Judith Kuckart – Café der Unsichtbaren

Judith Kuckart – Café der Unsichtbaren

Die Freiwilligenarbeit beim Sorgentelefon hat sie zusammengeführt. Ganz unterschiedliche Menschen, die sich die Sorgen und Nöte anderer anhören. Die Theologiestudentin Rieke, die sich in den Muslim Arian verliebt. Matthias, der auf Baustellen arbeitet und sich schon am ersten Tag der Fortbildung in Emilia verliebt. Buchhalterin Marianne, DDR-Museumssammlerin Wanda, Lorentz und die Erzählerin von Schrey gehören ebenfalls zu dem Team, das abwechselnd die Anrufe entgegennimmt. In den Anrufen spiegeln sie sich jedoch auch selbst, denn auch sie sind nicht ohne die kleinen und großen Sorgen des Alltags und des Lebens.

„nehmen Sie Platz an diesem traurigen Café der Unsichtbaren, und lassen Sie am Ende des Besuchs nicht eine gesicherte Erzählung, sondern die Unsicherheit mit uns sehen“

Judith Kuckart öffnet die Türen für den Blick auf ihre Figuren von Gründonnerstag bis Ostermontag. Die Frühschicht geht über in den Nachmittag, in den Abend und dann in die kritischen Nachtstunden. Während sie ihren Anrufern zuhören, horchen sie jedoch auch in ihr Inneres und lassen die Gedanken streifen. Es sind keine Figuren, die im Alltag auffallen würden, es sind die unscheinbaren Gesichter, die einem auf der Straße begegnen und deren Geschichte man nicht kennt, die die Autorin in „Café der Unsichtbaren“ erzählt. Wie in einem Café kommen sie zufällig zusammen, bleiben einander fremd und sind doch zumindest temporär eine Gemeinschaft.

„Jede Situation hat eine Geschichte, die man kennen muss, um das Woher und Wieso zu verstehen, hat sie einmal zusammengefasst, jeder Augenblick hat seine Biografie und jede Biografie ihre Rätsel.“

Fünf Tage, die symbolisch Leiden, Sterben und Auferstehung gedenken und damit kondensiert Ende und Anfang darstellen. Es ist ein Sammelsurium von Figuren, die sich eigentlich nicht begegnen können und doch schon seit Jahren immer wieder aufeinander treffen und eine Gemeinschaft geworden sind. So wie das Telefonat einen Blick in die Welt der Anrufer erlaubt, breitet der Roman in das Leben dieser Unsichtbaren vor dem Leser aus.

In der Erzählung spiegelt die Autorin die Arbeit bei dem Hilfetelefon. Mal längere, mal kürzere Einblicke, so wie sich manche Anrufer immer wieder melden und eine Verbindung zu den Mitarbeitenden aufbauen, tauchen die Figuren wieder auf und fügen weitere Facetten zu ihrem Charakter hinzu. Verpasste Chancen, falsche Entscheidungen, Enttäuschungen – es sind womöglich ihre eigenen Erfahrungen, die sie an diesen Ort geführt haben, wo das Leid durch das Teilen ein bisschen kleiner wird.

Es ist schwer auf den Punkt zu bringen, was den Roman ausmacht, so wie auch die Figuren bleibt er etwas flüchtig, schärft jedoch den Blick für das, was sonst vielleicht unbemerkt vorüberhuscht und schon wieder vorbei ist, bevor man es wahrgenommen hat. Die Symbolik des Osterfests hat sich mir für den Roman nicht wirklich erschlossen, außer Rieke hat keine Figuren einen deutlich christlichen Bezug. Auch als Zeit des Lichtfests, in der der Klammergriff des Winters sich langsam löst und die Tage wieder wärmer und länger werden, passt die Metapher für mich nicht wirklich.  Ein Roman zum Innehalten, der unbestritten Fragen hinterlässt.

Timur Vermes – U

Timur Vermes – U

Ausgelaugt kommt die Lektorin Anke Lohm abends am Bahnhof an und will nur noch schlafen. Nur wenige Stationen mit der U-Bahn trennen sie von der Wohnung ihrer Freundin Kiki, die Nummer der Bahn und die Haltestelle hat sie griffbereit notiert. Doch dann: Baustelle, ein Dschungel an Wegen und Unübersichtlichkeit und immer auch den sperrigen Koffer dabei. Endlich erreicht sie die Haltestelle, sogar die Bahn wartet noch, doch der Wagen stinkt, Erbrochenes, also schnell raus und in den nächsten, wo bereits ein junger Mann sitzt. Dann Abfahrt, die Bahn rauscht los und – hält nicht mehr an. Die Minuten vergehen, doch es kommt einfach keine Haltestelle. 2 Minuten – 5 Minuten – 10 Minuten. Wie kann das sein? Und: was ist zu tun?

Mit „Er ist wieder da“ hatte Timur Vermes mich direkt begeistern können, ein schräges Setting, gnadenlos zu Ende gedacht, einfach herrlich. Auch mit „Die Hungrigen und die Satten“ hat er gezeigt, dass er literarisch den Finger in die Wunde legen kann und dem Leser die Groteske des Alltags vorgeführt. Die Freude über einen neuen Roman war ebenso groß wie die Erwartungen. „U“ ist jedoch in keiner Weise vergleichbar mit den beiden anderen Romanen des Autors, für mich eher ein experimentell umgesetzter Stream of Consciousness, der in Echtzeit die Erlebnisse, Gedanken, Empfindungen wiedergibt und auf Rahmung verzichtet.

Man steckt fest mit den Figuren und weiß nicht, was man davon halten soll und ob die verirrte Bahn irgendwann wieder in einen sicheren Bahnhof einfahren wird. Die Erzählweise lässt die Handlung unmittelbar wirken, durch die typografische Gestaltung wird Lautstärke verdeutlicht und Verzweiflung greifbar. Elliptische Dialoge und innerer Monolog gestalten das Horrorszenario, das die beiden Protagonisten an den Rand des Wahnsinns treibt.

Setting wie auch Plot sind gut gewählt, allerdings funktioniert für mich die Umsetzung in Buchform nur bedingt. Mir fehlt der erzählerische Halt, die Orientierung, die ein Erzähler hätte liefern können. Als Hörbuch (oder eher noch Hörspiel bzw. auf der Bühne) dagegen kann „U“ sicherlich großartig wirken, weil sich dort akustisch unterstützt die Dramatik besser entfalten kann als durch die Typografie. Auch das Ende ließ mich etwas ratlos zurück, auch wenn es die Handlung abrundet, bleibt doch ein Eindruck von Verwirrtheit und große Fragezeichen.

René Goscinny/Albert Uderzo – Astérix et le Griffon [Asterix und der Greif]

René Goscinny/Albert Uderzo – Astérix et le Griffon

Caesar äußert Gefallen an einem neuen ikonischen Tier, das seine Macht symbolisieren soll: der Greif. Halb Adler, halb Löwe und mit Pferdeohren lebt das magische Tier ganz weit im Osten, in jener Region, die noch nie ein Römer betreten hat. Praktischerweise haben die Römer auch gerade eine Amazone gefangen genommen, die just aus dieser Gegen kommt und den Weg zum Greif weisen kann. Die Aufregung in dem sarmatischen Dorf, aus dem Kalachnikovna stammt, ist groß und so nimmt der Schamane Kontakt zu seinen gallischen Freunden auf und bittet um Hilfe. Astérix, Obélix, Panoramix (Miraculix) und Hund Idéfix machen sich auf in den Kampf.

Jean-Yves Ferri und Didier Conrad setzen bereits zum fünften Mal die Erfolgsserie der widerspenstigen Gallier fort. Schauplatz ist der eisige Winter tief im Osten bei einem wenig bekannten Nomadenvolk. Wie gewohnt kann man sich einfach an der unterhaltsamen Geschichte erfreuen oder auch die zahlreichen Anspielungen und Verweise auf aktuelle Ereignisse entdecken.

Besonderes Highlight sind die sarmatischen Frauen: unerschrockene Amazonen, die in den Krieg ziehen während die Männer daheim in der Jurte die Kinder hüten. An Zaubertränke und dergleichen glauben sie nicht, so ein Unfug mag was für Männer sein, die Frauen kommen locker auch ohne aus. Herrlich gelungen vor allem die Gefangene Kalachnikovna, die allen Römern den Kopf verdreht und dabei nur Verachtung für sie übrig hat.

Auch die Römer bieten interessantes Personal: Geograf Terrinconus ist unverkennbar nach Michel Houellebecq gestaltet und zitiert nebenbei die Werke des Autors. Der Legionär Fakenius wittert hinter allem eine böse Verschwörung, vor allem, als sie sich dem Ende der Welt – Scheibe oder Globus ist hier die Frage – nähern.

Eine Reihe von Hindernissen und Konfrontationen mit den Legionären gilt es wie immer zu meistern, die auch im 39. Band einen großen Spaß bereiten. Herrlich dieses Mal umgesetzt die Sprechweise des asiatischen Völkchens, das zumindest in der französischen Ausgabe nur mit umgedrehten „E“ kommuniziert, was auch zu dem einen oder anderen Missverständnis führt.

Antje Rávik Strubel – Blaue Frau

Antje Rávik Strubel – Blaue Frau

In ihrem tschechischen Dorf ist Adina die letzte Jugendliche, außer den russischen Touristen kommt auch nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs kein wirkliches Leben mehr in die abgelegene Region im Riesengebirge. Nach der Schule fährt sie nach Berlin mit dem Ziel, dort erst die Sprache zu lernen und dann zu studieren. Mit der Fotografin Rickie lernt sie eine Frau kennen, die ganz anders ist als sie, offen, gewandt, die einfach tut, was sie tun möchte. Sie ist es auch, die ihr weiterhilft und ein bezahltes Praktikum mit freier Kost und Logis vermittelt, das jedoch im Desaster und einer neuerlichen Flucht endet. Nun versteckt sie sich in Helsinki, schuftet in einem Hotel, wo sie in einer Dachkammer hausen kann. Als sie dort den estnischen Professor Leonides Siilmann kennenlernt, könnte sich die Chance auf einen Neubeginn ergeben. Doch davor liegen noch Abgründe, die es zu überwinden gilt und Schluchten, die sich unerwartet auftun.

„Ich schlage deshalb vor, wie gehabt zu verfahren. Jeder von uns hat seine Schwachstellen, jeder macht Fehler. Wenn der jungen Frau etwas Schlimmes widerfahren ist, in Deutschland wohlgemerkt, muss sie sich an die entsprechenden Behörden wenden. Lasst uns aber nicht das große Ganze aus den Augen verlieren.“

Antje Rávik Strubels Roman eröffnet mit Fragezeichen. Man weiß, dass sich die junge Protagonistin versteckt, warum bleibt jedoch lange unklar. Sie ist offenkundig in einem fremden Land, sie benötigt einen Anwalt, was sie erlebt hat, muss schlimm gewesen sein. Sie will für Gerechtigkeit kämpfen und ahnt, dass dies ein ungleicher, unfairer und kaum zu gewinnender Kampf werden wird. Immer wieder taucht die blaue Frau auf, ein Geist, ein Gedanke offenbar, der Adina begleitet und leitet und Mut macht, auf dem Weg, der nicht steinig ist, sondern auf dem Felsen stehen.

Das Bild lichtet sich bald und nach und nach wird klar, dass es sich bei „Blaue Frau“ um die Geschichte einer missbrauchten, traumatisierten Frau handelt, die sich mächtigen älteren Männern gegenübersieht. Sie findet Unterstützer, doch auch diese erleben Hilflosigkeit ob der Machtstrukturen. Im großen Getriebe ist Adina nur ein Rädchen, ein ganz kleines, das keine Rolle spielt für die Maschinerie der Wirtschaft und Kultur und das doch bitte einfach funktionieren und den Betrieb nicht stören soll.

Es ist jedoch nicht nur das Einzelschicksal, das die Autorin schildert, sie setzt es in einen größeren Kontext, denn es ist Adinas spezifische Herkunft als Osteuropäerin, die jenen, die sie missbrauchen, zusätzliche Macht verleiht. Sie ist nicht Mensch zweiter Klasse – Frau – sondern dritter oder vierter Klasse, Mensch, dem keine Rechte und keine Würde zugesprochen werden. Dass sie einmal Träume hatte und ein Leben vor sich, darauf kann leider keine Rücksicht genommen werden.

Inhaltlich greift Strubel sowohl das Private wie auch europäische Fragen auf, offene Grenzen reißen nicht Mauern in Köpfen ein, ebenso wenig wie rechtliche Gleichberechtigung selbige auch in den Köpfen herstellt. Nicht chronologisch erzählt transferiert sie literarisch das Gedankenmäandern, das ganz typisch ist für Opfer von Gewalt, die sich in einem Strudel befinden und wo sich bisweilen Realitäten überlagern. Folglich ist die Nominierung auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2021 keine wirkliche Überraschung, sondern notwendige Konsequenz.

Viveca Sten – Flucht in die Schären

Viveca Sten – Flucht in die Schären

Dieses Mal ist ihr Mann Andreis zu weit gegangen. Wieder hat er seine Frau Mina brutal verprügelt, nur knapp konnte sie überleben. Dennoch ist es nicht leicht für sie, der Polizei zu vertrauen und mit den kleinen Lukas die Flucht zu ergreifen. Gegen Andreis Kovač wird auch bei der Drogenfahndung und wegen Steuerhinterziehung ermittelt, mit Minas Aussage stehen die Chancen gut, ihn schnell und für lange Zeit hinter Gitter zu bringen. Doch so einfach lässt sich Andreis nicht in die Knie zwingen, niemand nimmt ihm, was ihm gehört, zu viel hat er in seinem Leben gesehen, als dass er sich von irgendwem Vorschriften machen ließe, schon gar nicht von seiner Frau. Um sie und den gemeinsamen Sohn zurückzuholen, ist er bereits alles zu tun.

In Viveca Stens 9. Fall für den Ermittler Thomas Andreasson ist dieser wieder mit der Juristin Nora Linde gemeinsam gefordert. Während er im Morddezernat die Spur der Verwüstung untersucht, die Andreis nach sich zieht, versucht Nora den brutalen Gangster mit juristischen Mitteln kaltzustellen. Doch beide stehen in „Flucht in die Schären“ nicht so sehr im Fokus wie Mina. Der Autorin ist mit dieser Figur gelungen, die vielfältigen und widersprüchlichen Emotionen einer verzweifelten Frau zu zeichnen, die Opfer von Gewalt wird und doch nicht einfach aufstehen und gehen kann.

Mehr noch als das Spannungsmoment, ob es Andreis gelingen wird, seine Frau ausfindig zu machen, besticht der Roman durch die Schilderungen um Mina. Vom ersten Übergriff an weiß sie, dass sie eigentlich gehen muss – eigentlich, denn zugleich liebt sie Andreis, sieht auch die guten gemeinsamen Momente. Und er ist der Vater ihres Kindes. Sie gibt sich selbst die Schuld für seine Ausbrüche, weiß, dass das Unsinn ist, und doch erträgt sie Demütigungen, Beschimpfungen und Gewalt. Auch die Angst davor, was er tun könnte, wenn sie sich offen gegen ihn stellt und bei der Polizei aussagt, hält sie davon ab, die notwendigen Schritte zu gehen. In einer geschützten Unterkunft kommt sie unter, dass deren Situation ebenfalls schwierig ist, wird nebenbei erzählt und somit auch klar, wie notwendig und zugleich häufig von der Schließung bedroht diese sind.

Wie wird ein Mensch so gewalttätig? Die Autorin liefert eine mögliche Erklärung: Andreis hat als Kind den Krieg erlebt, Mord und Vergewaltigung gesehen und zudem als ungewollter Asylsuchender Rassismus und Ablehnung erfahren. Sicher gehen diese Erfahrungen nicht spurlos an einem Menschen vorbei, glücklicherweise liefert Sten mit Andreis‘ Kumpel jedoch auch ein Gegenbeispiel, die Erlebnisse führen nicht zwangsweise in eine Gewaltspirale, sollten aber insbesondere im Hinblick auf Hilfesysteme zu Denken geben.

Ein Krimi nach gewohntem Muster, der souverän und routiniert erzählt wird und damit Fans der Reihe nicht enttäuscht. Für mich ein klarer Pluspunkt, dass dieses Mal der Fall im Vordergrund stand und weniger Nora und Thomas.

Lætitia Colombani – Das Haus der Frauen

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Lætitia Colombani – Das Haus der Frauen

Nachdem ein Mandant sich vor ihren Augen in den Tod gestürzt hat, fällt die Anwältin Solène in eine tiefe Depression. Ihr ganzes Leben scheint keinen Sinn mehr zu haben, wozu all die Stunden Arbeit, wo ihr ihre tolle Wohnung und die aparten Kostüme jetzt nichts nutzen, keinen Trotz spenden und keine Hoffnung bieten. Ihr Psychiater empfiehlt ihr ein Ehrenamt und so kommt sie in das „Haus der Frauen“, einer beinahe 100-jährigen Institution in Paris, in der notleidende Frauen jeden Alters Unterschlupf und Hilfe finden. Zunächst sind die Bewohnerinnen skeptisch, halten Abstand, doch nach und nach kommen sie mit ihren kleinen und großen Anliegen zu Solène. Diese erkennt zunehmend, dass sie mit all ihrem Wissen jenen Bedürftigen wirklich helfen kann, aber auch, dass ihr eigenes Leben so wieder eine Sinnhaftigkeit erhält, die sie lange vermisst hat.

Die französische Autorin und Regisseurin Lætitia Colombani hat mit ihrem Roman nicht nur eine bittersüße Geschichte geliefert, sondern vor allem Blanche Peyron ein Denkmal gesetzt. Die Gründerin des Hauses der Frauen und unerschütterliche Kämpferin der Heilsarmee hat vorgelebt, wie wichtig es ist, für seine Ideale zu kämpfen und den Glauben an die Überwindung der sozialen Unterschiede nicht aufzugeben.

Im Zentrum der Geschichte steht die erfolgreiche Anwältin, die unerwartet aus dem Hamsterrad des Lebens gerissen wird und dieses gnadenlos hinterfragen muss. Was von außen beneidenswert erscheint, fühlt sich hinter der schönen Fassade ganz anders an. In der Begegnung mit den Frauen und ihren Schicksalen –  vertrieben vom Krieg, Flucht vor Verstümmelung, Transsexualität und Obdachlosigkeit, die ganze Bandbreite menschlicher Schicksale laufen vor ihr auf – erkennt sie nicht nur, dass sie ihr eigenes Leben in der Hand hat, sondern vor allem auch, wie sie selbst wirksam werden und so wieder einen Sinn in ihrem Tun finden kann.

Ein kurzer Roman, melodramatisch mit einer gewissen Realitätsferne ohne Frage, aber dafür ideal als leichte Sommerlektüre, die einem mit einem wohligen Gefühl zurücklässt.

Lana Lux – Jägerin und Sammlerin

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Lana Lux – Jägerin und Sammlerin

Sie ist eine hervorragende Schülerin, aber morgens rechtzeitig aus dem Haus zu kommen, scheint ein Ding der Unmöglichkeit für Alisa. Sie arbeitet abends zu lange und der Blick in den Spiegel auf die unreine Haut, macht stundenlange Vorbereitungen erforderlich, bevor sie sich unter Menschen trauen kann. Überhaupt ist ihr Aussehen ein Problem, sie ist nicht attraktiv wie ihre Mutter, der immer noch alle Männer nachschauen oder wie ihre Freundin Mascha, die als elfengleiche Ballerina bezaubert. Mehr und mehr hadert Alisa mit sich und zunehmend versucht sie ihren Frust förmlich runterzuschlucken, doch die Fressanfälle helfen nur kurz und das zwanghafte Erbrechen danach ist zur Sucht geworden. Dass sie Hilfe braucht, lässt sich bald nicht mehr übersehen, doch woher rührt das alles, wie konnte es nur so weit kommen?

Lana Lux hatte mich mit ihrem Debüt „Kukolka“ schwer begeistern können, gespannt war ich auf diesen Roman, der mit der ukrainisch stämmigen Protagonistin auch wieder Parallelen zu ihrer eigenen Biografie aufweist. Über weite Strecken konnte mich die Geschichte auch fesseln und überzeugen, der Schluss jedoch hat mich etwas enttäuscht.

Es ist leicht vorstellbar, dass Leser*innen mit eigenen Erfahrungen in Bezug auf Essstörungen stark getriggert werden. Alisas Gedankenwelt, die sich extrem um ihren Körper und ihr Aussehen dreht und ausgesprochen negativ geprägt ist, wirkt authentisch und stimmig. Genau diese begrenze und fehlgeleitete Sicht führt in die Anorexie oder Bulimie, aus der die Betroffenen selbst meist nicht mehr alleine herauskommen. In Alisas Fall wird die Ursache durch das Verhalten der Mutter – von klein auf Fokussierung auf das Aussehen, immer wieder Kritik an der Figur und dem Essverhalten, ganz offensive Bevorzugung der tanzenden Freundin bei mangelnder Zuneigung – überzeugend motiviert und erklärt. Die Bulimie kommt nicht plötzlich und wird ebenso wenig über Nacht geheilt, es ist ein langer Prozess mit Rückschlägen, den auch Familienmitglieder nicht immer nachvollziehen können.

Im letzten Teil geht die Geschichte weg von Alisa hin zur Mutter. Diese Hintergrundinformationen zu deren Kindheit und Jugend, zu ihren Träumen und Enttäuschungen erklären zwar ihr Verhalten gegenüber der Tochter, für mich war es jedoch weitaus weniger interessant und zugänglich als Alisas Story. Vielleicht wäre die Handlung für mich sogar stimmiger gewesen ganz ohne diesen Teil, da er so gar nicht zu der Perspektive davor passt. Alisa als Figur war genug und überzeugend und es ist schade, dass sie gerade mit dem geringen Selbstbewusstsein und der Überzeugung, dass ihre Mutter sie nicht sieht und sich nicht für sie interessiert, selbst hier dieser Frau wieder weichen muss. Da hätte Lana Lux liebevoller mit ihrer Figur umgehen dürfen.

Die Thematik des Würgegriffs durch Essstörungen kommt glaubhaft und plastisch rüber, so sehr dies das Leben einschränkt, bedingt es auch die Handlung. Der letzte Teil für mich inhaltlich fast verzichtbar und insgesamt gestalterisch nicht so stark wie die ersten beiden, führt zu einem kleinen Abzug. Gelungen dafür der Titel, für den ganz am Ende noch eine Erklärung gegeben wird.

Edward St Aubyn – Some Hope

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Edward St Aubyn – Some Hope

Acht Jahre nach dem Tod seines Vaters hat Patrick Melrose langsam wieder ins Leben zurückgefunden. Von den Drogen ist er losgekommen und auch Partys und leichte Mädchen interessieren ihn nicht mehr. Dank des Vermögens muss er weder arbeiten noch sich Sorgen zu verarmen machen, aber der Langweile zu entfliehen ist ebenfalls nicht einfach. Eine Einladung zu einem Dinner will er zunächst ausschlagen, zu viele Geister der Vergangenheit, dann entscheidet er sich jedoch anders und fährt nach Cheatley. Es wird der Tag, an dem er zum ersten Mal offen über das spricht, was in seiner Kindheit passiert ist.

Stand in „Never Mind“ Patricks Kindheit und der Missbrauch im Vordergrund und war „Bad News“ die Abrechnung mit seinem Vater, erleben wir im dritten Teil der Reihe einen ganz anderen Protagonisten: lebensbejahend, reflektiert und sensibel blickt er auf das, was er erleben musste. Gleichzeitig wird die Oberflächlichkeit der besseren Gesellschaft in extremo vorgeführt. Es tut fast weh, wie wenig Tiefgang viele der Figuren haben, wie rücksichtslos und egoistisch sie sind und wie wenig sie über ihre engsten Familienmitglieder und deren emotionalen Zustand wissen.

„Some Hope“ ist die konsequente Fortführung der Handlung und Weiterentwicklung der Figur, allerdings der für mich bislang schwächste Roman, was aber vor allem daran lag, dass Patrick Melrose selbst zu sehr in den Hintergrund rückt und man von seinem Seelenleben zu wenig erfährt. Sehr überzeugend der Moment, in dem er zum ersten Mal vom Missbrauch berichtet, wie schwer es ihm fällt, wie er nach Worten sucht. Aber auch die widersprüchlichen Einschätzungen, die ihm von anderen berichtet werden. Das Leben ist nicht schwarz-weiß und so beginnt auch er seinen Vater nun differenzierter zu betrachten und sich zu lösen.

Delphine de Vigan – Loyalitäten

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Delphine de Vigan – Loyalitäten

Hélène merkt, dass mit ihrem Schüler Théo etwas nicht stimmt, es gibt keine äußerlichen Spuren, die auf Gewalt hinweisen würden, aber für sie sind sie sichtbar, denn man erkennt diejenigen, denen es genauso geht. Sie hat es als Kind und Jugendliche auch erlebt, die Angst vor dem brutalen Vater, das Verstecken und die Scham. Théo musste früh lernen, dass er nicht sagen kann, was erfühlt, dass er nicht erzählen kann, was er erlebt, denn zwischen seinen Eltern herrscht Krieg und im wöchentlichen Wechsel leidet er unter dem psychischen Druck durch die Mutter und der langsamen Verwahrlosung des Vaters. Der einzige Ausweg scheint der Alkohol zu sein, der bei dem 12-Jährigen das Rauschen im Ohr betäubt und ihn nichts mehr fühlen lässt. Nur mit Mathis teilt er dieses Geheimnis. Mathias weiß, dass es nicht gut ist, was sie tun, er weiß auch, was Théo erlebt, aber was kann er tun?

Wenn man das Buch am Ende des Lesens schließt, ist man sprachlos, verstört, bestürzt – es gibt kaum Adjektive, die angemessen das beschreiben, was einem durch den Kopf geht. Vor allen Dingen ist es diese Diskrepanz zwischen dem Wissen einerseits, dass Delphine de Vigan eine Geschichte beschreibt, die sich tagtäglich überall abspielen könnte, nein, die sich tagtäglich genau so abspielt und dem Gefühl von Machtlosigkeit dieser Situation gegenüber. Als erwachsener Leser identifiziert man sich am ehesten mit Hélène, auch wenn man selbst glücklicherweise keine solchen Erlebnisse machen musste. Zuzusehen, wie ein Kind dringend Hilfe benötigt, aber selbst Erwachsene, die das erkennen und helfen wollen, daran scheitern.

„Loyalitäten“ zeichnet eindrücklich das nach, was man als Mitglied einer Familie oder einer Gemeinschaft erlebt: man lernt die Codes, die Verhaltensweisen und passt sich an. Auch wenn man weiß, dass etwas nicht stimmt, nicht in Ordnung ist, die Loyalität gegenüber den anderen Mitgliedern erfordert das unbedingte Aufrechterhalten der Fassade, des Scheins nach außen, der Außenstehenden keinen Einblick erlaubt und somit auch jede Form von Hilfe unmöglich macht.

„Théo lernte sehr schnell, die Rolle zu spielen, die von ihm erwartet wurde. Sparsam gesprochene Worte, neutraler Gesichtsausdruck, gesenkter Blick. Man musste sich unbedingt bedeckt halten.“

Der Druck, dem gerade Kinder ausgesetzt sind, ist enorm und ebenso die Folgen: bei Théo bleibt es nicht beim Alkoholmissbrauch, der Wunsch für immer zu entfliehen, endlich tot zu sein, wird zunehmend stärker, so dass er bereit ist, bis zum Äußersten zu gehen.

„Im Gehirn werden die Wirkungen am schnellsten spürbar. Angst und Sorge gehen zurück und verschwinden manchmal sogar. Sie werden von einer Art Schwindel und Erregung ersetzt, die mehrere Stunden anhalten könne.

Doch Théo möchte etwas anders.

Er möchte das Stadium erreichen, in dem das Gehirn in den Ruhezustand geht. Den Zustand der Bewusstlosigkeit. Damit endlich Schluss ist mit diesem schrillen Geräusch, das nur er hört (…)“

Er träumt vom „Koma durch Ethanolvergiftung“, dem Moment des Verschwindens aus der Welt, in dem er niemandem mehr etwas schuldet.

Wie auch ihre Heldinnen in „No et moi“ oder „Jours sans faim“ (dt. „Tage ohne Hunger“) ist Théo ein Kind der modernen Gesellschaft, das all das ertragen muss, was die Erwachsenen nicht hinbekommen. Delphine de Vigan hat mit „Loyalitäten“ eine weitere literarische Klageschrift verfasst, die eindringlich und klar ist und an niemandem spurlos vorbeigehen dürfte.