Berit Glanz – Automaton

Berit Glanz – Automaton

Panikattacken fesseln die junge Mutter Tiff an ihre Wohnung. Schon der Weg zum Kindergarten ihres Sohnes Leon ist oftmals eine Herausforderung, an arbeiten außerhalb des geschützten Raums ist gar nicht zu denken. Glücklicherweise findet sie auf der Internetplattform Automa immer wieder Aufträge, die zwar schlecht bezahlt sind, aber von Zuhause aus erledigt werden können. Oftmals muss sie Bilder verschlagworten, mehr und mehr jedoch sieht sie sich Überwachungskameras an und notiert, wenn dort etwas passiert. Mit ihren Kollegen, die sie nur unter ihren Pseudonymen kennt, tauscht sie sich über die Videos aus, manche Menschen und Szenerien dort tauchen immer wieder auf und scheinen fast wie alte Bekannte zu sein. Bis plötzlich ein Mann verschwunden ist.

Berit Glanz greift in ihrem zweiten Roman „Automaton“ gleich mehrere aktuelle Gesellschaftsthemen auf. Zum einen ist ihre Protagonistin durch ihre Psyche stark in ihrem Leben und ihren Möglichkeiten eingeschränkt, was jedoch außer ihrem unmittelbaren Nachfeld niemanden zu interessieren scheint. Zum anderen prekär bezahlte Arbeit und die Reichweite des Internets in den normalen Alltag der Menschen. Eine Geschichte, die sich am Rand unserer Gesellschaft abspielt und diesen sichtbar macht.

Tiffs Situation ist in jeder Hinsicht schwierig. Die finanziellen Probleme, mit denen die alleinerziehende Mutter zu kämpfen hat, und die dem Wunsch gegenüberstehen, dem Sohn auch etwas zu bieten, was durch die Panikattacken zudem erschwert wird. Auch wenn sie glaubt, Leon eine unbeschwerte Kindheit ermöglichen zu können, wird doch immer wieder klar, dass der Junge trotz seines Alters sehr wohl spürt, wie die Lage seiner Mutter ist und seine Bedürfnisse zurückstellt. Ein Schicksal, dass Leon mit vielen Kindern teilt, die von klein auf Verzicht kennen und ihre Eltern nicht noch mehr belasten wollen durch eigene Wünsche.

Die online Jobs, die Tiff übernimmt, scheinen zunächst zur Weiterentwicklung der künstlichen Intelligenz zu dienen. Sie sind von Monotonie geprägt, doch die Menschen hinter den Bildschirmen lassen sich nicht auf automatische Reaktionen reduzieren, sondern werden umso humaner, als sie den Verdacht eines Verbrechens hegen. Die globale Vernetzung wird plötzlich zur Chance, vom heimischen Computer aus etwas zu bewegen und sich des mechanischen Daseins zu entledigen.

Berit Glanz spielt geschickt mit der Ambivalenz zwischen stupiden Arbeitsabläufen und einförmigem Alltag und dem Wunsch nach Ausbruch und einem lebenswerten Leben. Im Hinterhof kann Tiff plötzlich etwas gestalten, während sie gleichzeitig an Wohnung und Computer gefesselt ist. Äußere und innere Freiheit konkurrieren im Roman und lösen bisweilen scheinbare Widersprüche auf.

Dave Eggers – Every

Dave Eggers – Every

Nachdem die Firma Circle schon weite Teile des Internets beherrschte, hat sie sich mit dem Aufkauf eines online Versandhauses, das nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war, auch den Konsummarkt gesichert. Unter dem Namen „Every“ kontrolliert Mae Holland nun weite Teile des Alltags der Menschen. Delaney Wells hat viel dafür getan, um bei Every angestellt zu werden, doch weniger, weil sie von dem Unternehmen fasziniert wäre, sondern weil sie Rache nehmen möchte. Von außen ist der Konzern zu mächtig, um ihm zu schaden, das kann nur aus dem Innersten gelingen. Mit ihrem Mitbewohner Wes entwickelt sie eine Strategie: mit immer absurderen Vorschlägen für Apps wollen sie den Menschen die Augen öffnen, doch ihre Idee fruchtet nicht. Statt sich angewidert abzuwenden, nehmen die Nutzer die immer weiterreichenden Einschränkungen begeistert auf und sind gerne bereit, immer mehr Freiheiten aufzugeben. Sie müssen also noch weiter gehen.

Mit großer Faszination hatte ich vor einigen Jahren „The Circle“ gelesen und trotz der etwas flachen Protagonistin konnte mich die Idee des Romans begeistern. Nun legt Dave Eggers den Gegenentwurf, die Zerstörung seiner eigenen Schöpfung, vor. Mit Delaney hat er eine clevere und mutige Figur geschaffen, die konsequent ihr Ziel verfolgt, das auch glaubwürdig motiviert ist, die Umsetzung jedoch bleibt für mich hinter den Erwartungen zurück. Dies liegt vor allem an vielen Längen, die die Handlung nicht voranbringen und der Vorhersehbarkeit der Entwicklungen, hier hätte ich mir mehr Überraschungen gewünscht.

Delaneys Ansatz, immer absurdere Vorschläge zu machen, die die Menschen kontrollieren – welche Worte verwenden sie, wie gut gelingen die Interaktionen mit anderen, wie gute „Freunde“ sind sie wirklich bis hin zu vollständigen Überwachung des Lebens – treiben aktuelle Entwicklungen immer weiter. Die Argumentationsstruktur von Every überzeugt: all dies dient der eigenen Sicherheit und Kontrolle. Wessen Sprache permanent überwacht wird, wird sich bemühen „korrekt“ und rücksichtsvoll zu sprechen und so wird die Welt ein bisschen besser. Die Bodycams zeichnen alles auf, weshalb man auch die kleinen Verfehlungen des Alltags sichtbar macht und sie so nach und nach einstellt. Alle werden zu besseren Menschen. Ein rücksichtsvoller Umgang miteinander, Reduzierung von Gewalttaten und auch noch der Schutz der Umwelt – wer kann sich dem ernsthaft verweigern?

Eggers geht einfach einen Schritt weiter und zeigt schön, wie leicht die Fallen eigentlich zu entdecken wären, in die die Figuren tappen. Jedoch, sie wollen das, denn das Leben wird leichter, wenn einem Entscheidungen abgenommen werden und Ordnung und Struktur herrscht. Nichts ist anstrengender, als selbst zu denken, weshalb man das großzügig an Every abgibt. So überzeugend dieser Aspekt ist, es hätten ein paar Erfindungen weniger sein dürfen, denn die 20. App bringt die Handlung irgendwann auch nicht mehr weiter.

Eine kleine Gruppe von Verweigerern versucht sich all dem zu widersetzen, Anarchisten, die mit ihren Mitteln in den Kampf ziehen, ebenso wie ein paar Intellektuelle, die jedoch nicht gehört werden. Auch Delaneys Freund Wes und seine Entwicklung im Laufe der Handlung bleibt für mich zu plakativ und einfallslos, Eggers kann definitiv mehr als abgenutzte Versatzstücke zu verwenden.

Die Idee überzeugt, auch die Protagonistin ist gelungen, aber der Autor hätte für mein Empfinden mehr daraus machen können. Einzelne Szenen – der Ausflug zu den Robben und die Folgen – sind herrlich, auch das Offenlegen der heuchlerischen Argumente ist gut umgesetzt. Viele Längen und eine doch recht absehbare Entwicklung schlagen jedoch auf der negativen Seite zu Buche.

Arnaldur Indriðason – Tiefe Schluchten

Arnaldur Indridason – Tiefe Schluchten

Der ehemalige Mordermittler Konráð will eigentlich nur noch seinen Ruhestand genießen, weshalb er die dringliche Bitte von Valborg ablehnt, ihr Kind zu finden, das sie fast fünfzig Jahre zuvor direkt nach der Geburt weggegeben hatte. Doch dann wird Valborg ermordet und er fühlt sich schuldig, der totkranken Frau den letzten Wunsch nicht erfüllt zu haben. Während die Polizei nach dem Mörder sucht, forscht Konráð in der Vergangenheit der unauffälligen Frau. Bald schon stößt er auf eine Hebammenschülerin, die damals scheinbar Schwangere überredete, keinen Abbruch vornehmen zu lassen, sondern die Kinder auf die Welt zu bringen und dann zur Adoption freizugeben. Doch auch sie ist bereits seit langer Zeit verstorben. Aufgeben kommt für den Pensionär jedoch nicht infrage, auch wenn er zugleich noch ein anderes Mysterium lösen muss: der Mord an seinem eigenen Vater.

Dem isländischen Autor Arnaldur Indriðason gelingt es immer wieder, spannende Romane zu schaffen, die weitgehend ohne ausführliche Darstellung von brutaler Gewalt auskommen, sondern sich auf das alltägliche Grauen fokussieren. Es sind keine außergewöhnlichen Figuren, sondern die Tatsache, dass sie so ausgesprochen normal sind, die einem als Leser berühren. Hinter jeder Tür kann sich ein dramatisches Schicksal verbergen, hinter jeder Tür vermag eine Lage zu eskalieren und den schlimmstmöglichen Ausgang zu nehmen. Auch in „Tiefe Schluchten“ ist es das tagtägliche Verbrechen, das den Ausgangspunkt für eine Kette von Tragödien bildet.

Das Schicksal Valborgs skizziert sich schnell: eine Vergewaltigung führte dazu, dass sie noch jung ungewollt schwanger wurde. Auch wenn es ihr damals richtig erschien, dem Kind bei liebenden Eltern eine Zukunft zu schenken, ließen sie das ungewisse Schicksal und die Gewissensbisse nie los. Sie konnte es nicht ahnen, aber dem Jungen wurde keine unbeschwerte Kindheit zuteil und sie hat letztlich nicht nur ihr eigenes, sondern auch sein Leid verlängert.

Auch wenn die Suche nach dem Kind im Vordergrund steht, präsentiert der Roman eine Reihe von Nebenfiguren, die traurige Geschichten zu erzählen haben. Unzählige Frauen werden gestreift, die Opfer von häuslicher Gewalt werden, jedoch lieber die blauen Flecken überschminken und den Mann entschuldigen, als sich aus der gefährlichen Lage zu befreien. In ganz verschiedenen Facetten zeigt sich die alltägliche Gewalt, so nebensächlich geschildert, dass sie fast den Eindruck erweckt, quasi normaler Bestandteil des Lebens zu sein, dem man nur noch mit Schulternzucken begegnet.

Jedoch nicht nur die blanke physische Gewalt zeigt sich, vielleicht sogar noch perfider ist die psychische, die beispielsweise Konráðs Vater geschickt nutzte, um seine Opfer auszunehmen oder die Anhänger der Religionsgemeinschaften, die ebenfalls eher subtil denn offen Druck auf ihre Mitglieder ausübten.

Dramaturgisch geschickt aufgebaut liefert Arnaldur Indriðason wieder einen erwartungsgemäß tiefgründigen Krimi, der sich nicht nur mit Spannung und viel Blut zufriedengibt, sondern durch das zutiefst Menschliche nachwirkt.

Robert Hültner- Lazare und die Spuren des Todes

Robert Hültner – Lazare und die Spuren des Todes

Kommissar Lazare wird einmal mehr von Montpellier ins beschauliche Sète abgeordnet, um dort das Verschwinden einer jungen Frau aufzuklären. Eigentlich ein Fall für die lokale Polizei, weshalb er sich darum kümmern muss, kann der Ermittler nicht nachvollziehen. Doch er muss sich nicht lange um den vermeintlich simplen Fall kümmern, denn schnell schon wird er bei seinen Ermittlungen Opfer eines heimtückischen Überfalls, der ihn beinahe das Leben kostet. Frisch aus der Klinik entlassen beschließt er, sich in seiner Hütte in den Bergen zu erholen und alte Freunde zu besuchen. Doch auch in den abgelegenen Dörfern hat das Verbrechen Einzug gehalten und bald schon sieht er sich mit allerlei kriminellen Machenschaften konfrontiert.

Der zweite Fall für den südfranzösischen Ermittler ist ein komplexer Politkrimi, bei dem sich mehrere zunächst scheinbar isolierte Handlungsstränge erst spät zu einem Gesamtbild fügen. Auch wenn Robert Hültner die malerische Szenerie Südfrankreichs als Kulisse für die Geschichte wählt, hat diese nur wenig mit den typischen cosy crime Romanen zu tun, in denen hauptsächlich viel gegessen und getrunken und die Zeit dazwischen mit Landschaftsbewunderung gefüllt wird. Die Natur ist nicht unwesentlich für die Geschehnisse, der Autor baut diese jedoch überzeugend und sinnhaft ein, so dass sie nicht nur austauschbares Requisit bleibt, sondern ganz entscheidend zu dem Fall und dessen Lösung beiträgt.

Gleich mehrere parallel verlaufende Geschichten stehen zunächst lose nebeneinander. Zum einen das Verschwinden des muslimischen Mädchens Nadia, auf das sich niemand einen Reim machen kann und das erst nach dem Übergriff auf Lazare eine gewisse Brisanz erhält. Zum anderen der alte Siset, der schon seit Jahrzehnten eine abgelegene Hütte der Lazares bewohnt, nachdem er als spanischer Widerstandskämpfer nach Frankeich fliehen musste und nun plötzlich Besuch von einem alten Weggefährten erhält. Und dann ist da noch der Aussteiger Corentin Arnal, der ein bescheidenes Leben als Ökobauer abseits des Dorfes führen wollte und gegen den sich die ganze Welt verschworen zu haben scheint, obwohl die drohende Umweltkatastrophe für alle dramatische Folgen haben würde. Auch die ermittelnden Polizisten scheinen ihre eigene Agenda zu haben und weichen nicht mehr von den schnell festgelegten Tatvorgängen ab – warum bloß?

Robert Hültner wurde mir vor allem als Hörspielautor für die Radio-Tatort Folgen aus dem fiktiven bayerischen Bruck am Inn ein Begriff. Mit viel Liebe für Details hat er dort sympathische Charaktere geschaffen, die einem im Laufe der Jahre ans Herz gewachsen sind. Gleichermaßen präsentiert er in seiner Lazare Reihe ebenfalls eigenwillige Figuren, die den komplexen Fall um heitere Momente ergänzen und so auflockern. Alles in allem die perfekte Sommerlektüre im Krimigenre.

Maria Adolfsson – Doggerland. Fester Grund


Maria Adolfsson – Doggerland. Fester Grund

Ein wenig neidisch ist Karen Eiken Hornby schon auf Luna, die berühmteste Sängerin von Doggerland, die eine geheimnisvolle Aura umgibt, der auch Karens Partner Leo offenbar gerade verfällt. Nach Jahren des Rückzugs will die Sängerin wieder ein Album veröffentlichen und hat nun im Geheimen die Aufnahmen mit Leo und dem Team gemacht. Als sie zu den finalen Aufnahmen nicht erscheint, wird Karen gebeten, inoffiziell zu ermitteln, nur wenige Tage später jedoch gibt es schon wieder Entwarnung und Karen kann sich einem viel dringenderen Fall widmen: ein Serienvergewaltiger scheint wieder zugeschlagen zu haben. Nachdem er bereits im Herbst Frauen brutal misshandelt hat, ist nun ein weiteres Opfer zu beklagen und wieder kann dies kaum Angaben zum Täter machen. Vier Frauen, die nichts gemeinsam zu haben scheinen, doch irgendetwas muss sie verbinden. Obwohl gesundheitlich angeschlagen, vergräbt sich Karen in die Nachforschungen – bis ihre Ärztin sie bittet, sofort vorbeizukommen.

„Fester Grund“ ist der Abschluss der Doggerland-Trilogie der schwedischen Autorin Maria Adolfsson. Die Inselgruppe zwischen Dänemark und Großbritannien, die einst die britischen Inseln mit dem Kontinent verband, liegt heute versunken in der Nordsee. In ihren Romanen macht Adolfsson sie zum Schauplatz der Ermittlungen ihrer eigenwilligen Kommissarin Karen Eiken Hornby, die im Abschlussband gleich zwei Fälle bearbeiten muss, während sie selbst ziemlich angeschlagen ist.

Die Suche nach der Sängerin Luna wird zunächst vor allem durch negative Emotionen Karens geprägt, sie ist sich ihrer Beziehung zu Leo, die nach wie vor weitgehend undefiniert ist, nicht sicher und lässt sich durch die strahlende Diva völlig aus dem Gleichgewicht bringen. Dies hindert sie zwar nicht daran, genauso akribisch und ernsthaft wie immer ihre Nachforschungen zu betreiben, aber die Stimmung zu Hause ist mehr als vergiftet. Auch der zweite Fall geht ihr nahe, die Brutalität, mit der der Täter immer wieder zuschlägt, ist kaum auszuhalten. Offenkundig treibt ihn ein tiefer Hass, was für sie die Vermutung nahelegt, dass er seine Opfer gekannt und sich von diesen gedemütigt gefühlt haben könnte.

Nachdem mich „Fehltritt“, der erste Teil der Reihe, restlos begeistern konnte, weil Adolfsson eine unglaubliche Welt erschaffen hat, die man sich mit dem rauen Klima leicht bildlich vorstellen kann, ließ mich „Tiefer Fall“ etwas enttäuscht zurück, da sich hier die Handlung etwas in sich selbst verirrt hatte. „Fester Grund“ punktet dieses Mal nicht mit der Insellandschaft, sondern mit zwei interessanten Fällen und einer wieder überzeugenden Protagonistin, die neben dem scharfen Verstand und auch ihre Schwächen offenbart und so genau jenen Bruch zwischen mutiger, unerschrockener Ermittlerin und leicht zu verunsichernden Partnerin schafft, der sie zu einer vielseitigen und authentischen Figur macht.

Ein klassischer nordic crime, der keine Wünsche offenlässt, außer vielleicht jenem, dass die Trilogie auch bei uns fortgesetzt wird, im schwedischen original ist nämlich inzwischen ein vierter Band erschienen.

Anders Roslund – Geburtstagskind

Anders Roslund – Geburtstagskind

Siebzehn Jahre ist es her, dass ein unglaublicher Mord an einer Familie Kommissar Ewert Grens beschäftigte. Alle außer der kleinen Zana wurden hingerichtet und diese saß drei Tage neben den Leichen und der Torte zu ihrem 5. Geburtstag. Jetzt kommt es in Stockholm wieder zu Morden nach demselben Muster, sind die Täter etwa zurückgekehrt? Grens muss Zana schützen, die inzwischen unter einer neuen Identität lebt. Auch der Undercover Agent Piet Hoffmann ist besorgt, nach Jahren der Ruhe muss er mit seiner Familie wieder untertauchen, wenn er überleben will. Die beiden Männer kämpfen gegen einen unbekannten Feind, der sowohl das Milieu wie auch die Polizei unterwandert zu haben scheint.

Anders Roslund ist zusammen mit Börge Hellström und ihrer Serie um Grens und Hoffmann („3 Sekunden“, „3 Minuten“ und „3 Stunden“) bekannt und inzwischen mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Sein erster Solo-Titel setzt die Reihe fort und überzeugt durch eine rasante Handlung und eine komplexe Geschichte, die den Leser lange rätseln lässt, wer hinter den Kulissen die Fäden zieht.

Die beiden Handlungsstränge um die Kriminalpolizei einerseits und den mehr oder weniger einsamen V-Man, der seine Familie beschützen will, verlaufen parallel. Dass sie zusammenhängen, wird schnell klar, die Frage bleibt jedoch: wie? Es entfaltet sich eine spannende Geschichte, die von zwei ungewöhnlichen Figuren dominiert werden, die einerseits typische Alleingänger sind und nur schwer Vertrauen fassen, andererseits aber auch wissen, dass sich manche Probleme eben nicht im Alleingang lösen lassen.

Ein routiniert erzählter Krimi mit viel Spannung und interessanten Verstrickungen, der aber vor allem durch die psychologischen Komponenten überzeugt.

Agnete Friis – Der Sommer mit Ellen

agnete friies der sommer mit ellen
Agnete Friis – Der Sommer mit Ellen

Vierzig Jahre ist es her, dass Jakob Errbo den Sommer in Ostjütland auf dem Bauernhof seines Onkel Anton und dessen seltsamen Bruder Anders verbracht hat. Als Fünfzehnjähriger entdeckten er und sein Freund Sten die Mädchen, waren fasziniert von den Freigeistern der kleinen Kommune und bewunderten vor allem Ellen. Die ungewöhnliche Frau, die zur Kommune gehörte, aber dann bei den Onkeln einzog und so anders war als all die Mädchen, die sie kannten. Doch dann geschieht ein Mord im kleinen Ort und das Gleichgewicht der Bewohner gerät aus der Balance. Verdächtigungen, Vorurteile – nicht ist mehr wie zuvor und wird es auch nicht mehr sein. Jetzt, vier Dekaden danach, will Jakob für sich und die Onkel Gewissheit haben und Ellen wiederfinden, sie scheint der Schlüssel zur Antwort vieler Fragen zu sein.

Agnete Friis verbindet in ihrem Roman unterschiedliche Genre zu einer ungewöhnlichen Geschichte. Diese ist ebenso Kriminalfall – ein Mädchen tot, eine junge Frau verschwunden – wie sie dem sozialen Realismus zugeordnet werden kann, schildert sie doch die harten Arbeits- und Lebensbedingungen der Landwirte in den 70er Jahren sehr eindringlich und ungeschönt, insbesondere die Dynamiken der Dorfgemeinschaft, als der Druck groß wird, sind leicht nachvollziehbar. Auf zwei Zeitebenen nähert man sich der Wahrheit, mit dem jungen Jakob erlebt man die Zeit 1978 durch die Augen des verliebten und verunsicherten Teenagers, in der Gegenwart begleitet man einen Mann, der gerade eine schmerzliche Trennung hinter sich hat und sich lange verdrängten Erlebnissen stellen muss.

„Der Sommer mit Ellen“ ist kein Wohlfühlroman, ganz im Gegenteil, es liegt eine unangenehme, unbehagliche Grundstimmung über der Geschichte, ebenso wie Jakob sich in seiner Haut und auf dem Hof selten wohl fühlt, bleibt auch bei dem Leser eine gewisse Distanz, da man sich gar nicht zu nah herantrauen möchte. Eben dieses kaum zu fassende, aber doch störende Gefühl zeigt, wie gut es Friis gelingt, die Atmosphäre literarisch zu erschaffen und die unausgesprochenen Dissonanzen zwischen den Figuren spürbar zu machen. Sie bleiben zum Teil vage, was aber an Jakobs Alter liegen mag und gut zu seiner noch vorhandenen Naivität passt. Besonders stark wirkt jedoch das Entsetzen des Jungen, als er förmlich am eigenen Leib erlebt, wozu ein Mensch in der Lage ist und sich selbst nicht wiedererkennt.

Die Journalistin und Autorin stand mit dem Roman 2018 auf der Shortlist für den dänischen Literaturpreis für den besten Roman des Jahres. Ohne Frage eine herausfordernde Erzählung, die in vielerlei Hinsicht viel Stoff zum Nachdenken liefert.

Alexander Oetker – Zara und Zoë – Tödliche Zwillinge

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Alexander Oetker – Zara und Zoë – Tödliche Zwillinge

Zweiter Einsatz für die ungleichen Schwestern. Endlich ist es Europol gelungen, einen Islamisten für sich zu gewinnen und so Zugang zu den Führern und ihren Anschlagsplänen zu bekommen. Doch der Informant scheint in Marokko, unweit der spanischen Enklave Melilla festzusitzen und womöglich ist er auch schon enttarnt. Profilerin Zara von Hardenberg muss handeln und viel Zeit bleibt nicht. Doch der Job ist unmöglich legal zu erledigen, den kann nur eine übernehmen: ihre Schwester Zoë. Diese wollte sich eigentlich nach dem letzten Einsatz zurückziehen, doch ihre eigene Organisation wird bedroht. Dem alten Mafiaboss Bolatelli laufen die Handlanger weg, denn die Al-Hamsi Brüder zahlen schlichtweg besser. Einmal mehr tauschen die Schwestern die Rollen, doch dieses Mal mit ungewissem Ausgang.

Auch im zweiten Band um die Europol-Ermittlerin und ihre Mafia-Schwester ist das Erzähltempo hoch und Bandbreite an Verbrechen und Gewalt kennt kaum eine Grenze. Oetker greift dabei auf aktuelle Bedrohungen zurück: die Angst vor islamistischem Terror hält Europa nach wie vor gefangen, ebenso sind mafiöse Strukturen im französisch-italienischen Grenzgebiet mit Korruption bis zu höchsten Ämtern kein Geheimnis.

Auch wenn ich den Rollentausch etwas bemüht finde, hat mich auch dieser Fall unmittelbar gepackt, so dass er innerhalb kürzester Zeit gelesen war. So verschieden die Schwestern, so unterschiedlich die Wahl der Mittel, besonders Zoë, die sich an kein Gesetzt gebunden sieht, folgt nur ihrem Instinkt (und entwickelt dabei geradezu übermenschliche Fähigkeiten, die dürften für meinen Geschmack etwas näher an der Realität bleiben). Gut gefallen hat mir, wie beiden besonders vom Schicksal der Frauen getroffen waren, trotz all der Härte, die beide mitbringen, bleiben sie so menschlich. Das Ende legt nahe, dass dies nicht ihr letzter Streich gewesen sein kann, man darf gespannt sein, wie sie mit der sich nun bietenden neuen Situation umgehen.

Insgesamt eine routiniert erzählte Geschichte mit viel Action und nicht allzu viel Tiefgang, genau das Maß Unterhaltung, was man gerne mal liest.

Ilaria Tuti – Eiskalte Hölle

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Ilaria Tuti – Eiskalte Hölle

Das norditalienische Bergdörfchen Travenì wird von einem brutalen Mordfall erschüttert. Nicht nur wurde ein geschätzter Bewohner aus der Mitte der kleinen Gemeinschaft gerissen, nein, er wurde mit bloßen Händen getötet und dann hat man ihm die Augen ausgerissen. Was für ein Mensch kann für so eine Tat verantwortlich sein? Auch die herbeigerufene Kommissarin Teresa Battaglia kann sich nur schwer einen Reim auf die Psyche des Mörders machen, fürchtet jedoch schnell, dass es noch weitere Opfer geben wird und zu ihrem Leidwesen behält sie Recht damit. Ein grausames Wesen treibt sich im Wald im das Dorf herum, auch die Kinder haben ihn schon gesehen und nennen ihn nur das Gespenst, weil er leichenblass ist und mit seiner Umwelt verschmilz und so geradezu unsichtbar wird, wenn er nicht gesehen werden will. Teresa hat es mit einem schwer greifbaren Gegner zu tun, doch noch ein anderer Feind setzt ihr zu: ihr eigener Körper. Wird dieser den Strapazen der winterlichen Ermittlungen standhalten und sie den Fall noch lösen können?

Das Thrillerdebut der italienischen Autorin packt den Leser schon nach wenigen Seiten. Leider wurde beim deutschen Titel einiges verschenkt, da die Aussagekraft des Originals („Fiori sopra l’inferno“) verloren geht, die im Buch wieder aufgegriffen wird und mit ein Schlüssel zur Lösung des Falls ist. Genau dieses ist es auch, dass den Roman von anderen des Genres abhebt: es gibt mehr zwischen Himmel und Erde als uns bewusst ist und es gibt Menschen, die eine besondere Verbindung zur Natur haben und mehr wahrnehmen können als andere. Ein schreckliches Ereignis ermöglicht den Blick in die Hölle, den man nie wieder loswird. So geht es Teresa, die ihre Dämonen ständig im Zaum halten muss, so geht es dem Täter. Nur hierüber kann sie sein Denken verstehen, nur so kann sie ihn fassen.

Ein Thriller kann auf vielerlei Weise beeindrucken. Die geschilderte Brutalität, die völlig degenerierte Psyche eines Täters, die clever konstruierte Handlung, das Charisma und der Intellekt des Ermittlers. „Eiskalte Hölle“ fasziniert jedoch durch etwas anderes – wenn hier auch die psychologischen Aspekte ebenso fesseln wie die Figur der Kommissarin – und rückt den Thriller schon stark in die Nähe eines Horrorromans. Die Schilderungen vor allem der Kinder, dass sie ein Wesen im Wald sehen, dass sie sich beobachtet fühlen, dass es eine nicht greifbare Präsenz gibt, jagen einem den Schauer den Rücken hinunter. Man weiß, dass es diese Figur gibt und man weiß, dass sie wieder zuschlagen wird und so beschleunigt sich der Herzschlag beim Lesen mehr als einmal. Vor lauter Sorge, dass doch wenigstens die Kinder verschont bleiben mögen, kann man gar nicht anders als weiterlesen.

Die Angst, die im Dorf umgeht, der Schrecken, der von den verstümmelten Opfern ausgeht – der real gewordene Grusel, dem man sich nicht entziehen kann. Doch dann gelingt der Autorin etwas Unerwartetes: in dem augenscheinlich Bösen erkennt ihre Protagonistin noch etwas ganz anderes und die einfache Dichotomie von Gut und Böse muss infrage gestellt werden. Ein fesselnder Roman, der sich förmlich in den Leser hineinschleicht.

Peter Middendorp – Du gehörst mir

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Peter Middendorp – Du gehörst mir

Tille Storkema wächst in einem niederländischen Dorf auf einem abgeschiedenen Bauernhof auf. Seine Eltern leben so, wie es seit Generationen der Fall war, bestimmt durch den Wechsel der Jahreszeiten, dem natürlichen Gang der Dinge folgend. Als er Ada kennenlernt, wirbelt diese sein Leben durcheinander, sie hinterfragt die nie in Frage gestellten Regeln, fügt sich letztlich aber in die kleine Gemeinschaft ein, denn so etwas wie Familie hat sie selbst nie kennengelernt und vielleicht ist das der Preis für ein Zuhause. Doch dann geschieht etwas, das Tille als er bereits Vater ist, von seinem üblichen Weg abbringt. Ein junges Mädchen, eine Wiese, ein Verbrechen. Doch er wird nicht gefasst. Zwei Jugendliche Asylbewerber verdächtigt man. Und Tille muss mit der Schuld leben.

Schon wenn man den ersten Satz von Peter Middendorps Roman liest, ist einem klar, dass der Autor seine Leser nicht schonen wird. Mit dem grausamen Unfall mit dem Mähdrescher, der Tilles Vater beinahe das Leben gekostet hätte, beginnt die Geschichte und legt den Grundstein für die völlige Verstörung des Jungen, die in dessen Erwachsenenleben erst richtig dramatische Züge annehmen wird. Der Blick in den Kopf eines Mannes, dessen Horizont begrenzt ist, der nie aus seinem Dorf herausgekommen ist und an dem jede Entwicklung vorbeigegangen ist. Keine leichte Lektüre und bisweilen grenzwertig bis verstörend.

Der Roman basiert lose auf dem Mord an der 16-jährigen Marianne Vaatstra, die 1999 in der Nähe ihres Elternhauses in Zwaagwesteinde vergewaltigt und ermordet wurde und deren Tod zu Ausschreitungen gegenüber den Bewohnern eines Asylbewerberheims führten. Der Täter wurde erst 2012 dank einer großangelegten DNA Analyse ausfindig gemacht. Bis dahin lebte der Bauer unbehelligt in der Nähe des Tatortes. Bei der Verhandlung sagte er aus, dass ihm, als er das Mädchen auf dem Fahrrad sah, plötzlich der Gedanke „Du gehörst mir“ durch den Kopf geschossen war und er nicht anders handeln konnte.

Middendorp findet die passende Sprache für dieses verstörende Verbrechen, für diesen gestörten Protagonisten. Starke Parallelen zur Natur ruft er hervor, um die Verbundenheit der Bauernfamilie zu unterstreichen; kurze Sätze und knappe Dialoge versinnbildlichen das schlichte Gemüt Tilles, der das Geschehen als Unfall sieht, der leider unvermeidlich war. Unfälle passieren halt, ohne dass jemand etwas dafür könnte. Ein schockierendes Buch, das so manchem Leser auch schwer zusetzen dürfte.