersetzung daran etwas zu ändern, in der aktuellen Zeit kann es gar nicht genug erfolgreiche Literatur, die die Folgen extremer politischer Entwicklungen aufzeigt, geben.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Buch und Autorin finden sich auf der Seite de Verlagsgruppe Random House. 

Thomas Sautner – Fremdes Land

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Thomas Sautner – Fremdes Land

Jack Blind ist sich sicher, dass er und seine Partei nicht nur schon sehr bald die Regierung übernehmen, sondern dass sie auch das Leben für die Menschen verbessern werden. Als der regierende Präsident unerwartet zurücktritt und Neuwahlen ausgerufen werden, tritt das ersehnte Ereignis ein und Jack wird Stabschef und enger Vertrauter des Präsidenten. Sowohl er wie auch sein Freund und Neu-Staatsoberhaupt Mike Forell sind gänzlich unerfahren, aber eine hilfsbereite Gräfin nimmt sie unter ihre Fittiche und erleichtert ihnen den Start im Amt. Sie stellt ihnen auch den „Vertreter“ vor, der für eine Gruppe von wichtigen Wirtschaftsbossen spricht und die neue Regierung vor allem in ihrem Kampf gegen den islamistischen Terror unterstützen möchte. Nein, Gegenleistungen möchten sie dafür nicht, sie haben zwar den einen oder anderen vernachlässigbaren Wunsch, aber das sind doch Petitessen, die man im Vorbeigehen erledigen kann. Obwohl Jack eindringlich von seiner Schwester gewarnt wird, läuft er sehendes Auges ins Unglück – und reißt das ganze Land mit.

Thomas Sautners Roman ist bereits einige Jahre alt, was der Aktualität jedoch keinen Abbruch tut. Im Gegenteil, vieles, was er beschreibt, kann man inzwischen in der Realität beobachten: die Angst vor islamistischem Terror, die Möglichkeiten der völligen Überwachung, die der Endverbraucher schon gar nicht mehr nachvollziehen kann und spätestens seit der Euro- und Banken-Krise von 2008 sollte auch dem letzten aufgegangen sein, dass nicht die gewählten Volksvertreter die wesentlichen Entscheidungen treffen. Die Tatsache, dass der entscheidende Vertreter der Wirtschaftsinteressen nicht einmal einen Namen bekommen hat, spricht hierbei Bände.

An vielen Stellen hat mich „Fremdes Land“ an bekannte Dystopien erinnert, die gefühlsverstärkten Kinos und die Feelgood-Pillen kommen einem stark aus „Brave New World“ bekannt vor, die staatliche Überwachung und Gedankenkontrolle kennt man aus „1984“. Auch der Aufbau der Figurenkonstellation ist recht typisch für eine Dystopie: der naive und im Umgang mit anderen Menschen gehemmte Protagonist, der nicht durchschaut, was eigentlich geschieht und nur die Vorteile des Systems sehen möchte, obwohl ihm eine nahestehende Person versucht vor der Gefahr zu warnen. Die Zuspitzung der Situation, die letztlich private und öffentliche Interessen konfrontieren und eskalieren lässt. Trotz der leicht erkennbaren Versatzstücke schmälert dies in keiner Weise den Roman. Inhaltlich hat er einige neue Aspekte zu bieten und der starke Fokus auf den politischen Entscheidungen machte ihn für mich interessanter als viele Romane des Genres, die ihren Schwerpunkt eher auf die persönlichen Entwicklungen einzelner Figuren legen.

Eine Dystopie, die so wirklichkeitsnah und authentisch daherkommt, dass man vergessen könnte, dass es sich um eine fiktive Geschichte handelt. Ein herausragender Roman des Genres, der leider viel zu wenig Beachtung erfahren hat.

Eckhart Nickel – Hysteria

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Eckhart Nickel – Hysteria

Wie immer geht Bergheim auf den Biomarkt. Beim Inspizieren der Himbeeren fällt ihm deren Farbe und Beschaffenheit auf, die seltsam unnatürlich anmuten. Auch ein Jungtier wirkt verstörend seltsam, er will der Sache auf den Grund gehen und landet direkt im Kulinarischen Institut, wo seine Ex-Freundin Charlotte, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hat, eine Leitungsstelle innehat. Bergheims Hypersensibilität erlaubt es, dass er Veränderungen wahrnehmen kann, die andere entgehen und bald schon befindet er sich in dem Institut, das in den Händen der sogenannten „Spurenloses Leben“ Bewegung ist, gefangen in einer unheimlichen Dystopie. Die Natur existiert nicht mehr, sie wurde durch eine neue Künstlichkeit ersetzt, die mit normaler Wahrnehmung kaum zu erkennen ist.

Eckhart Nickels Roman, der auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2018 steht, ist eine Herausforderung. Zunächst fasziniert der Text durch Bergheims sensorische Empfindungen, die en détail wiedergegeben werden und den Leser in ungeahnte Höhen der Sensorik führen. Textur, Farbe und Geschmack von alltäglichen Lebensmitteln und Dingen werden mit einer Intensität beschrieben, die man selten gelesen geschweige denn selbst wahrgenommen hat. Von Weinbeschreibungen ist man dergleichen gewohnt, bei Himbeeren überrascht dies.

Der Protagonist Bergheim – ich frage mich rückblickend, ob dieser überhaupt über einen Vornamen verfügt – ist schon arg schräg, seine Ordnungsliebe mutet etwas autistisch an, sein Verhältnis zu Charlotte geradezu obsessiv. Da passt die Hypersensibilität, die ihn etwas pedantisch wirken lässt. Ausgerechnet dieser Sonderling kommt einer unheimlichen Verschwörung auf die Spur. Viele Aspekte der Anhänger des „Spurenlosen Lebens“ sind auch in unserer Realität allgegenwärtig: Umweltschutz, nachhaltiges Leben, Achtung vor Flora und Fauna – aber sie werden hier auf die Spitze getrieben und geradezu ad absurdum geführt. Koffein und Nikotin sind verboten, aber durchaus auf dem Schwarzmarkt gegen Altgeld noch beschaffbar, Ersatzdrogen waren ebenso schnell gefunden wie die alten verboten waren – die Menschheit ist halt doch begrenzt in ihrer Evolutionsfähigkeit und kreativ im Finden von Schlupflöchern.

Der Roman verirrt sich für mein Empfinden irgendwann etwas in Absurdität und ist in der Handlung nur noch schwer zu folgen. Vieles an der Dystopie ist eine berechtigte Warnung, aber mit einem ansprechenderen Protagonisten wäre die Message vermutlich überzeugender dargeboten worden. Auch das Ende fand ich eher als etwas verunglückter Horrorschocker denn als überzeugender Abschluss.