Maxim Leo – Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße

Maxim Leo – Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße

Michael Hartungs ruhiges Leben in seiner Videothek wir nachhaltig gestört, als der Journalist Landmann im Herbst 2019 in seinem Laden auftaucht. Akribisch hat dieser die Stasi-Akten durchforstet und ist dort auf ein spektakuläres Ereignis gestoßen, das bis dato von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde: am 12. Juni 1983 gelangen 127 DDR-Bürger mit einer S-Bahn in den Westen, weil eine Weiche am Bahnhof Friedrichstraße falsch gestellt war. Genau diese Weiche hatte Hartung damals verantwortet. Für seine Hilfe zur Flucht wurde er in einem berüchtigten Foltergefängnis zwei Monate lang malträtiert, um die Hintermänner offenzulegen, doch er schwieg beharrlich und nahm alles auf sich. Ganz so war es zwar nicht, aber bevor Hartung den Reporter stoppen kann, ist die Geschichte in der Welt und er pünktlich zum 30-jährigen Jubiläum der Wiedervereinigung der ostdeutsche Held, auf den alle gewartet haben.

Maxim Leo porträtiert die Geschichte eines einfachen Mannes, der wider Willen zum nationalen Helden wird und machtlos zusehen muss, wie eine kleine Lüge, mehr eine Unstimmigkeit, sich ihren Weg bahnt und nicht mehr aufgehalten werden kann. Er gerät in die Maschinerie der Presse und Öffentlichkeit, genießt den Ruhm auch ein wenig, doch das schlechte Gewissen plagt ihn. Und das ist es auch, was ihn letztlich zum Helden macht. Eine humorvolle Tour de Farce mit einem gänzlich untypischen Protagonisten, der die Geschichte jedoch großartig trägt.

Hartung lebt völlig ambitionslos, wenn auch bescheiden, in seinem Kiez. Die Videothek läuft nicht mehr gut seit es Streamingdienste gibt, weshalb er auch mit der Miete im Verzug ist. Da kommt ihm das Geld, das im Landmann für seine Geschichte bietet, gerade recht. Dieser hört die Geschichte, die er hören will, die ihm selbst Renommee einbringen wird und so ist das ungleiche Gespann schnell in einer Erzählung gefangen, die sie nach all der öffentlichen Aufmerksamkeit weiterspinnen müssen. Landmann vermarktet seinen ostdeutschen Helden perfekt, doch dieser hadert zunehmend, vor allem, da er mit Paula unerwartet die Frau seines Lebens getroffen hat und ihr, wie auch seiner Tochter, ebenfalls die etwas modifizierte Wahrheit aufgetischt hat. Im Herzen bleibt er derselbe, der er immer war, er hat nie nach viel Geld oder Ruhm gestrebt und will doch nur sein altes Leben zurück.

Die Figuren sind herrlich gelungen, der einfältige Held wider Willen, der Journalist, der seine große Chance wittert, ebenso wie die plötzlich durch den neuen Star am Himmel der ehemaligen DDR-Bürger bedrohten altbewährten Zeitzeugen, denen nicht mehr die Gunst der Politik zufliegt. Medien und Politbetrieb bekommen auch ihr Fett ab, denn sie sind es letztlich, denen der Mensch hinter der Geschichte egal ist, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen, wer oder was dabei auf der Strecke bleibt, ist relativ egal.

Ein wundervoller fiktionaler Beitrag zur deutsch-deutschen Geschichte, der humorvoll nicht nur die Unzulänglichkeiten des Antihelden, sondern auch von uns allen offenlegt.

Husch Josten – Eine redliche Lüge

Die Autorin Elise kehrt zurück in die Normandie, wo sie in dem Jahr, bevor die Pandemie alles veränderte, vier Monate auf der Domaine de Tourgéville von Margaux und Philippe Leclerc verbrachte. Nach Abschluss ihres Literaturstudiums noch ohne berufliche Ziele arbeitete sie als Haushaltshilfe für das schillernde Paar, das regelmäßig illustre Gäste auf das Anwesen einlud und rauschende Soireen gab. Von der ersten Begegnung ist Elise fasziniert von den beiden; obwohl schon Jahrzehnte verheiratet scheinen sie immer noch innig miteinander verbunden und haben nicht aufgehört tiefsinnige Gespräche zu führen. Gebildet und weltoffen diskutieren sie mit ihren Gästen – von hohen Bankchefs bis zum Gärtner findet sich das komplette Panoptikum der Gesellschaft – ebenso über Literatur wie über Politik oder ganz persönliche Dinge. Ein Sommer, der für Elise nie zu Ende gehen müsste, dann aber einen unerwartet dramatischen Ausgang nimmt.

„Ich möchte, hatte Margaux bei einem unserer Abendessen theatralisch bekundet, am letzten Tag eines Sommers sterben. Nun. Sie ist nicht tot.“

Husch Josten konnte mich mit ihren beiden letzten Romanen „Hier sind Drachen“ und „Land sehen“ bereits restlos begeistern, lange musste ich mich auf den nächste gedulden, doch es hat sich gelohnt. Nicht nur ist „Eine redliche Lüge“ der perfekte Begleiter für den ausklingenden Spätsommer, der sich ideal im Garten genießen lässt, sondern er lädt mit einer Vielzahl an Themen zum Nachdenken ein und begleitet einem so auch über die letzte Seite hinaus noch weiter. Die Erzählerin beobachtet als Außenstehende das Treiben, saugt das Leben und die Erfahrungen der extravaganten Gästeschar auf, die so anders sind als das biedere Elternhaus, in dem sie großgeworden ist und muss am Ende des Sommers doch erkennen, dass sie – trotz intensiven Beobachtens und Zuhörens – das Wesentliche übersehen hat.

Es wird viel geredet in dem Roman, detailliert werden die abendlichen Konversationen von Elise wiedergegeben. Sie empfindet es als vollkommenes Glück, bei der Schriftstellerin und dem Geschäftsmann verweilen zu dürfen, ahnt jedoch noch nicht, dass diese Unbeschwertheit ein jähes Ende finden wird.  Thematisch wandern die Gespräche von Untreue, der Rolle der Literatur, dem Klimawandel und Traumdeutung, über die sich in Europa ausbreitende Fremdenfeindlichkeit bis hin zu #metoo und Femiziden. Doch all dies verschwindet hinter Margaux und Philippe, die Elise auch nach Wochen noch nicht wirklich fassen kann:

„(…) wurde ich skeptisch. Warum das alles? Worüber redeten die Leute eigentlich? Und vor allem: Warum holten sich ausgerechnet Margaux und Philippe, zwei kluge, nicht oberflächliche Menschen, ein solches Panoptikum ins Haus?“

Die Gäste wollen gefallen, präsentieren sich, lechzen nach Anerkennung und Bewunderung, dabei geht unter, dass Margaux und Philippe diejenigen sind, die ihnen etwas vorspielen. Bis zum 25. August, dem letzten heißen Tag des Sommers. Langsam baut sich die Spannung auf, der Titel verrät schon, dass es ein Geheimnis gibt, das sich den Weg ans Licht bahnen wird. Es kommt jedoch nicht langsam, sondern mit einem Paukenschlag zum Vorschein.

So wie die Erzählerin von ihren Gastgebern in einen Bann gezogen wird, fesselt einem auch das Buch. Man will mehr von diesem Paar wissen, vor allem, was es mit dieser Lüge auf sich hat und welches unheilvolle Schicksal am Ende des Sommers wartet. Trotz der Spannung lässt es sich leicht in den Abendgesellschaften versinken, man hat geradezu das Gefühl, mit am Tisch zu sitzen und neben den geistvollen Gesprächen auch die verführerischen französischen Speisen zu genießen.

Was kann man mehr von einem Roman erwarten, als der Eindruck, ebenfalls Gast zu sein und die Figuren nicht nur aus der Ferne zu beobachten?

Lydia Mischkulnig – Die Richterin

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Lydia Mischkulnig – Die Richterin

Gabrielle ist Asylrichterin. Sie entscheidet über eine Zukunft in Österreich oder die Rückkehr in ein Land ohne Perspektive. Sie hat Akten, sie hat Berichte, sie ist allein, wenn sie eine Entscheidung treffen muss. Erzählt man ihr die Wahrheit oder ist das Schicksal aufgebauscht; kann die Erfahrung, die man ihr schildert, wirklich so sein oder ist das der Versuch, sich einen Platz an der Sonne zu erobern? Mit ihrem Mann kann sie sich kaum mehr austauschen, der frühpensionierte Lehrer könnte kaum weiter von ihr entfernt sein, die soziale Dysbalance mit der Frau in der Machtposition kommt erschwerend hinzu. Alles scheint möglich und nichts ist mehr auszuhalten.

Lydia Mischkulnigs Roman ist vielschichtig und liefert auf ganz unterschiedlichen Ebenen Einblicke in das Wesen und den psychologischen Zustand einer einsamen Frau. Es ist kein Frauenroman, aber durchaus eine Geschichte, die sehr nah an dem Menschen ist, der im Zentrum der Handlung steht. Seit fast 30 Jahren arbeitet die Autorin vorrangig als Schriftstellerin und ist mit zahlreichen Preisen geehrt worden. Wiederkehrend in ihren Büchern ist die Spannung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, was sich auch in dem aktuellen Roman ganz deutlich zeigt.

In ihrem Beruf ist Gabrielle einsam und muss sich auf ihre Menschenkenntnis verlassen. Sie hört die Schicksale, ist von diesem bewegt und steht doch im Dienst des Landes und der Gesellschaft, die sie auch schützen soll. Die Diskrepanz zwischen ihren Emotionen und den rationalen Aufgaben wird zunehmend schwerer zu kompensieren. Dinge, die nicht vorstellbar sind, muss sie sich vorstellen, um sie beurteilen zu können und sie wird gleichzeitig durch den Akt des Entscheidens angreifbar und verletzlich. Auch ihr Privatleben ist ein kleiner Kriegsschauplatz, die Entfremdung zwischen ihr und ihrem Mann ist mehr als offenkundig und fast schon kann man das Unglück greifen, auf das die beiden zusteuern.

Der Roman ist zwar nicht als klassischer stream of consciousness geschrieben, springt aber in ähnlicher Weise von einem Gedanken zum nächsten, was einem die Innensicht der Protagonistin sehr nahe bringt. Die Autorin fasst die unterschiedlichen sich widersprechenden Gefühlsebenen hervorragend in Worte und nimmt einem so mit auf diese emotionale Achterbahn, die Gabrielle gerade durchläuft.

Valerie Keogh – The Three Women

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Valerie Keogh – The Three Women

Sie sind beste Freundinnen seit Beginn ihres Studiums, doch nun zwanzig Jahre später wird die Freundschaft auf eine schwere Probe gestellt. Ein verhängnisvoller Abend, als sie nur ihren Abschluss feiern wollten, holt die Polizistin Beth, Staatsanwältin Megan und Agenturinhaberin Joanne wieder ein. Es war nur eine falsche Annahme, eine kleine Lüge, doch diese hat den Lebensweg aller drei Frauen bestimmt. Eine unbedarfte Bemerkung bringt alles ans Licht und nun müssen sich die drei Freundinnen dem stellen, worauf sie ihr Leben aufgebaut haben: Lügen.

Der Psychothriller beginnt eher gemächlich, das Verhältnis der Frauen scheint eher unentspannt, dafür, dass sie beste Freundinnen sein sollen. Auch die Reaktionen ihrer Partner wirken etwas überzogen. Doch dann plötzlich entfaltet der Roman sein ganzes Drama und wird zu einem überzeugenden Thriller, der einem die Geschichte nur so um die Ohren fliegen lässt. Ein Ereignis jagt das nächste und kaum glaubt man das Ausmaß der Katastrophe zu überblicken, setzt Valerie Keogh noch eins drauf. Eine unerwartete Entdeckung, die neugierig auf mehr von der Autorin macht.

Sayed Kashua – Lügenleben

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Sayed Kashua – Lügenleben

Sein Vater liegt im Sterben. Eilig hastet der Ich-Erzähler aus Illinois zurück nach Israel, um ihn noch einmal zu sehen, vielleicht sogar endlich die Dinge auszusprechen, über die sie seit vierzehn Jahren geschwiegen haben. Die Mutter gibt ihm den Schlüssel zum elterlichen Haus, damit er in seinem alten Zimmer übernachten kann, doch er kann nicht zurück in das Dorf, aus dem man ihn verstoßen hat. Erst musste er mit seiner Frau Falestin nach Jerusalem fliehen, dann sind sie nach Amerika ausgewandert, wo man ihr eine Dozentenstelle angeboten hat. Mit der Rückkehr kommen auch die Erinnerungen wieder auf, an seine Zeit als arabischer Journalist für eine hebräische Zeitung, als Ghostwriter für Autobiografien und als Schriftsteller, der eine Kurzgeschichte in einer Studentenzeitung veröffentlichte. Und das Unheil, das es damit nahm.

Sayed Kashua lebt heute in den USA, nachdem er als Kolumnist für die „Haaretz“ gearbeitete hatte und sich einen Namen als Drehbuchautor und Filmkritiker gemacht hatte. „Lügenleben“ ist das fünfte Buch des arabischstämmigen Israelis und zugleich das letzte Übersetzungswerk von Mirjam Pressler, das sie kurz vor ihrem Tod im Januar 2019 noch beendete.

Wie auch andere seiner Romane trägt auch der aktuelle Roman autobiografische Züge und thematisiert nicht nur das schwierige Verhältnis von jüdischen und arabischen Israelis miteinander, sondern auch die Familienzwänge und Traditionen, aus denen es vor allem in ländlichen Gebieten kein Entkommen zu geben scheint. Die Kinder haben sich dem Diktat der Eltern, Dorfältesten und Scheichs zu fügen – egal, ob die Urteile gerecht und richtig sind oder nicht.

Die Erinnerungen des Erzählers folgen keiner chronologischen Struktur und so bleibt lange offen, was es genau war, das zu seiner Vertreibung geführt hat. Auch das seltsame Verhältnis zu seiner Frau Falestin ist eher mysteriös denn nachvollziehbar. Sie leben in zwei Wohnungen, ein echtes Familienleben scheint es nicht zu geben. Auch die drei Kinder erhalten keine Antworten auf ihre Fragen – alles, was die Familie und die Zeit vor der Flucht aus dem Dorf betrifft, bleibt nebulös. Dabei liebt er, bewundert Falestin, aber diese weist ihn ab, akzeptiert ihn jedoch als ihren Mann. Erst nach und nach fügt sich das Bild zusammen und offenbart ein trauriges Schicksal, das man so in der Gegenwart kaum mehr glauben mag.

Ein vielschichtiger Roman, der persönliches Leid, Familie und Tradition, die politische Lage in Israel und auch Emigration und Flucht thematisiert und vor allem die innere Zerrissenheit einer ganzen Generation offenbart, die doch nur glücklich und in Sicherheit leben möchte und auf der Suche hiernach getrieben ist und weder eine klare Vergangenheit noch eine Zukunft zu haben scheint. Und es ist vor allem die Frage danach, was Wahrheit ist und was sie ausmacht und inwieweit wir uns unsere eigene Wahrheit gestalten, um uns in unserem Leben zurechtzufinden. Ein großartiger Roman, ganz sicherlich auch wegen der hervorragenden Übersetzerin.

Ein herzlicher Dank geht an den Piper Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Titel finden sich auf der Verlagsseite.