Syd Atlas – Es war einmal in Brooklyn

Syd Atlas – Es war einmal in Brooklyn

Ende der 70er Jahre haben Juliette und David das Leben vor sich. Sie stehen kurz vor dem Schulabschluss, doch für die besten Freunde hat das Schicksal noch größere Herausforderungen als das Dasein als Außenseiter geplant. David erkrankt und weiß nicht, wie viel Zeit ihm noch bleibt. Juliette verliebt sich, aber die Liebe ist kompliziert, vor allem mit einem todkranken besten Freund. Es sind die entscheidenden Wochen im Leben der beiden Teenager, die sie auseinander und immer wieder auch zusammenführen und ihr enges Band gehörig unter Spannung stellen.

Syd Atlas hat mit „Es war einmal in Brooklyn“ einen bemerkenswerten coming-of-age Roman geschrieben. Die amerikanische Theaterwissenschaftlerin und Schauspielerin, die in Berlin lebt, lässt das Brooklyn einer längst vergangenen Zeit wieder auferstehen, das die Welt der Protagonisten auf einen engen Radius einstampft, der aber trotzdem alle Dramen des Lebens erlaubt. Verwirrte Gefühle, das langsam Lösen und Erwachsenwerden mit allem, was dazu gehört. Es war damals nicht leicht und ist es heute nicht, wird hier jedoch wundervoll erzählt.

Man schließt beide, Juliette wie auch David, sofort ins Herz. Sie sind nicht perfekt, sie sind jung und fehlbar, aber vor allem verletzlich und verletzt. Sie treffen falsche Entscheidungen, die nicht folgenlos bleiben und bereuen auch manches, das sie sagen und tun. Dadurch wirken sie glaubwürdig und echt und man wünscht ihnen, dass alles gut wird. Aber das echte Leben ist nun mal kein Ponyhof ud jede Geschichte findet ein Happy End.

Vor allem die Atmosphäre hat mich sofort gepackt und in der Geschichte versinken lassen. Die Erwachsenen sind nur Randfiguren, wenn auch mit wichtigen Momenten. Die Sorgen und Gedanken der Teenager wirken authentisch und in keiner Weise überzeichnet oder klischeehaft.

Ein Roman, der einem an die eigene Jugend erinnern lässt und mich restlos begeisterte.

Christoph Poschenrieder – Ein Leben lang

Christoph Poschenrieder – Ein Leben lang

„Die Frage, die da im Hintergrund lauerte, die aber niemand, auch ich nicht, aussprach, war doch: Kann ein Mörder unser Freund sein und bleiben? Oder, wenn du es noch mal zuspitzen willst: Können wir es mit unserem Selbstverständnis vereinbaren, dass einer von uns einen Mord begangen hat?“

Die zentrale Frage des Romans wird gegen Ende erst offen ausgesprochen. Vier Freunde befragt der Journalist kurz bevor der wegen Mordes an seinem Onkel verurteilte Freund aus der Haft entlassen wird. 15 Jahre zuvor haben sie dem Prozess beigewohnt, seine Unschuld beteuert, alles drangesetzt, ein anderes Bild von ihm zu zeichnen als jenes, das vor Gericht und in den Medien präsentiert wurde. Einer von ihnen, den sie seit der Kindheit kannten, mit dem sie befreundet, sogar liiert waren, der konnte doch nicht heimtückisch seinen Onkel erschlagen haben. Oder doch? In den Gesprächen lassen sie die zwei Jahre des Verfahrens Revue passieren und wissen am Ende doch nicht sicher, ob ihr Freund schuldig ist oder nicht.

Der Journalist und Autor Christoph Poschenrieder hat sich für seinen Roman von einem realen Fall inspirieren lassen, bei dem Freunde eines Angeklagten ohne Wenn und Aber zu ihm gehalten haben und dies während des mehrjährigen Prozesses beharrlich demonstrierten „Ein Leben lang“ reißt die Fragen an, wie gut man wirklich jemanden kennen kann, wie weit Freundschaft geht oder wie bedingungslos diese ist, auch in Momenten der extremen Herausforderung.  

„Die nennen ihn nie beim Namen. Sie sind die Gruppe und er ist er, oder ‚unser Freund‘. Einer von ihnen und doch nicht. Oder nicht mehr.“

Viel Zeit ist vergangen, Zeit, in der Sebastian, Benjamin, Sabine und Emilia nicht nur älter und reifer geworden sind, sondern in der sie sich auch auseinandergelebt und neu positioniert haben. Mit dem Blick des Erwachsenen stellen sie sich nun nochmals jenen Fragen, mit denen sie schon viele Jahre zuvor konfrontiert waren: wie stichhaltig sind die Indizien? Ist der Freund vielleicht doch ein Mörder? Wenn sie sich so von den Kleinigkeiten täuschen lassen konnten, die vor Gericht als Lügen entlarvt wurden, haben sie sich dann nicht vielleicht auch in seinem Charakter getäuscht? Bei allen Zweifeln bleibt jedoch eine Überzeugung: es war richtig zu ihm zu stehen, denn dafür sind Freunde nun einmal da.

Durch die kurzen Interviewsequenzen wirkt der Roman lebendig und das Gesamtbild setzt sich peu à peu zusammen. Die unterschiedlichen Emotionen, die die Figuren durchleben, von fast euphorischem Kampfwillen bis zu tiefgreifenden Zweifeln fängt er dabei überzeugend ein und lässt sie authentisch und glaubwürdig wirken. Poschenrider schildert ein Ereignis, das menschlich maximal herausfordert, und lädt den Leser ein, sich selbst den Fragen zu stellen, die seit vielen Jahren an seinen Figuren nagen.

Mathijs Deen – Der Holländer

Mathijs Deen – Der Holländer

Unzählige Male schon sind die drei Freunde Aron, Peter und Klaus auf Wattwanderung gewesen, alle wichtigen Routen zwischen den Niederlanden und Dänemark haben sie kartographiert. Nur eine einzige fehlt ihnen noch, für die es ganz besondere Bedingungen braucht. Als es jedoch so weit ist, ist Aron mit seiner Frau in England, weshalb Klaus und Peter alleine losziehen. Am nächsten Morgen birgt ein niederländisches Schiff Klaus tot von einer Sandbank und Peter wird völlig verwirrt aufgefunden. Ein tragisches Unglück? Eine Verletzung an Klaus‘ Ohr lässt anderes vermuten, doch die Frage, wer in diesem Fall ermitteln darf, ist nicht ganz einfach, denn das Opfer wurde im umstrittenen Grenzgebiet aufgelesen, das sowohl die Niederländer wie auch die Deutschen für sich beanspruchen.

Mathijs Deen hat für seinen Roman ein sehr spezielles Thema gewählt, das vermutlich diejenigen, die am Wattenmeer aufgewachsen sind, am ehesten nachvollziehen können. Dem Autor gelingt es jedoch, die Faszination, die dieses einmalige Naturschauspiel auf die Protagonisten ausüben kann, überzeugend zu transportieren. Der Fall, von dem nicht ganz klar ist, ob es überhaupt einen gibt, wird derweil von seinem schweigsamen Ermittler Liewe Cupido, deutscher Polizist niederländischer Herkunft, akribisch mit Blick fürs Detail und guter Menschenkenntnis aufgearbeitet.

„Der Holländer“ sticht in vielerlei Hinsicht aus der Masse der jährlich erscheinenden Kriminalromane heraus. Er lebt nicht von nervenaufreibender Spannung und hohem Tempo, sondern besticht durch die Atmosphäre und den ungewöhnlichen Schauplatz. Wenn man nicht mit den Naturgewalten des Meeres vertraut ist, muss man sich erst der Thematik nähern, die jedoch nebenbei erläutert wird, so dass man die Spuren der Ermittler problemlos nachvollziehen kann. Auch die Grenzstreitigkeit war ein für mich unbekanntes Problem, dessen emotionale Brisanz jedoch ebenfalls überzeugend in die Handlung integriert wird.

Mit Liewe Cupido leitet ein interessant gezeichneter Bundespolizist die Ermittlungen. Scharfsinnig und bestens vertraut mit den Gegebenheiten ignoriert er auch schon einmal Vorschriften und folgt seinem Bauchgefühl. Er passt weder zu den niederländischen noch zu den deutschen Ermittlern, was ihm den Raum gibt, sich selbst zu entfalten und sein Können völlig unprätentiös zu zeigen.

Ein außergewöhnlicher Krimi im deutsch-niederländischen Wattenmeer, der durch seine literarischen Qualitäten besticht.

Ragnar Jónasson – Insel

Ragnar Jónasson – Insel

Hulda Hermannsdóttir muss von der isländischen Hauptstadt auf die zerklüftete Insel Elliðaey reisen, denn dort wirft der Tod einer jungen Frau Fragen auf. Gemeinsam mit drei Freunden verbrachte sie einige Tage in einem Sommerhaus. Nachts scheint Klara alleine die Hütte verlassen zu haben und an einem steilen Felsen abgestürzt zu sein. Doch die Obduktion legt anderes nahe. Bei der Befragung der Freunde zeigt sich auch schnell, dass Alexandra, Benedikt und Dagur etwas verheimlichen und dass sie schon einmal mit einem Todesfall verbunden wurden: Katla, Dagurs ältere Schwester und ebenfalls mit der Clique befreundet, wurde genau 10 Jahre zuvor ermordet aufgefunden. Ihr Vater wurde der Tat beschuldigt und beging im Gefängnis Selbstmord, ein klares Schuldeingeständnis wie Huldas Vorgesetzter erkannte. Je näher die Kommissarin der Wahrheit kommt, desto offenkundiger wird ihr auch, dass es auch in dem alten Fall noch Fragen gibt. Doch diese zu stellen wird dramatische Folgen haben.

„Insel“ ist der zweite Band von Ragnar Jónassons Hulda Trilogie, die chronologisch rückwärts erzählt wird und nun die Kommissarin auf den Höhepunkt ihrer Karriere zeigt. Der Autor arbeitet auch wieder mit der Überlagerung verschiedener Zeitebenen und konstruiert so eine spannende und undurchschaubare Geschichte, in der alle Figuren ihre Geheimnisse und Motive haben. Besonders stark wirkt wieder einmal die Natur, die einerseits als geradezu berauschend schön dargestellt wird, aber auch ihre rauen und abweisenden Seiten hat. Wie schon in „Dunkel“ herrscht eine düstere Atmosphäre, die perfekt zu dem Fall und den gleich bei mehreren Personen vorhandenen Schuldgefühlen passt.

Eigentlich wollen die vier Freunde sich nur nach vielen Jahren wiedersehen und gemeinsam der verstorbenen Katla gedenken. Doch die Stimmung ist von Beginn an vergiftet, es hängt etwas in der Luft und Karlas Alpträume in der Hütte führen auch nicht unbedingt zu einer Verbesserung. Man wundert sich, weshalb sie den Anlass ihres Aufenthalts nicht preisgeben wollen, als Leser hat man aber jedoch recht schnell einen Wissensvorsprung und beobachtet gebannt, ob es Hulda gelingen wird, hinter die Fassade zu blicken und für Gerechtigkeit zu sorgen.

Ein überzeugender Krimi, der jedoch nicht ganz an den ersten Band heranreicht, der mit ungeahnten Wendungen und noch stärkerem Fokus auf Hulda wirklich überraschen konnte.

Nele Neuhaus – In ewiger Freundschaft

Nele Neuhaus – In ewiger Freundschaft

Pia Sanders Ex-Mann bittet sie um einen Gefallen: seine Agentin hat seit Tagen schon nichts von einer Freundin gehört und ist besorgt. Als Pia in Bad Soden ankommt, wartet Maria Hauschild bereits auf sie und in der Tat wirkt das verlassene Haus seltsam. Doch dann finden sich Blutspuren und im Obergeschoss ein dementer alter Mann. Offenkundig ist die Sorge berechtigt. Schnell stößt die Spurensicherung auf weitere Indizien und alle Hinweise führen zu einem renommierten Frankfurter Verlag. Bei Winterscheid war die Vermisste nur wenige Wochen zuvor gefeuert worden und hat das mit einem waschechten Skandal zelebriert. Noch bevor Pia Sander und ihr Chef Oliver von Bodenstein den geringsten Überblick haben, taucht die erste Leiche auf. Und weitere folgen in dem gar nicht so netten Intellektuellen-Milieu.

In „In ewiger Freundschaft“ schickt Nele Neuhaus das Ermittlergespann Sander/von Bodenstein zum zehnten Mal auf Mordermittlung im Taunus. In gewohnter Manier handelt es sich dabei um einen komplexen Fall mit unzähligen Figuren, die alle auf undurchsichtige Weise miteinander verwoben sind und zudem zahlreiche Geheimnisse hüten. Auch das Privatleben der Figuren wird weiterentwickelt, dieses Mal gerät von Bodensteins familiäre Situation stärker in den Blick und fordert den Kommissar ebenfalls erheblich.

Die Fans der Reihe dürften sich schnell wieder heimisch in dem Krimi fühlen. Die Figuren kommen einem nach so vielen Bänden wie gute alte Bekannte vor, die man nur etwas länger nicht gesehen hat, immerhin ist der letzte Band bereits vor zwei Jahren erschienen. Besonders amüsant wie die Autorin sich nebenbei selbst aufs Korn nimmt, indem sie den Rechtsmediziner und Ex-Mann von Sander, Henning Kirchhoff, zum Autor einer Taunus-Krimireihe mit zufälligerweise identischen Titeln ihrer Serie macht.

Der Fall spielt in einem undurchsichtigen Verlagsmilieu und hat, wie sich schnell ergibt, Verbindungen zu einer mehr als 30 Jahre zurückliegenden Episode. Allein die Menge an Figuren zu überblicken – einige dabei schon längst verstorben – erfordert schon einige Aufmerksamkeit des Lesers. Nur langsam lichtet sich das Netz von Lügen und Verstrickungen, löst sich aber letztlich überzeugend und glaubhaft motiviert.

Ein routiniert erzählter Krimi, der die Erwartungen an die Reihe voll bedient. Wer bereits Fan von Sander und von Bodenstein ist, wird auch mit diesem Fall einige spannende und unterhaltsame Lesestunden erleben. Auch wenn man den eigentlichen Kriminalfall ohne das Vorwissen aus den vorgehenden Romanen nachvollziehen kann, bleibt doch bei den zentralen Figuren meines Erachtens einiges an Seitenhieben auf der Strecke, wenn man ihre Vorgeschichte nicht kennt.

Kacen Callender – Felix Ever After

Kacen Callender – Felix Ever After

Schon als kleiner Junge wusste Felix Love, dass irgendetwas sich komisch anfühlt. Er wollte nicht mit den Mädchen spielen, keine Kleider tragen, sondern lieber mit den Jungs toben. Als er sich in einem Buch wiedererkennt, versteht er, dass er transgender ist. Sein Vater, mit dem er alleine in Harlem lebt, nachdem seine Mutter sie verlassen hat, ermöglicht ihm die Transition und dank des Umzugs ist ein Neuanfang als Junge möglich. In seiner Schule geht er offen damit um, was für die Mitschüler kein Problem zu sein scheint, bis er transphobe Nachrichten bekommt und sein Deadname zusammen mit einem alten Bild von ihm veröffentlicht wird. Eigentlich will der 17-Jährige sich doch nur verlieben und seine Kunstmappe für die Bewerbung an der Uni vorbereiten, doch jetzt muss er herausfinden, wer ihn in immer stärkerem Maße mobbt und keineswegs so aufgeschlossen ist, wie Felix es von allen dachte.

Kacen Callenders Roman ist stark von den persönlichen Erfahrungen der Autorin geprägt. Sie identifiziert sich als trans und queer und bevorzugt im Englischen die Pronomen they/them. Der Roman wurde mit dem „Stonewall Children’s and Young Adult Literature“ ausgezeichnet, der herausragende Bücher ehrt, die LGBTIQ+ Erfahrungen literarisch umsetzen. „Felix Ever After“ beschreibt sehr eingängig, wie Felix seine Identität sucht und gleichzeitig, welche Erlebnisse der Jugendliche in einer vermeintlich offenen Gesellschaft macht, in der Pride Parades als Happening gefeiert werden, wo aber im Alltag genauso rassistische wie LGBTIQ+ feindliche Aussagen und Handlungen an der Tagesordnung sind.

Was mir besonders gefallen hat, war, dass die Geschichte verdeutlicht, dass der Protagonist ein völlig normaler Jugendlicher ist, der sich verlieben möchte, den typischen Schulalltag erlebt und sich Sorgen um seine Zukunft macht. Er unterscheidet sich in dieser Hinsicht in keiner Weise von allen anderen Gleichaltrigen, was häufig vergessen wird, wenn diese Gruppe auf das Geschlecht bzw. die Geschlechtsidentität reduziert wird. Er ist sich unsicher, was seine Gefühle angeht, wünscht sich nichts mehr als den emotionalen Rausch und die großen Gefühle, die er bei anderen beobachtet.

Dennoch ist er anders, denn nicht jeder wird mit solchen Angriffen konfrontiert und Kacen Callender zeigt auch gut nachvollziehbar, dass trotz der Transition die Suche nach der Identität, nach einem passenden Label – gibt es das überhaupt? – nicht abgeschlossen ist, sondern weiterhin Fragen und Unsicherheiten bleiben. Felix geht offen mit seiner Situation um, was ihn angreifbar macht. Im Inneren ist er aber nicht der laute, selbstbewusste Junge, sondern voller Zweifel, die er schließlich schafft künstlerisch umzusetzen und nach außen zu kehren.

Ein gelungener Roman für Leser, die sich der Thematik annähern und diese besser verstehen lernen wollen, aber genauso sicherlich auch für junge Leser, die womöglich auf der Suche nach Vorbildern sind oder hier eine Antwort auf das finden können, was sie womöglich fühlen, aber nicht einordnen können.

Kent Haruf – Ein Sohn der Stadt

Kent Haruf – Ein Sohn der Stadt

Samstagnachmittag im November, ein roter Cadillac, der auf der Hauptstraße parkt. Erst interessiert sich niemand für ihn, doch dann wird man aufmerksam und noch mehr steigt die Neugier in dem kleinen Ort Holt in Colorado, als sich rumspricht, wer in dem Wagen sitzt: Jack Burdett, berühmtester Sohn der Stadt, einst hoffnungsvoller Footballstar und Retter der Farmer Kooperative. Bis er verschwand und mit ihm ein Haufen Geld der Kooperative, seine Frau und die Kinder ließ er zurück. Nach acht Jahren ist er nun also wieder da und kann nicht auf einen freudigen Empfang hoffen, denn die Wunden, die er gerissen hat, sind noch immer nicht verheilt. Pat Arbuckle, Lokaljournalist und ehemals bester Freund von Jack, ist ebenso gespannt wie alle andere, doch er hat noch einen ganz anderen Grund sich für den Rückkehrer zu interessieren als die lange zurückliegenden Ereignisse.

Kent Haruf erzählt in seinem Roman die Geschichte eines Lebens und einer Kleinstadt in ihrer verhängnisvollen Wechselwirkung. Der gefeierte Sportler, dem man alles verzeiht und der dank seiner Ausstrahlung immer wieder auf die Füße fällt, egal, was er anstellt, bis er den Bogen überspannt und dennoch den Ort weiter in seinem Griff hält. Aber Holt ist es auch, das ihn zu dem hat werden lassen, was er ist, und so müssen die Bürger auch ein Stück weit mit ihrer eigenen Schuld leben.

Man könnte glauben, dass eine amerikanische Kleinstadt im Mittleren Westen der 1960/70er Jahre nicht wirklich reizvoll für einen Roman ist. Dem Autor gelingt es jedoch, den Leser sofort zu packen und man will wissen, wie es dazu kommen konnte, dass der Sohn der Stadt verschwand und wie die offenkundig noch offenen Rechnungen beglichen werden. Vor allem das subtile Foreshadowing, das Andeuten von dem, was geschehen wird, gelingt Haruf meisterhaft und so kreiert er eine Spannung, die bis zur letzten Seite fesselt.

Auch wenn Jack und Pat nicht wirklich Antagonisten sind, wird an ihnen beiden doch der Kontrast zwischen den Lebensentwürfen verdeutlicht. Jack ist bildungsfern, dafür verfügt er jedoch über Kraft, die er auf dem Spielfeld und der lokalen Fabrik gewinnbringend einsetzen kann. Pat hingegen weiß, dass er die Zeitung seines Vaters irgendwann übernehmen wird und folgt dem vorgezeichneten Plan Schule – Studium – Zeitung – Familiengründung. Immer wieder kreuzen sich die Wege, während Pat geradeaus geht, mäandert Jack und schafft es immer wieder, Menschen für sich zu gewinnen und sich so neue Chancen zu eröffnen. Dabei agiert er jedoch rücksichtslos und egoistisch, was aber niemanden zu stören scheint.

Es ist aber auch die Geschichte des Kleinstadtlebens, wo nichts verborgen bleibt, jeder jeden kennt und in erster Linie: wo die Männer das Sagen haben. Die Frauen leiden still und ertragen unwidersprochen den Platz, den man ihnen zu weist. Wanda Jo, die Jack über Jahrzehnte anhimmelt und alles für ihn tun würde, muss die öffentliche Demütigung ertragen; auch Pats Frau, die aus der Großstadt kam und Kunst und Kultur liebte, stellt ihre Bedürfnisse hinter jene ihres Mannes und mimt 18 Jahre lang schweigend die brave Hausfrau und Mutter. Nur Jessie, Jacks Frau, wagt es irgendwann, laut die Stimme zu erheben, was jedoch relativ pikiert zur Kenntnis genommen wird.

Eine sprachlich und gestalterisch grandiose Kleinstadtstudie, die restlos begeistert.

Brandon Taylor – Real Life

Brandon Taylor – Real Life

Wallace ist Doktorand an einer vorwiegend von Weißen besuchten Universität im Mittleren Westen. Als Schwarzer aus Alabama hat er sich vom ersten Tag an als Außenseiter gefühlt, nicht nur im Labor, in dem er mit Nematoden arbeitet, sondern auch in seinem kleinen Freundeskreis. Er befindet sich an einem Scheideweg, stellt seine Arbeit in Frage, für die er scheinbar gänzlich ungeeignet ist und die ihm auch bei weitem nicht so wichtig ist wie seinen Mitdoktoranden, aber auch privat ist er unglücklich. Beziehungen sind schwierig, er hat eine Art Affäre mit Miller, der jedoch sein homosexuelles Dasein öffentlich leugnet. Zu dieser ungünstigen emotionalen Gemengelage kommt Wallace’ permanentes Gefühl, Rassismus ausgesetzt zu sein. Er hat diverse Erlebnisse, die ihn aufgrund seiner Hautfarbe klar in eine Schublade stecken und herabwürdigen, zugleich hat dies in ihm eine provokante Haltung befördert, mit der er aneckt und so wiederum neue Konflikte heraufbeschwört. Er wird zu einer tickenden Zeitbombe, es ist nur nicht klar, ob er explodieren oder implodieren wird.


„Eigentlich wollte er nicht die Universität verlassen, sondern sein Leben.“

Gerade von Vertreter:innen der queeren Scene in den USA ist Brandon Taylors Debütroman mit großer Begeisterung aufgenommen worden. Die Stärke von „Real Life“ liegt zweifelsohne in der Darstellung der Zerrissenheit und Isolation des Protagonisten. Der Autor überlagert verschiedene Narrative von Diskriminierung, indem Wallace sowohl als Schwarzer wie auch als Homosexueller und zudem aus einer sozial- wie finanzschwachen Familie stammt, ist er in vielerlei Hinsicht Außenseiter und Randfigur in seinem eigenen Leben. Auch für ihn selbst ist nicht immer eindeutig zuzuordnen, wogegen sich die Angriffe gerade richten, die er erlebt.

„Wallace räusperte sich. « Ich weiß würde nicht sagen, dass ich alles hinschmeißen will, aber ja, ich habe darüber nachgedacht. »

« Warum solltest du so was tun? Du weißt schon, bei den Aussichten für… für Schwarze? »“

Vom ersten Tag an ist die Universität nicht der befreiende Ort, den Wallace erwartet hatte. Immer wieder hat er Begegnungen, die wohlmeinend als unsensibel oder offengesagt als rassistisch einzuordnen sind. An seinen fachlichen Defiziten kann er arbeiten, aber irgendwann wird ihm klar, dass er nie passend sein wird für sein professionelles Umfeld, da er das Defizit Schwarzer zu sein, schlichtweg nicht ändern kann. Dies kann er ebenso wenig abstreifen wie seine Vergangenheit, die er hinter sich lassen wollte.

Die Schwierigkeiten, Vertrauen zu fassen und funktionierende Beziehungen zu führen, sind seiner Kindheit und den Erlebnissen zu jener Zeit geschuldet. Seine Eltern konnten ihm kein Vertrauen vermitteln, was seine Grundfähigkeit, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen und an das Gute zu glauben nachhaltig erschüttert ist. Zeigt er sich einerseits devot, immer bereit, seine Schuld einzugestehen, auch wenn es dafür keinen Grund gibt, kann er andererseits extrem provozieren und natürlich auch enttäuschen.

Wallace ist keine einfache, sympathische Figur. Seine destruktive Grundhaltung macht es schwer, einen Zugang zu ihm zu finden. Aber so wenig wie der Leser ist er in seinem Leben beheimatet und sicher. Man kann seine Perspektive vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen verstehen, auch wenn sie befremdlich sind, insofern öffnet der Autor eine fremde Welt für den Leser, deren Denkstrukturen vielfach näher an jener Wallace‘ Antagonisten sein dürfte. Sein Rückzug ist nachvollziehbar, zugleich jedoch auch ein Zeichen seines eigenen Egoismus und ein Stück weit auch der Verachtung, die er anderen gegenüber hegt: als nämlich seine asiatische Kollegin von ihren eigenen Rassismuserfahrungen berichtet, negiert er diese.

Ein Roman voller Emotionen, der bereichern wie auch abstoßen kann. Mit gutem Grund stand der Roman auf der Shortlist des 2020 Booker Prize, ein literarischer Beitrag zur hochaktuellen Diskussion.

Noa Yedlin – Leute wie wir

Noa Yedlin – Leute wie wir

In Tel Aviv eine bezahlbare Wohnung zu finden, gleicht inzwischen einem Sechser im Lotto, ein ganzes Haus zu vertretbarem Preis kaufen zu können, einem Wunder. Osnat und Dror entscheiden sich daher für ein nicht ganz so tolles Viertel, die Erfahrung der letzten Jahre zeigte, dass der Wohnungsmarkt sehr aktiv ist und auch vormals unattraktive Quartiere plötzlich zu trendigen Hotspots werden können. Schon vor dem Kauf hatten sie sich vergewissert, dass es dort normale Familie gibt, wie ihre mit den beiden Töchtern Hamutal und Hannah, und nicht nur seltsame Figuren wie ihr Nachbar, mit dem die erste Begegnung schon zu Streit führte. Doch auch nach dem Einzug bleibt immer ein seltsames Gefühl: sind sie wirklich sicher dort in der Gegend, war die Entscheidung richtig oder haben sie sich und die Mädchen direkt in die Katastrophe geführt?

Noa Yedlin ist in ihrem Heimatland eine erfolgreiche und bekannte Schriftstellerin, deren Romane auch regelmäßig verfilmt werden. In „Leute wie wir“ greift sie ein seit vielen Jahres hochaktuelles Thema der israelischen Hauptstadt auf: die Preise auf dem Immobilienmarkt sind explodiert und drängen gerade Familien immer mehr an den Rand der Stadt. Die Situation zehrt unweigerlich an den Nerven und selbst nachdem die Osnat und Dror ein passendes Haus gefunden haben, sind sie noch lange nicht wieder in ruhigen Gewässern, ganz im Gegenteil, das Drei-Fünf-Viertel mit seinen Bewohnern bringt auch ihre Beziehung an ihre Grenzen.

My home is my castle – was aber, wenn der ältere Nachbar von nebenan immer im Garten sitzt und alles Tun kritisch beäugt und kommentiert? Es dauert nicht lange, bis er zum roten Tuch wird und Osnat und Dror in ihm den Hauptverdächtigen bei allerlei seltsamen Vorkommnissen (Kakerlaken, der zerstörte Briefkasten, ein möglicher Einbruch) sehen. Doch er ist nicht der einzige, der bei ihnen gemischte Gefühle hervorruft. Michal und Jorge machten eigentlich einen sympathischen Eindruck, als sie sie bei ihrer Stadtteilerkundung kennenlernten. Doch ihre Ansichten und Vorurteile sind zweifelhaft, vor allen Dingen passt ihr Handeln und das, was sie sagen, so gar nicht zueinander. Auch Shani und Lior sind nicht die Freunde, die sie sich ausgesucht hätten, aber irgendwie werden sie sie nicht mehr los, vor allem, da die Töchter Freundschaft geschlossen haben. Ihre Kampfhunde und die zweifelhafte Einstellung gegenüber Behörden lassen bei Osnat immer wieder alle Alarmglocken läuten.

Sie wollen eigentlich mit ihrer kleinen Familie nur in Ruhe auf ausreichend Raum leben, aber nicht unbedingt mit Menschen aus dem falschen Milieu oder da, wo die Schulen nicht den besten Ruf haben. Als sie zum ersten Mal mit Gewalt konfrontiert werden, müssen sie akzeptieren, dass sich nicht alle Wünsche vereinbaren lassen. Aber die Alternative, ein kleines Appartement in einer besseren Gegend, ist auch nur bedingt attraktiv. Sie wollen sich abgrenzen von den Menschen, die in ihrem neuen Viertel leben und doch müssen sie immer wieder erkennen, dass sie eigentlich gar nicht so anders sind. Das, was ihnen an ihrem Nachbar und den beiden befreundeten Paaren missfällt, ist oft genau das, was sie sich selbst auch zuschreiben müssen.

Bei allen sozio-politischen Facetten, die angesprochen werden, ist für mich jedoch ganz klar die Beziehung zwischen Osnat und Dror und das, was der Dauerstress mit ihnen macht, der stärkste Aspekt des Romans. Sie raufen sich zusammen, prallen voneinander ab, bewegen sich wieder auf einander zu, kollidieren und finden keine wirkliche gemeinsame Richtung. Sie leben einen Alltag, wie viele, der sie gefangen hält und nur manchmal ein klein wenig eine Tür zu einem anderen Leben aufstößt.

Ein außergewöhnlicher Roman, der einerseits humorvoll bis absurd, zugleich aber auch verstörend wirkt.

Ein herzlicher Dank geht an den Verlag KEIN & ABER für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autorin und Roman finden sich auf der Verlagsseite.

Orkun Ertener – Was bisher geschah (und was niemals geschehen darf)

Orkun Ertener – Was bisher geschah (und was niemals geschehen darf)

Sie wollen nur ausgelassen das Abitur feiern, so wie alle Jahrgänge vor ihnen, doch dann geschieht das Unfassbare: Paul wird angefahren und schwer verletzt. Zwar überlebt er, aber fortan wacht er jeden Morgen auf und hat vergessen, was seit dem Unfall geschehen ist. Sein bester Freund seit Kindheitstagen, Finn, kann nicht mit den Schuldgefühlen umgehen und zieht sich zurück. Monate vergehen, bis Finn Paul in der Reha besucht und dort Unglaubliches erfährt: offenbar plant ihr ehemaliger Mitschüler Khalil einen Terroranschlag. Paul überredet Finn, ihm zu helfen und Khalil zu finden. So beginnt ein aberwitziger Roadtrip nach Berlin und London, der schließlich in Hamburg endet und die beiden Freunde innerhalb weniger Tage erwachsener werden lässt als all die Jahre zuvor.

„Paul war in einem Alptraum erwacht, den er jeden Tag aufs Neue ertrug, ohne ihn je zu verstehen, schlimmer noch, ohne sich jemals an ihn zu erinnern.“

Es ist ein Unfall, wie er tagtäglich auf deutschen Straßen geschieht, der das Leben der drei Freunde völlig aus der Spur wirft. Paul lebt in seiner eigenen Welt, die er sich tagtäglich neu erarbeiten muss. Finn hat jeglichen Halt verloren und vegetiert tatenlos in seinem Kinderzimmer vor sich dahin. Khalil versucht lange Zeit noch retten, was vor dem Unfall war, bevor er aufgibt und sich scheinbar radikalisiert ob der Ungerechtigkeit der Welt. Es ist kein klassisches coming-of-age-Setting, das Orkun Ertener gewählt hat, ums Erwachsenwerden geht es eher in zweiter Linie. Es ist ein Roman über Schuld, Schulgefühle und den Umgang mit ihnen, und ebenso ein Roman darüber sich und seine Freunde zu erkennen und so anzunehmen wie sie sind.

Ein Brief Khalils mit der Ankündigung eines Anschlags setzt die Handlung letztlich nach einer Phase der Schockstarre, die durch den Unfall ausgelöst wird, in Gang. Die Suche nach dem Freund treibt Paul und Finn an, gibt ihnen dabei die Gelegenheit das zu erzählen, was sie voreinander geheim gehalten haben. Obwohl sie beste Freunde waren, gab es Ungesagtes, nicht Sagbares, aus unterschiedlichsten Gründen Verschwiegenes. Zwar muss sich Paul täglich die Welt wieder erarbeiten, gleichzeitig hat er jedoch auch erkannt, dass er vergessen kann, eine Gabe, die Gesunden nicht gegeben ist, die unweigerlich allen Ballast mit sich tragen müssen.

Finn, Paul und Khalil waren für mich keine sympathischen Figuren, nicht nur, weil sich ihre Melancholie auch auf einem als Leser legt. Dennoch erscheinen sie authentisch im Umgang mit den Erlebnissen und der Welt, in der sie leben. Sie haben keine guten Strategien und die schlechten versagen dann auch noch, aber das ist nun einmal ein Teil des Erwachsenwerdens: manchmal scheitert man kläglich.