Malin Stehn – Happy New Year

Silvester, letzter Tag des Jahres und die Chance, dass im neuen alles besser wird. Doch für die Familien von Lollo und Max und ihren Freunden Fredrik und Nina endet die Nacht im schlimmsten Horror. Ihre Töchter feiern eine Party, am Ende ist eine davon tot. Die Eltern zwischen Vorwürfen und Schuldgefühlen. Haben sie ihre Kinder nicht ausreichend beschützt? Oder tragen sie sogar Schuld? Denn plötzlich drohen alte Geheimnisse ans Licht zu kommen und Gewissheiten zu erschüttern.

Die schwedische Autorin und Übersetzerin Malin Stehn ist in ihrer Heimat vor allem durch Kinder- und Jugendbücher bekannt geworden. Mit „Happy New Year“ wagt sie sich ins Spannungsgenre und kann unmittelbar überzeugen. Aus wechselnden Perspektiven erzählt sie die Geschichte, die immer ein paar Lücken lässt und so Raum für Spekulation eröffnet und die Spannung steigert.

Happy, glücklich, ist leider keine der Figuren. Alle tragen sie ihr Päckchen, stecken fest in verfahrenen Beziehungen, haben den Kontakt zueinander verloren. Ein schreckliches Verbrechen bringt sie auch nicht wieder zusammen, sondern lässt sie noch weiter voneinander entfernen. Die Perspektivwechsel erlauben einen Einblick in die Gedanken und Zweifel der Figuren. Bald scheint alles möglich, jeder zu allem fähig, keine noch so schreckliche Tat mehr unvorstellbar.

Eine spannende Geschichte, die alle Abgründe der menschlichen Natur an die Oberfläche spült und zeigt, wozu Rache fähig.

Sally Rooney – Schöne Welt, wo bist du

Sally Rooney – Schöne Welt, wo bist du

Nach einem langen Klinikaufenthalt flüchtet sich die Schriftstellerin Alice in ein kleines Örtchen an der irischen Küste. Dort hofft sie in der Ruhe und Abgeschiedenheit wieder Kraft zu finden. Schnell macht sie Bekanntschaft mit dem Lagerarbeiter Felix, der so anders ist als die Menschen sonst in ihrem Leben. Etwa ihre beste Freundin Eileen, die in Dublin bei einem Literaturmagazin arbeitet oder Simon, Eileens Jugendfreund, mit dem sie eine on/off Beziehung pflegt. Über E-Mail stehen Alice und Eileen in Kontakt, tauschen alle Geheimnisse und vor allem die Sorgen, die sie plagen: was erwarten sie eigentlich von ihrem Leben? Was müssten sie tun, um wirklich glücklich zu sein? Gibt es so etwas wie Glück überhaupt?

Die vielfach für ihre Romane ausgezeichnete irische Schriftstellerin Sally Rooney gilt als Stimme ihrer Generation. Mit „Schöne Welt, wo bist du“ setzt sie das Thema fort, das sich schon in ihren ersten beiden Romanen, „Gespräche mit Freunden“ und „Normal People“, fand: eine Generation, der quasi die ganze Welt offensteht, die intellektuell gebildet ist und doch mit dem Leben hadert, geplagt wird von depressiven Verstimmungen und Selbstzweifeln; unfähig sich selbst zu lieben gelingen auch Beziehungen zu anderen kaum.

Die beiden Protagonistinnen Alice und Eileen verbindet eine langjährige Freundschaft, die auf ihre Studienzeit zurückgeht. Sie teilen alle intimen Gedanken und können philosophische Fragen ebenso miteinander erörtern wie ihr Liebesleben. Sie sind nicht mehr ganz jung, das Leben hat bereits Spuren hinterlassen: bei Alice war es durch den Erfolg ausgelöster Druck und Stress, die in einem Zusammenbruch endeten. Eileen hat das Ende einer langjährigen Beziehung nicht verwunden und wendet sich wieder ihrer Jugendliebe zu, was jedoch auch in einem komplizierten hin und her endet.

Es gibt tatsächlich eine nur recht reduzierte Handlung, was aber den Fokus auf das Innenleben der Figuren erlaubt. Mit Felix, der in vielfältiger Weise anders ist als die drei Freunde, wird ein interessanter Gegenpol geschaffen, der ausspricht, was die Figuren selbst vor sich nicht zugeben würden, der polarisiert und provoziert und so Spannungen überreizt. Zugleich leidet er genauso unter seiner eigenen Lebenssituation, ist ebenso unsicher mit Hang zur Depression wie Alice, Eileen und Simon.

Die Geschichte ist noch vor dem Lockdown angesiedelt, dabei befinden sich die Figuren schon längst in einem selbstgemachten Miniaturkosmos. Sie sind passiv, ihr Leben geschieht, sie gestalten nicht, haben zu viel Angst davor eine Entscheidung zu treffen und verharren daher eher, als dass sie etwas tun würden. Sie wollen den anderen nicht zu nahetreten und treten daher bei dem leisesten Anklang von Widerstand den Rückzug an. Sie wissen nicht, wer sie sind, was sie empfinden, was sie vom Leben erwarten. In dieser Weise von sich selbst verunsichert, wird es ihnen unmöglich, anderen offen zu begegnen und zu lieben.

Auch wenn ich nicht zu der geschilderten Generation gehöre und mich auch nicht mit den Figuren identifizieren kann, lese ich Rooneys Romane doch gerne. Was ihr auch in diesem gelingt, ist es Ambiguitäten einzufangen, die die Figuren authentisch wirken zu lassen und eine dauerreflexive Innensicht auch wieder mit literarischen Ausflügen zu verbinden.

Lana Bastašić – Fang den Hasen


Lana Bastašić – Fang den Hasen

Ein Anruf katapultiert Sara aus ihrem Leben in Dublin zurück in ihre Kindheit und Jugend nach Bosnien. Einst waren sie und Lejla unzertrennliche Freundinnen, am ersten Schultag haben sie sich kennengelernt und selbst beim Studium noch die Bank geteilt. So gegensätzlich sie waren – Sara Tochter des Polizeichefs, immer eher zurückhaltend und nachdenklich, Lejla die Wilde aus der Familie mit zweifelhaftem Ruf – so eng war doch die Freundschaft. Ebenso zu Lejlas Bruder, der nur wenige Jahre älter für Sara der erste Kontakt zu einem Jungen darstellte. Bis Armin verschwand, wie so viele zur Zeit des auseinanderfallenden Jugoslawien. Doch nun ist er scheinbar in Wien und Lejla benötigt einen Fahrer, weshalb sie nach 12 Jahren Funkstille um Saras Hilfe bittet.

Lana Bastašićs Roman „Fang den Hasen“ wurde 2020 mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. Dieser wird jährlich an aufstrebende Schriftsteller:innen verliehen und würdigt den Reichtum der zeitgenössischen Literatur sowie das kulturelle und sprachliche Erbe Europas. Obwohl die Autorin viele Jahre in Irland und auch Spanien lebte, erschien der Roman in bosnischer Sprache. Als Mitbegründerin des „3+3 sisters“ Projekts fördert sie Schriftstellerinnen des Balkans. Dort ist auch ihre Geschichte tief verwurzelt.

Das weiße namenlose Kaninchen, dem einst schon Alice in das Wunderland folgte, ist einer der wesentlichen Verbindungen zwischen Lejla und Sara. Immer wieder taucht der Hase und die Erinnerung an diesen bzw. auch dessen Nachfolger im Roman auf. Wie die andere literarische Mädchenfigur stößt auch Sara auf zahlreiche Türen, wenn auch in ihrem Gedächtnis, die sich nach und nach öffnen und all das, was sie viele Jahre vergessen glaubte, wieder hervorbringen.

Die Reise der beiden Freundinnen von Mostar nach Wien ist kein fröhlich-freudiges Wiedersehen. Eine hat sich davongemacht, im reichen Europa ein gutes Leben gefunden, während die andere zwischen den Trümmern des Balkankrieges über die Runden kommen muss. Konnten sie als Kinder noch über die Ungleichheiten und die Zugehörigkeit zu verschiedenen Volksgruppen hinwegsehen, war es für die jungen Erwachsenen nicht mehr möglich, die unterschiedlich verteilten Privilegien zu ignorieren.

Aus Sicht Saras wird die Begegnung mit der Vergangenheit geschildert. Dies ist notwendigerweise völlig subjektiv und wirft immer wieder auch Fragen auf – ist sie wirklich so unschuldig an der Situation, wie sie sich sieht? Sind ihre Erinnerungen korrekt oder hat sie sich etwas zusammengereimt, was für sie die günstigere Darstellung ist? Diese hindern sie jedoch nicht an einem humorvollen und oft ironischen Erzählton, der locker durch die Handlung trägt, auch wenn diese durchaus nachdenklich stimmende und hochpolitische Aspekte beinhaltet. Es ist kein harmloser Roadtrip, auf den sich beiden jungen Frauen begeben, dieser ist nur der Hintergrund, vor dem sich die Zerrissenheit einer ganzen Region offenbart.

Ein beachtenswertes Debüt, das unter einer lockeren Oberfläche einen tiefen Abgrund bereithält.

Steintór Rasmussen – Rache aus der Tiefe des Meeres

Steintór Rasmussen – Rache aus der Tiefe des Meeres

Schon seit Wochen haben sich die sechs Freundinnen des Strickclubs darauf gefreut ein gemeinsames Sommerwochenende in Gjógvará an der Nordostküste der färöischen Insel Eysuroy zu verbringen. Sie kennen sich bereits seit Schultagen und haben inzwischen alle Familie und Karriere. Der erste Abend beginnt feuchtfröhlich als sich zu später Stunde Bjørg entschließt, noch einen Spaziergang zu machen. Kurze Zeit später erreicht den Rest der Gruppe die Information, dass in der Nähe ein Haus in Feuer aufgegangen und darin der pensionierte Lehrer Tummas Pól  ums Leben gekommen sei. Schnell ist klar, dass dies kein Unfall und kein Suizid sein kann und von Bjørg fehlt jede Spur. Ihr Spaziergang sollte sie unmittelbar zur Unglücksstelle führen – ist sie dort dem Täter begegnet?

Steintór Rasmussen ist färöischer Sänger und Autor, „Rache aus der Tiefe des Meeres“ ist der zweite Roman der Serie um die Strickclub-Freundinnen, der zwar gelegentlich Bezug auf die vorausgegangenen Ereignisse nimmt, jedoch auch ohne Kenntnis des ersten Bandes problemlos gelesen werden kann. Gereizt hat mich an der Geschichte vor allem der Handlungsort, sind Island-Romane, insbesondere Krimis, seit vielen Jahren in großer Fülle vorhanden und erfolgreich, waren mir die Färöer-Inseln bislang literarisch unbekannt. Meine Erwartung wurde diesbezüglich auch voll erfüllt: die Landschaft und die Eigenart der Bewohner spielen eine entscheidende Rolle für die Entwicklung des Falles und liefern so neben der spannenden Mordermittlung Einblick in eine fremde Welt.

Als Leser hat man gegenüber den beiden Ermittlern Jákup und Birita einen gewissen Vorsprung, da man neben der aktuellen Handlung in der Gegenwart parallel immer wieder Erinnerungen einer Figur präsentiert bekommt, die nach und nach das Motiv für die Tat enthüllen und das Schicksal eines gebeutelten und immer wieder gedemütigten Menschen schildern. Zunächst ist dies nicht ganz in Zusammenhang zu bringen, so einfach ist dann Handlung dann nämlich doch nicht gestrickt.

Als man jedoch die Verbindung herstellen kann und nur noch die Frage bleibt, wann der Täter gefasst wird, aber nicht mehr, wer es war, verschiebt sich auch der Fokus von der Ermittlung hin zu den psychologischen Faktoren, die einen Menschen an den Rand der Existenz und in einen emotionalen und gedanklichen Ausnahmezustand bringen können. Dies nimmt zwar etwas Tempo und Spannung raus, hat mir jedoch ausgesprochen gut gefallen, weil die Entwicklung der Figuren nicht nur glaubwürdig ist, sondern auch ihr Handeln so überzeugend motiviert. Vieles dabei ist unmittelbar an die Bedingungen auf den Atlantikinseln geknüpft und kann sich nur dort zu abspielen, was der Geschichte ein besonderes Flair verleiht und sie von der Krimimasse abhebt.

Ein psychologischer Krimi in außergewöhnlicher Umgebung, der hauptsächlich von der Atmosphäre lebt. Bisweilen erscheint er sprachlich etwas ruppig, was jedoch zum Charakter der Figuren passt, die durchaus den Anschein erwecken, ein eigener Menschenschlag zu sein.

Valerie Keogh – The Three Women

valerie keogh the three women
Valerie Keogh – The Three Women

Sie sind beste Freundinnen seit Beginn ihres Studiums, doch nun zwanzig Jahre später wird die Freundschaft auf eine schwere Probe gestellt. Ein verhängnisvoller Abend, als sie nur ihren Abschluss feiern wollten, holt die Polizistin Beth, Staatsanwältin Megan und Agenturinhaberin Joanne wieder ein. Es war nur eine falsche Annahme, eine kleine Lüge, doch diese hat den Lebensweg aller drei Frauen bestimmt. Eine unbedarfte Bemerkung bringt alles ans Licht und nun müssen sich die drei Freundinnen dem stellen, worauf sie ihr Leben aufgebaut haben: Lügen.

Der Psychothriller beginnt eher gemächlich, das Verhältnis der Frauen scheint eher unentspannt, dafür, dass sie beste Freundinnen sein sollen. Auch die Reaktionen ihrer Partner wirken etwas überzogen. Doch dann plötzlich entfaltet der Roman sein ganzes Drama und wird zu einem überzeugenden Thriller, der einem die Geschichte nur so um die Ohren fliegen lässt. Ein Ereignis jagt das nächste und kaum glaubt man das Ausmaß der Katastrophe zu überblicken, setzt Valerie Keogh noch eins drauf. Eine unerwartete Entdeckung, die neugierig auf mehr von der Autorin macht.

Luba Goldberg-Kuznetsova – Lubotschka

luba-goldberg-kuznetsova-lubotschka
Luba Goldberg-Kuznetsova – Lubotschka

Nicht mehr lange bis Lubotschka und ihre Mutter das geliebte Sankt Petersburg gen Deutschland verlassen werden. Doch ein paar Ereignisse stehen noch an: der Schulabschluss mit dem Ball, der 18. Geburtstag, die erste Nach mit einem Mann, noch einmal Silvester. Obwohl sich das Mädchen auf das neue Leben freut, wird sie doch fast vom Wehmut übermannt. Kann man sich angemessen von der Heimatstadt verabschieden? Sie birgt so viele Erinnerung an das Internat, die Schuljahre, die Freundinnen und natürlich all die Wege, die sie in den vielen Jahren gegangen ist: auf dem Newski Prospekt, an der Newa entlang oder der Fontanka, in die teuren Boutiquen und auf die billigen Märkte.

Es liegt auf der Hand, dass in ihrem Debüt sehr viel von der Autorin selbst liegt. 1982 im damaligen Leningrad geboren, hat sie genau wie die Protagonistin den großen Wandel und die Öffnung gen Westen in den 1990er Jahren als junges Mädchen erlebt und ist 2001 nach Deutschland gekommen, wo sie Philosophie und literarisches Schreiben studierte.

Zwei Aspekte haben mich im Roman besonders begeistert. Zum einen ist der Erzählton authentisch, man glaubt wirklich einem jungen Mädchen gegenüberzusitzen, das die Welt entdeckt. Die große politische Welt interessiert sie nicht, es sind die unmittelbaren Dinge um sie herum, die ihre Gedanken ausfüllen: die Freundschaften mit den Klassenkameradinnen, die internationalen Zeitschriften mit ihren meist oberflächlichen Themen rund ums Aussehen, die neueste Mode und Schminke und vor allem das perfekte Kleid für den Abschlussball. Gleichzeitig liest sie aber klassische Literatur und beobachtet und analysiert messerscharf das Treiben auf den Petersburger Straßen. Sie kommt aus einem typischen Elternhaus, das gebildet aber arm ist. Die Mutter muss als Lehrerin trotzdem noch auf der Straße Kwas verkaufen und triebt einen kleinen Handel mit Waren aus Polen. Designermode ist nicht drin, ebenso nur eine kleine Wohnung in einer Chruschtschowka.

Daneben kommt der Petersburger Atmosphäre zu Beginn des Jahrtausends eine große Rolle zu. Immer wieder bewegt sich das Mädchen durch die Stadt, die so langsam zu einem Bild entsteht. Zwischen den großen klassizistischen Gebäuden wie der Eremitage oder Gostiny Dwor, den Boulevards und den Ufern der Newa bewegt sie sich häufig in Trolleybus oder Metro und blickt bereits nostalgisch auf das, was sie verlassen wird. Es begegnen ihr die reichen Ausländer wie die armen Russen, erste lesbische Liebespaare zeigen sich öffentlich und im Fernsehen spricht der neue starke Mann an der Macht. Die Westmarken sind bekannt, auch die Waren kann man kaufen – könnte man, wenn man sie sich leisten könnte. Es war die Zeit voller Hoffnung, die noch nicht von den harten Jahren kündete, die vor dem Land standen.

Luba Goldberg-Kuznetsova ist eine neue Stimme im Literaturbetrieb, die eine ähnliche Geschichte wie Lena Gorelik oder Alexandra Friedmann hat und sich wie die beiden anderen zwischen Journalismus und Literatur bewegt. Ganz definitiv eine Generation von beachtenswerten Frauen, die auf Deutsch schreiben, aber ihr (weiß)russisches Erbe durchscheinen lassen, dass ihnen einen ganz eigenen Ton verleiht.

Håkan Nesser: Intrigo I – In Liebe, Agnes

INTRIGO von Hakan Nesser
Håkan Nesser: Intrigo I – In Liebe, Agnes

Agnes und Henny sind Schulfreundinnen, die sich vor Jahrzehnten aus den Augen verloren haben. Henny ist es, die nach dem Tod von Agnes Ehemann zu dieser per Brief wieder Kontakt aufnimmt. Bei Agnes löst sie Erinnerungen an die gemeinsame Zeit aus, aber auch an das Ereignis, das die Freundschaft auseinanderbrechen lies. Doch nun scheint die Zeit der Vergebung gekommen zu sein, denn Henny hat eine große Bitte an ihre ehemals beste Freundin: ihr Mann hat eine Geliebte und soll dafür mit dem Tod bezahlen. Auf Agnes kommt sicherlich niemand, denn sie hatten über unzählige Jahre keinen Kontakt. Da Agnes gerade in einer finanziell schwierigen Situation steckt, geht sie auf das Angebot ein und so bereiten die beiden Frauen gemeinsam das Ableben des untreuen Ehemanns vor.

„In Liebe, Agnes“ ist schon ein älterer Roman Håkan Nessers, der von btb wiederholt aufgelegt wurde und auch als Hörbuch gelesen von Andrea Sawatzki bereits erschienen ist. Anlässlich der Verfilmung mehrerer Kurzkrimis von Nesser unter dem Sammeltitel „Intrigo“ wurde auch dieser Roman neu produziert und von Dietmar Bär gelesen. Zur Serie gehören ebenfalls „Die Wildorchidee aus Samaria“ und „Tod eines Autors“, das Buch enthält zusätzlich „Tom“ und „Sämtliche Informationen in der Sache“.

Auch wenn es in dem Roman um einen Mord geht, was man schon früh in der Geschichte weiß, ist er eigentlich kein Krimi und Spannung kommt er spät auf. Dies tut dem Hörgenuss aber keinen Abbruch, denn Nesser ist ein begnadeter Geschichtenerzähler und in „In Liebe, Agnes“ fokussiert er mehr auf das, was früher zwischen den Freundinnen war als auf dem Mord. Man weiß, dass es ein Ereignis gegeben haben muss, dass die beiden Freundinnen entzweit hat und durch die Briefe und die dadurch ausgelösten Erinnerungen nähert man sich langsam. Dass Agnes den „Auftrag“ so schnell angenommen hat, verwunderte mich und so war klar, dass es hier mehr dahintersteckt als man zunächst ahnt. Der Showdown erfüllt dann auch die Erwartungen und kann plötzlich mit einem hohen Tempo und Nervenkitzel aufwarten.

Man erkennt die Handschrift Nessers sofort, für mich einer der überzeugendsten schwedischen Erzähler, der von Dietmar Bär auch passend intoniert wird.

Christine Mangan – Nacht über Tanger

Nacht ueber Tanger von Christine Mangan
Christine Mangan – Nacht über Tanger

Es ist ihr Mann John, der darauf drängt nach Tanger zu ziehen, Alice Shipley ist wenig begeistert davon und fühlt sich in Marokko sichtlich unwohl. Sie wurde auf ihrem Mädchen-College in Neuengland auch nicht auf ein solches Leben vorbereitet, überhaupt sollte eine junge Frau in den 1950ern in geordneten Verhältnissen leben. Alice ist einsam und unglücklich als plötzlich ihre ehemalige Zimmergenossin Lucy vor ihr steht. Schnell blüht sie auf, verlässt das Haus, doch mit Lucy sind auch die bösen Erinnerungen zurückgekehrt und Alice weiß, dass sie ihrer vermeintlichen Freundin nicht trauen darf. Die Vergangenheit hat sie eigentlich gelehrt, möglichst viel Abstand zwischen sich und Lucy zu bringen – doch nun sind sie auf engstem Raum und Alices schlimmste Befürchtungen sollen sich bewahrheiten.

Christine Mangan hat mit „Nacht über Tanger“ einen Roman geschrieben, der unerwartete Züge eines Psychothrillers entwickelt. Atmosphärisch überzeugt er auf jeder Seite und man hat von Beginn an den Eindruck, zurückversetzt in die 50er Jahre zu sein und kann die Hitze Afrikas regelrecht spüren. Neben den psychologisch interessant gezeichneten Figuren war es vor mich vor allem Tanger in Mangans Darstellung, das nicht nur glaubwürdig, sondern nahezu greifbar erscheint.

Der Reiz der Geschichte liegt im psychologisch geführten Kampf zwischen den beiden Frauen. Zunächst erscheinen sie als Freundinnen, doch bald wird durch ihre Erinnerungen klar, dass dem nur bedingt während der Studienzeit so war und dass es ein dramatisches Ende gegeben haben musste, dass sie entzweite. Diese Wissenslücke an sich sorgt schon für Spannung, viel raffinierter und eindrucksvoller jedoch ist das Vorgehen Lucys bei dem man sich letztlich nur noch fragt, wie weit sie bereit ist tatsächlich zu gehen. Und dann geht sie noch einen Schritt weiter.

Tanger war einer der Sehnsuchtsorte von Amerikanern und Europäern gleichermaßen in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg, doch die Flucht nach Afrika hat nicht alle Probleme beseitigt, die es zuvor gab und so stellt Youssef fest:

„Ein Dummkopf (…) bleibt ein Dummkopf, ob zu Hause oder hier. Gerät man zu Hause in Schwierigkeiten, sollte man sich nicht wundern, wenn man auch hier in Schwierigkeiten gerät. Man bleibt ja überall derselbe Mensch. Tanger mag zwar etwas Magisches an sich haben, aber Zauberkräfte besitzt diese Stadt auch nicht.“

Es ist etwas Magisches, das bei der Beschreibung der Kasbah durchscheint, aber auch dies kann nicht überdecken, was die Figuren mit sich bringen und wovor sie versuchen zu fliehen. Auch wenn Tanger im Roman für fast alle zum Alptraum wird, selten konnte ein Handlungsort einen solchen Reiz verströmen wie bei Christine Mangan. Ganz sicher neben der Figurenzeichnung und dem Handlungsaufbau die größte Stärke der Autorin.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal und die Verlagsgruppe RandomHouse für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Titel und Autor finden sich auf der Verlagsseite.

Jane Gardam – Weit weg von Verona

jane-gardam-weit-weg-von-verona
Jane Gardam – Weit weg von Verona

Jessica Vye nimmt kein Blatt vor den Mund und sich anzupassen ist auch nicht ihre große Stärke. Unweigerlich gerät die Zwölfjährige immer wieder in heikle Situationen, aus denen sie kaum einen Ausweg findet. Freunde hat sie kaum, erst mögen die anderen Kinder sie, aber bald schon wenden sie sich von ihr ab. Auch ihre Lehrerinnen scheinen sie nicht zu verstehen und vor allem ihr literarisches Talent nicht zu entdecken. Während draußen in der Welt der Zweite Weltkrieg tobt, wird Jessicas Leben in dem englischen Dörfchen von Alltagssorgen und ersten literarischen Entdeckungen geprägt.

Jane Gardams Debütroman wurde bereits 1971 geschrieben und auch hier zeigt sie schon ihr Talent für außergewöhnliche Charaktere und einen unheimlich sympathischen Erzählton, der den Leser mitnimmt und der dank der lockeren und heiteren Art begeistern kann. Allerdings bleibt sie in „Weit weg von Verona“ in der Figurenzeichnung noch hinter ihren späteren Romanen, vor allem der Trilogie um Old Filth Edward Feathers, zurück, was aber auch dem Alter der Protagonistin geschuldet sein könnte.

Jessicas Welt ist klein und überschaubar. Die Außenwelt dringt zwar am Rande zu ihr durch – der Krieg, die nächtlichen Bombardements, die Gasmasken – kann aber nicht wirklich ihr Bewusstsein durchdingen und so konzentriert sich die Handlung auf ihren kleinen Radius von Zuhause und Schule. Immer wieder bringen sie vermeintlich gute Ideen in Schwierigkeiten, dies ist einerseits völlig abzusehen, dennoch aber amüsant und herzlich mitzuerleben.

Vanessa Loibl findet im Hörbuch auch die passende Stimme für das vorlaute und aufgeweckte Mädchen und transportiert ihre etwas altkluge, aber doch herzliche Art überzeugend.

Margaret Atwood – The Robber Bride

Margaret-Atwood-the-robber-bride
Margaret Atwood – The Robber Bride

Die Freundinnen Roz, Charis und Tony trauen ihren Augen nicht: die Frau, die gerade das Restaurant betritt, in dem sie ihr monatliches gemeinsames Essen haben, ist doch tot. Sie waren sogar bei ihrer Beerdigung! Aber Zenia, ihre ehemalige Kommilitonin, ist quicklebendig, was nichts Gutes bedeuten kann. Alle drei haben sie ihre Erfahrungen mit der charismatischen Frau gemacht, sind von ihr belogen und betrogen worden und haben alles, was ihnen wertvoll und wichtig war, verloren. Doch wer ist Zenia überhaupt und wo hat sie in den vergangenen Jahren gesteckt?

Margaret Atwoods Roman „The Robber Bride“ wurde bereits 1993 zum ersten Mal veröffentlicht. Es ist eine Geschichte von Verrat, Vertrauensmissbrauch und Hinterlist – aber diese Eigenschaften können nur wirken, wenn ein anderer gutgläubig, vertrauensselig und naiv ist. Die drei Freundinnen werden erst zum Trio durch die gemeinsamen Erlebnisse. Die Erkenntnis, dass sie alle drei auf Zenia hereingefallen sind und ihre Leichtgläubigkeit gnadenlos ausgenutzt wurde, eint sie im finalen Kampf gegen die hinterlistige und gefährliche Frau.

Der Roman beginnt am Ende mit der unerwarteten Begegnung, bevor er in Flashbacks erzählt, was zum Teil Jahrzehnte zuvor geschah. Vieles ist eigentlich recht vorhersehbar, die Manipulationen sind nicht besonders raffiniert, dennoch wirken sie, weil sie im richtigen Moment die richtige Stelle treffen. Menschen können noch so intelligent sein, sie haben ihre verletzlichen Momente und verletzlichen Seiten, die sie anfällig für Betrüger macht.

Margaret Atwood greift einmal mehr auf die urmenschliche Blindheit zurück in ihrer Erzählung. Man sieht nur, was man sehen möchte und verschließt die Augen vor dem Offenkundigen, auch wenn es sich direkt vor einem abspielt. Die drei Frauen lassen sich manipulieren und rennen offenen Augens in ihr Verderben. Man hat nur begrenzt Mitleid mit ihnen, dabei sind sie Zenias Opfer – diese ist durch und durch böse und bietet eigentlich keinen Raum für Sympathien.

Nachdem ich aktuelle Werke von Atwood gelesen hatte, die mich schnell überzeugen konnten, nun etwas älteres und die Erkenntnis, dass es sich lohnt, auch diese näher zu betrachten.