Louise O’Neill – Asking for it [dt. Du wolltest es doch]

Louise O’Neill – Asking for it

Emma O’Donovan hat trotz ihrer erst 18 Jahre ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Sie weiß, dass sie die Hübscheste ist, auf jeden Fall hübscher und begehrenswerter als ihre Freundinnen. Dank des Einkommens des Vaters, einem angesehenen Bankdirektor, kann ihre Familie auch ein finanziell entspanntes Leben führen, auch wenn andere in der Kleinstadt noch etwas vermögender sind, aber damit können sich die Töchter auch nur begrenzt Aussehen und Bewunderung erkaufen. Nach einer Party wacht Emma eines Nachmittags auf der Veranda auf, völlig benebelt und ohne jede Erinnerung an das, was am Abend zuvor geschehen ist. Doch es dauert nicht lange, bis sie auf den Social-Media-Kanälen alles dokumentiert findet: offenbar hat sie sich gleich mit mehreren Männern eingelassen, die alles dokumentiert haben. Emmas Ruf ist ruiniert, doch bald steht auch die Frage im Raum, ob sie all dem überhaupt zugestimmt hat.

Louise O’Neill lässt erst gar keine Zweifel aufkommen: ihre Protagonistin ist eine furchtbare Figur, der man bald schon nur das Schlimmste wünscht. Aber gleich sowas? Geschickt spielt sie mit den Emotionen der Leser, es fällt einem schwer, Mitleid zu empfinden für jemand, der sich derart verlogen und rücksichtslos auch gegenüber vermeintlichen Freundinnen verhält. Ihr Charakter ist geprägt von einem ausufernden Egoismus und Egozentrik, liebenswert ist kaum etwas an ihr.

Auch an dem Abend, der zu dem entscheidenden Ereignis führt, verhält sie sich nach gewohnten Mustern und manövriert sich selbst leichtsinnigerweise in diese Situation. Doch ist sie schuld an dem, was man ihr antut? Und sind die darauffolgenden Reaktionen des Umfeldes gerechtfertigt? Die ganze Familie erfährt Verachtung und Ausgrenzung, beschuldigt sie doch angesehene Jungs der Gemeinschaft und Emmas Verhalten ist hinlänglich bekannt. Es folgt der psychische Niedergang aller, eine logische Konsequenz, die jedoch faktisch die Opfer doppelt bestraft.

Man kommt als Leser emotional nicht ganz aus der Zwickmühle heraus. Manche Aspekte sind klar, die „boys will be boys“ Kultur, das Wegsehen und Leugnen offenkundiger Gewalttaten, doch gerade die Tatsache, dass die Opferperspektive nicht so eindeutig den Unschuldstouch hat, macht es einem schwer, Emma als das zu sehen, was sie ist und das Ereignis von ihrem Charakter und der Vorgeschichte zu lösen. Ein aufwühlender, aber lesenswerter Roman mit zudem unerwarteten Ende.

Patricia Dixon – #MeToo

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Patricia Dixon – #MeToo

Als Billie einen langen Brief von ihrem Ex-Freund erhält, kehrt sie nach über einem Jahr auf einer griechischen Insel zurück nach Manchester. Stan sitzt im Gefängnis, verurteilt wegen einer Vergewaltigung, die er angeblich nicht begangen hat. Billie hat ihn nie als gewalttätig erlebt, aber wer weiß, was das Beziehungsende und ihre Flucht mit ihm gemacht hat? Stan bittet sie, mit einem Privatdetektiv zusammenzuarbeiten, der ebenfalls Zweifel an der Darstellung des Opfers hegt, doch bislang konnten sie noch keine stichhaltigen Beweise finden. Billie stimmt zu und nimmt über eine Opfergruppe Kontakt zu Kelly auf. Als diese ihre Sicht der Geschehnisse schildert, kommt sie ins Grübeln. Dieselbe Geschichte, detailgenau, aber in zwei völlig widersprüchlichen Versionen. Wer sagt die Wahrheit, der verzweifelte Ex im Gefängnis oder die junge attraktive Frau, die sichtlich von den Erlebnissen gezeichnet ist?

Patricia Dixon bringt in ihrem Psychothriller die Problematik der Stunde hervorragend auf den Punkt: was zwischen zwei Menschen geschieht, spielt sich häufig verschlossen vor Außenstehenden in den eigenen vier Wänden ab. Vermeintlich eindeutige Belege sprechen vielfach eine unklare Sprache und lassen sich in dieser oder jener Weise deuten. Das Leid von vielen Frauen, denen über Jahre nie Glauben geschenkt wurde, soll keineswegs in Zweifel gezogen werden, aber es ist auch eine Realität, dass gerade auch das Gegenteil passiert: falschen Anschuldigungen wird schnell geglaubt, weil sich niemand dem Vorwurf schuldig machen möchte, ein Opfer nicht ernstgenommen zu haben.

Die Protagonistin ist hervorragend geeignet, um zwischen die Stühle zu geraten. Einerseits kennt sie Stan seit Jahren, aber sie hatte auch gute Gründe ihn zu verlassen, auch wenn bei ihr der Fall etwas anders lag, aber sie wurde ebenfalls Opfer einer Gewalttat und hat von ihm nicht das Verständnis für ihre emotionale Ausnahmesituation erhalten, das sie gebraucht hätte. Andererseits hat sie ihn als Partner nie in der ihm vorgeworfenen Weise erlebt, wieso sollte er sich in so kurzer Zeit so grundlegend ändern? Kelly wiederum wirkt zunächst wie ein traumatisiertes Opfer, aber einige ihrer Verhaltensweise lassen doch aufhorchen. Schon früher gab es ähnliche Anschuldigungen ihrerseits, auch ihr Lebensstil und ihr beruf wollen nicht richtig zusammenpassen und sie scheint geradezu besessen von Selbsthilfegruppen zu sein, sie sucht pro Woche gleich mehrere auf. Hat sie da vielleicht genau das gehört, was sie sich jetzt zu eigen macht?

Als Leser nähert man sich zusammen mit Billie langsam dem, was man für die Wahrheit halten kann. Mal schlägt das Pendel mehr in diese, mal mehr in jene Richtung aus, geschickt streut die Autorin immer wieder Zweifel an beiden Seiten, so dass man wirklich lange Zeit nicht sicher sein kann, die tatsächlichen Geschehnisse zu durchschauen. Obwohl es sich um einen Thriller handelt, gelingt es Patricia Dixon auch bei guter Unterhaltung und hoher Spannung die Thematik differenziert zu beleuchten und keineswegs die eine oder andere Seite entscheidend zu bevorzugen, schwarz und weiß sind letztlich oft einfach zu wenige Farben in der Debatte.

Martina Borger – Wir holen alles nach

Martina borger - wir holen alles nach
Martina Borger – Wir holen alles nach

Zwei Frauen, die verschiedener kaum sein könnten. Ellen ist bereits im Ruhestand, mit Zeitungen austragen und Nachhilfeschülern kommt sie gerade so über die Runden. Sie genießt das ruhige Leben, Trubel hatte sie genug und nun ist es Zeit, das Leben so zu gestalten, wie sie es möchte. Sina steckt mit Mitte 30 zwischen den bekannten Polen Karriere in einer Werbeagentur und ihrem Sohn Elvis, dem sie nicht gerecht werden kann, weil ihr Job und auch die neue Beziehung regelrechte Zeitfresser sind. Als Elvis bei Ellen die Nachhilfe beginnt, ist dies der Anfang einer ungewöhnlichen Freundschaft. Der zurückhaltende Junge blüht bei der agilen Seniorin auf, lernt einen anderen Blick auf die Welt und ist vor allem von Ellens Hund restlos angetan.

Martina Borgers Roman ist eine ruhige Geschichte über die unscheinbaren, völlig normalen Menschen, die nicht im Mittelpunkt stehen (wollen), aber durchaus aufmerksam die Welt um sich herum beobachten. Die unaufgeregte Erzählweise öffnet den Raum für die vielen Zweifel, die die Figuren in ihrem Alltag begleiten, nicht zwingend die ganz großen Tragödien und Ereignisse, sondern die Kleinigkeiten, die an ihnen nagen und sie belasten. Man kann ihre Gedanken leicht nachvollziehen, spiegeln sie doch das wieder, was viele aus ihrem eigenen Leben kennen. Und trotz all dieser fast banalen Gewöhnlichkeit, haben sie etwas Besonderes in sich, dass sie interessant macht und weshalb man ihre Geschichte verfolgt. Es ist genau dieser kleine Funke, der einem in der Realität manchmal durchgeht und weshalb man nicht merkt, welch interessante Menschen einem begegnen.

Sina erlebt den klassischen Zwiespalt der arbeitenden Mutter, die immer das Gefühl hat, nicht genügend Zeit und Geduld für ihren Sohn zu haben und unter dem permanent schlechten Gewissen leidet. „Wir holen alles nach“ bleibt ihr unermüdlich wiederholtes Mantra, irgendwann, wenn mal Zeit ist. Sie ist zwar froh darüber, wie gut es Elvis bei Ellen geht, wie er offenbar der unscheinbaren Zeitungsausträgerin aufmerksam zuhört und die Tage mit ihr genießt, aber der Ärger, dass die fremde Frau ihrem Sohn gibt, was sie ihm geben sollte, nagt auch an ihr. Verschärft wird die Situation plötzlich, als Vorwürfe von Misshandlung aufkommen und sie beginnt, an ihrem neuen Partner zu zweifeln.

Ellen wiederum kann sich nicht wirklich von den Erwartungen ihres Familien- und Freundeskreises lösen, die ihr immer wieder vorhalten, dass sie zu viel alleine ist. Gerne würde sie ihre Söhne häufiger sehen, die angespannte finanzielle Lage jedoch verhindert dies immer wieder. Der junge Elvis scheint jedoch genau zu ihrem Rhythmus zu passen und von der ersten Minute an harmonieren sie miteinander. Muss sie sich nicht um ihn kümmern, kommen aber auch unweigerlich Erinnerungen in ihr hoch, ein Großteil ihres Lebens liegt nun schon hinter ihr und manche Dinge hätten womöglich auch einen ganz anderen Ausgang nehmen können.

Der Roman besticht durch seine Ruhe und den gelassen-bedachtsame Erzählton. Miete, Job, Familie – genau dieselben Sorgen, die jeden plagen, beschäftigen auch die Figuren. Dazwischen können Menschen, vor allem Kinder, schon einmal aufgerieben werden, aber manchmal wartet an unerwarteter Stelle genau der eine Mensch, der die richtigen Worte findet und allein schon durch seine Präsenz ganz viel auffängt.  Ein Roman wie gemacht für das Frühjahr 2020, gibt er so viel bekanntes Leben zurück, das uns mit social distancing und Rückzug ins HomeOffice genommen wurde.

Ein herzlicher Dank geht an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar. mehr Informationen zu Autorin und Buch finden sich auf der Verlagsseite.

Karen M. McManus – Two can keep a secret

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Karen M. McManus – Two can keep a secret

Schon immer war Ellery fasziniert von True Crime Stories, vermutlich, weil ihre Tante Sarah als junge Frau spurlos verschwand. Als ihre Mutter einen längeren Klinikaufenthalt antreten muss, zieht sie zusammen mit ihrem Zwillingsbruder Ezra nach Echo Ridge zu ihrer Großmutter, der Ort des Verbrechens, der kein gutes Pflaster für junge Frauen zu sein scheint. Just als sie dort ankommen wird nämlich der fünfjährige Todestag der hübschen Lacey begangen. Kurz darauf wird die Stadt durch diffuse Morddrohungen alarmiert und es dauert nicht lange, bis wieder ein Mädchen verschwindet. Ellery ist verschreckt und fasziniert zugleich und beginnt wildeste Theorien über den möglichen Mörder zu spinnen. Dieser ist womöglich näher als sie ahnt, denn Malcolm, mit dem sie sich in der neuen Schule anfreundet, ist der Bruder des Hauptverdächtigen.

Karen McManus konnte mich mit ihrem ersten Roman „One of Us is Lying“ restlos begeistern. Der Nachfolger reicht leider nicht ganz an diesen heran, wenn auch die Geschichte überzeugend konstruiert ist und man lange Zeit völlig im Dunkeln tappt. Gefallen hat mir die Protagonistin mit ihrem Spleen für True Crime Geschichten, der sie zur engagierten Detektivin macht und immer wieder neue Theorien über die Geschehnisse in der Kleinstadt entwickeln lässt.

Gleich mehrere Verbrechen werfen große Fragen auf, ob und wie diese im Zusammenhang stehen, bleibt lange unklar. Mit Ellery und Ezra kommen zwei Außenseiten in die Kleinstadt, die sich die Verbindungen der Bewohner untereinander erst erarbeiten müssen und so gemeinsam mit dem Leser ein Bild von Echo Ridge entwickeln. Dass sie selbst unmittelbar mit den Geheimnissen verbunden sind und gefühlt jede Figur auch etwas zu verheimlichen hat, hält sie Spannung konstant hoch, auch wenn ich mir bisweilen etwas mehr Tempo gewünscht hätte. Die einzelnen Fälle werden am Ende insgesamt glaubhaft gelöst, wobei mein persönliches Highlight – Achtung Spoiler! – der Schlusssatz war. Ich mag es, wenn irgendwie alles vorbei ist und dann aus dem Nichts nochmals ein Akzent, oder eher ein heftiger Schlag, gesetzt wird.