Mareike Fallwickl – Die Wut, die bleibt

Mareike Fallwinckl – Die Wut, die bleibt

Helene steht vom Abendbrot-Tisch auf, öffnet die Balkontür und stürzt sich zwölf Meter in die Tiefe. Zurück bleiben ihr Mann Johannes, die fast fünfzehnjährige Lola und die beiden Kleinen Maxi und Lucius. Sarah, Helenes Freundin seit Kindergartentagen, springt ein, übernimmt die Rolle der Mutter und Putzfrau, während Johannes so weitermacht wie zuvor. Lola wird zunehmend wütender, während des Lockdowns ist sie auf feministische Bloggerinnen gestoßen, hat unzählige Bücher gelesen und sieht nun zu, wie die unabhängige Autorin genauso in eine Rolle gezwängt wird, die ihre Mutter nicht mehr ausgehalten hat. Doch nun geht Lola weiter, sie will nicht Opfer werden, sich von Männern erniedrigen lassen und Worte, das hat sie bereits gelernt, reichen im Notfall auch nicht, um sich zu verteidigen.

Mareike Fallwickl verarbeitet in „Die Wut, die bleibt“ das, was inzwischen durch Statistiken mehr als gut belegt ist: all die Jahre des Kampfes um Emanzipation, für Gleichberechtigung und geteilte Familienarbeit wurden mit der Pandemie einfach weggewischt. Die Frauen sind beruflich zurückgetreten, haben Job, Familienarbeit und Homeschooling übernommen, während die Männer maximal das firmeneigene gegen das häusliche Büro getauscht haben. Im Fall von Helene war das Ende der Fahnenstange erreicht und sie hat den brutalen Ausweg gewählt. Die Frage nach dem Warum stellt sich niemandem wirklich.

Ohne Frage ist „Die Wut, die bleibt“ weniger eine Auseinandersetzung mit dem Verlust eines geliebten Menschen als ein radikal-feministischer Roman. Sarahs Reflex, Johannes nicht mit den Kindern allein lassen zu können, ungefragt für die Freundin einzuspringen und deren Rolle zu übernehmen unter Aufgabe ihres eigenen Lebens – niemand wundert sich wirklich darüber oder hinterfragt ihr Handeln. Der Vater muss gar nicht erst versuchen zurechtzukommen, es wird ihm schon abgenommen, bevor er es erkennt. Sarah merkt zwar, dass etwas schiefläuft, aber ihre Erziehung und ihre Rollenbilder erlauben ihr trotz des Glaubens an die vermeintliche Emanzipation nicht, das, was geschieht, ernsthaft infrage zu stellen.

Erst durch Lola und deren deutlich radikalere Ansichten, setzt ein Denkprozess ein. Bei dem Mädchen nimmt dieser durch den nicht verarbeiteten Verlust und die unwirkliche Situation deutlich schneller Fahrt auf. Die schützende Mutter ist weg und auch sonst niemand mehr da, der sich schützend vor sie stellen würde. Das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Ohnmacht treiben sie an, etwas zu ändern. Doch sie schlägt nicht den intellektuellen, sondern den physischen Weg des Widerstands ein und findet Mitstreiterinnen, die sich gegenseitig antreiben.

Sarah und Lola ergänzen und spiegeln sich. Sie gehören zu unterschiedlichen Generationen und agieren entsprechend auch verschieden. Der jeweilige Verlust mag in der Intensität ähnlich sein und doch ist er nicht vergleichbar. Es liegt in der Natur des Teenager Daseins, ohne Rücksicht auf Verluste und Gefühle wahrgenommene Wahrheiten auszusprechen und man muss einräumen: wirklich falsch liegt Lola mit ihren Feststellungen nicht. Das kann natürlich keine Entschuldigung für die Gewalt sein, die sie als Antwort auf Ungerechtigkeit wählt, aber es fällt auch nicht wirklich schwer, ihren Gedanken zu folgen.

Die Positionen Sarahs und Lolas sind nicht weit auseinander und doch: es mag der Altersunterschied, die Erfahrung oder auch einfach die Aufgabe des Kampfes und der Weg des geringeren Widerstands in der Gesellschaft sein, der sie auf scheinbar unterschiedliche Seiten stellt. Sie suchen und brauchen beide ein Ventil. Als Leser spürt man ihre Wut, die verdrängten in ihren Körpern gefangene Emotion, die einen Weg nach draußen braucht, um wieder ein inneres Gleichgewicht herzustellen.

Ein Roman, der einem unmittelbar berührt, mitreißt und zwei starke Protagonistinnen, die man gerne wie beste Freundinnen in den Arm nehmen und drücken möchte, um ihnen zu zeigen, dass sie nicht allein sind mit dem, was sie erleben, weil man auch als Leser ganz nah bei ihnen ist.

Oyinkan Braithwaite – Das Baby ist meins

Oyinkan Braithwaite – Das Baby ist meins

Nachdem seine Freundin in seinem Handy mehr als belastendes Material gefunden hat, wirft sie Bambi kurzerhand raus. Doch wohin am Abend, noch dazu im Lockdown, wo er sich eigentlich gar nicht draußen aufhalten darf? Ihm fällt sein Onkel ein, ein Opfer des Virus, dessen Frau mit dem Baby sicherlich nicht in ihrem Bungalow alleine geblieben ist. Und Bambi weiß, wo sie den Ersatzschlüssel verstecken. Er hatte Recht mit seiner Vermutung: seine Tante Bidemi ist nicht alleine dort, denn bei ihr ist auch Esohe, die Geliebte seines Onkel Folu, und Baby Remi, von dem beide Frauen behaupten, dass es ihres sei. Der Lockdown hat sie gemeinsam eingesperrt, die wiederholten Stromausfälle machen die Situation nicht leichter. Die Stimmung ist aufgeheizt und angespannt. Bambi steht zwischen beiden und weiß nicht, wem er glauben soll. Die einfache Lösung, ein DNS Test, ist wegen der Pandemie und der Überlastung der Krankenhäuser nicht möglich, also ist aushalten angesagt. Und darauf achten, dass die Frauen weder sich noch das Baby umbringen.

„Falls diese beiden Frauen beschließen sollten, aufeinander loszugehen und einander umzubringen, würde ich hinterher saubermachen müssen. Und ich hatte genug Blut für einen Tag gesehen.“

Oyinkan Braithwaite konnte mich mit ihrem skurrilen Debüt „My Sister, the Serial Killer“ 2018 bereits mehr als begeistern, in ihrem aktuellen Roman findet sich derselbe lakonisch-pointierte Erzähstil wieder, der die absurde Situation, in der sich die drei Protagonisten befinden, fabelhaft unterstreicht. Die Autorin hat den aktuellen Lockdown zum Ausgangspunkt genommen, was sich hervorragend eignet, um die durch das zwangsweise Aufeinandersitzen bis an die Grenzen gespannten Nerven darzustellen. Eine Flucht ist ebenfalls unmöglich. Ein Locked-Room-Szenario der ganz besonderen Art.

Der lebenslustige Bambi, der mit seinen 28 Jahren nichts anbrennen lässt und weit davon entfernt ist, das gesetzte Leben eines Erwachsenen zu führen und eine Familie zu gründen, findet sich plötzlich in der Rolle des König Salomo wieder, der entscheiden soll, wer die Mutter des Kindes ist. Es steht Aussage gegen Aussage und beide Versionen sind gleichermaßen glaubhaft. Ein salomonisches Urteil jedoch ist nicht wirklich möglich und so gilt es auszuharren. Während die beiden Furien sich am liebsten die Augen auskratzen würden, versucht Bambi zu schlichten und das Wohl des Kindes im Auge zu behalten. Bidemi wie auch Esohe zeigen sich rücksichtslos und gewaltbereit: ein Hahn muss dran glauben, auch Baby Remi bleibt nicht ganz unverschont, ebenso mehrere Türen, Massen von Blut im Flur – und immer wieder fällt auch noch der Strom aus.

Obwohl die Lage, wie auch in ihrem ersten Roman, dramatisch ist, herrscht doch ein oft humorvoller Ton, denn Erzähler Bambi kann alles nur mit einer gehörigen Portion Galgenhumor ertragen. Die Absurdität dessen, was er in dem Bungalow erlebt, lässt sich nur so in Worte fassen, auch wenn ihm das Lachen mehr als einmal im Halse stecken bleibt. Etliche Aspekte bringt der Roman jedoch brillant auf den Punkt: die Pandemie und vor allem der Lockdown geht an die Substanz. Hinzu der Verlust eines geliebten Menschen und dazu noch die üblichen Stressoren – die Figuren sind im emotionalen Ausnahmezustand und fern davon, rational und großzügig zu agieren. Auch die Verzweiflung von Bidemi ist leicht nachzuvollziehen, lange dauerte es sie, bis sie endlich schwanger wurde und dann das sehnsüchtig erwartete Kind, das ihr eine andere wegnehmen möchte. Letztlich hätte man sich auch nicht gewundert, wenn die Geschichte in einem Gemetzel geendet hätte.

Wieder einmal unterstreicht Braithwaite ihre Gabe, ernste Themen noch weiter zuzuspitzen, der Dramatik jedoch über die Absurdität eine heitere Note zu verpassen, die das Lesen unterhaltsam macht, ohne jedoch den Ernst der Lage herunterzuspielen.

Wolfgang Schorlau – Kreuzberg Blues

Wolfgang Schorlau – Kreuzberg Blues

Eine Freundin von Denglers Partnerin Olga ruft aus Berlin um Hilfe. Immobilienhaie haben die Stadt fest im Griff und die Mieter der letzten bezahlbaren Wohnungen sollen nun auch noch vertrieben werden, um nach einer Sanierung mit Luxusapartments mehr Geld aus den Gebäuden zu holen. Silke kann sich das nicht leisten, doch jetzt geht sie mit den Nachbarn auf die Barrikaden, nachdem offenbar aggressive Ratten in ihrem Haus ausgesetzt und ihre kleine Tochter gebissen wurde, ist die rote Linie auch wahrlich überschritten. Dengler begibt sich undercover auf die Spuren der Kröger Immobilien AG, einem der großen Player, muss aber schnell erkennen, dass die Lage deutlich vielschichtiger ist, als zunächst angenommen.

Wolfgang Schorlaus Reihe um den ehemaligen BKA Ermittler Georg Dengler gehört schon seit vielen Jahren zu meinen Highlights im Krimigenre. Nicht nur sind die Fälle spannend und komplex, vor allem überzeugen sie durch ihre politische und gesellschaftliche Brisanz und Relevanz. Im zehnten Auftritt des Stuttgarter Privatermittlers steht der Berliner Wohnungsmarkt im Fokus der Handlung, wird jedoch zum Ende hin überrollt von der Pandemie, die global das Leben 2020 nachhaltig erschüttert hat und welche als kurzen Nebenkriegsschauplatz noch die Welt der Verschwörungstheoretiker streift.

Der zentrale Handlungsstrang um die „Entmietung“ – dass dieses Wort überhaupt existiert, war mir bis dato gar nicht bekannt – von Wohnblöcken wird recht zielgerichtet verfolgt. Das hinter der vordergründigen Neuvermietung zu höherem Preis stehende Geschäftsmodell wird nebenbei gut verständlich erläutert und sorgt so für ein glaubwürdiges Konstrukt der Handlung. Es sind vor allem kleine Nebenhandlungen, die die besondere Würze ausmachen. Beispielsweise die Figur Michael Bertram, CEO der „Deutsche Eigentum“, dessen rücksichtsloser, geradezu menschenverachtender Charakter interessant herausgearbeitet wird. Ein besonderes Highlight ist natürlich Rentner Arthur, der alles sieht, aber nicht über alles spricht, ebenso wie die beiden prollig-doofen Aktivisten Roman und Eddy.

Ein großes Fragezeichen bleibt hinter der „Organisation Fuhrmann“, was geschickt Teile des Romans ad absurdum führt, wird am Ende doch sehr deutlich Position gegen die Verschwörungstheoretiker im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie bezogen. Ein reales Pendant gibt es – zumindest meines Wissens nach – nicht, was stutzig macht bei der Serie, die regelmäßig auf echte Ereignisse und Institutionen bzw. Personen zurückgreift. Ein geschickter Schachzug, um Zweifel zu säen oder ein perfides Spiel mit dem Leser, dem der Mythos einer Geheimorganisation untergeschoben wird, die aus dem Untergrund und doch vor aller Augen das große Schiff Deutschland lenkt?

Fazit: Erwartungen voll erfüllt. Spannend mit hohem Tempo, komplex und mehr als aktuell.