Carmen Maria Machado – Das Archiv der Träume

Carmen Maria Machado – Das Archiv der Träume

„In der Literatur sind Orte nie einfach nur Orte. Und wenn doch, dann hat die Autorin etwas falsch gemacht.“

Carmen Maria Machado berichtet über einen Ort, ein kleines Haus in Bloomington, Indiana, das der Frau gehört, in der sie sich während ihres Studiums verliebt. Viele hundert Kilometer legt sie von ihrem Studienort zu diesem Haus zurück, um ihr nahe zu sein. Doch es ist nicht die unbeschwerte, leichte Liebe, sondern eine toxische Beziehung. Von Beginn an herrscht ein Ungleichgewicht und zunehmend gerät Carmen in eine Rolle, die ihr eigentlich aus Märchen, aus Büchern, aus Filmen gut bekannt ist: sie wird zum Opfer häuslicher Gewalt. Psychischer Gewalt, die für die Außenwelt nicht unmittelbar sichtbar ist und die sich nur in Extremen abspielt – vollkommener Liebe und ebenso exzessivem Hass.

„Die meisten Formen häuslicher Gewalt sind vollkommen legal.“

Ihre Erinnerungen schildern etwas, das eigentlich wohlbekannt ist. Eine Beziehung, in der einer der Partner die Oberhand hat, manipulativ den anderen an den Rand des Wahnsinns treibt, ihn an seinem Verstand zweifeln lässt – klassisches Gaslighting, dasbereits seit dem Film „Das Haus der Lady Alquist“ mit Ingrid Bergmann von 1940, der auf Patrick Hamiltons Theaterstück „Gas Light“ basiert, einer breiten Öffentlichkeit ein Begriff ist und immer wieder literarisch wie filmisch aufgegriffen wurde. Sie hätte es erkennen können, die Zeichen waren eindeutig, aber blind vor Liebe kehrt sie immer wieder zurück.

„(…) wie bei einer Marionette und du keinen Schmerz spürst. Egal was, es soll nur aufhören. Du hast vergessen, dass du einfach gehen kannst.“

Interessant wird der Bericht jedoch nicht nur dadurch, dass sie über Jahre gefangen ist, sich innerlich selbst Mauern baut, die sie einreißen könnte, aber nicht schafft zu zerstören. Es liegt noch eine zweite Ebene über dieser individuellen, die ihre Situation verkompliziert. In traditionellen Beziehungen zwischen Mann und Frau sind für die Öffentlichkeit – gestützt durch Statistiken – die Rollen meist klar verteilt: der Mann ist Täter, die Frau ist Opfer. Doch wie sieht dies bei bisexuellen Paaren aus?

Als Community kämpfen sie um Anerkennung, was bedeutet, dass sie zusammenhalten müssen, um sich gegenseitig zu schützen, da kann doch die eine nicht eine andere anklagen? Wenn es innerhalb der Gemeinschaft schon keine Solidarität gibt, wie soll man dann Schutz gegenüber den Angriffen von außen bieten? Absurderweise führt dies dazu, dass immer wieder Täter geschützt werden und nicht Opfer, die als Nestbeschmutzer gelten und denen nicht geglaubt wird. Ähnliches lässt sich bei People of Colour und anderen marginalisierten Gruppen beobachten.

Eine Biografie, die nicht nur das selbst Erlebte analysiert, um es nachvollziehen zu können, sondern dieses in einen größeren gesellschaftlichen Rahmen setzt und zugleich auch kulturell einbettet. Ein vielfach verwendetes Motiv, das jedoch im realen Leben oftmals nicht erkannt, nicht ernstgenommen wird und zu unerträglichem Leid führt. Die Autorin hat eine interessante Form für ihren autofiktionalen Text gefunden: zwischen Roman, Biografie, Sachbuch und Tagebuch findet er seinen Platz. Ebenso erschreckend wie lesenswert ein wichtiger Beitrag zu einer Diskussion, die geführt werden sollte.

Naoise Dolan – Aufregende Zeiten

Naoise Dolan – Aufregende Zeiten

Nach dem Studium flüchtet Ava aus Dublin nach Hongkong, wo sie einen Job als Englischlehrerin annimmt. Was sie in ihrem Leben tun will, davon hat sie keinen Plan, ganz anders als Julian, der als Banker fest im Leben zu stehen scheint. Bald zieht sie bei ihm ein, von einer klassischen Beziehung kann jedoch keine Rede sein. Sie wohnt im Gästezimmer, was die beiden jedoch nicht von gemeinsamen Nächten abhält. Sie sind ein ungewöhnliches Paar, zwischen Nähe und Distanz, immer darauf bedacht, keine rote Linie des anderen zu übertreten, jedes Wort auf die Goldwaage legend und doch vermissen sie sich, wenn Julian auf Geschäftsreisen ist. Während einer solchen lernt Ava Edith kennen, die so anders ist, sich wirklich für Ava interessiert und alles von ihr wissen möchte. Zunehmend lässt Ava sie in ihr Leben, auch wenn ihr das Interesse und bald auch die Zuneigung der Juristin komisch vorkommen. Aber womöglich hat sie nur noch nie die Erfahrung von Liebe gemacht.

Unweigerlich ist man bei Naoise Dolans Debütroman auch an eine andere irische Autorin erinnert, die in den letzten Jahren für Furore gesorgt hat. Ebenso wie Sally Rooney schreibt Dolan über eine Generation von stark verunsicherten jungen Menschen, die sich nichts mehr als funktionierende Beziehungen wünschen, aber selbst mit dem passenden Partner eher einen gemeinsamen Tanz voller Verunsicherung aufführen, als sich gelassen dem hinzugeben, was geschieht.

Ava ist die Personifizierung des Twentysomething: sie wirkt unabhängig und willensstark nach außen, ihr Leben findet gleichermaßen online wie offline statt, Image muss immer in beiden Versionen des Lebens mitgedacht werden. Freundschaften drücken sich mehr durch die Likes und Klicks aus denn durch das gemeinsame Erleben. Gedanklich steckt sie derweil in endlosen Spiralen des Überdenkens fest, Spontaneität gibt es nicht mehr, da Worte Folgen haben und jede mögliche Deutung antizipiert werden muss, bevor es dann doch zu spät ist, noch auf etwas zu reagieren. Ironie und Zynismus gehören zum Kommunikationsrepertoire, sind jedoch gleichzeitig mit für die Distanzierung von den anderen verantwortlich, die die Figuren einsam macht.

Einerseits ist die 22-Jährige nicht immer leicht auszuhalten, man wünscht ihr eine gute Portion naive Sorglosigkeit, um frei von den Gedanken zu sein und das Leben genießen zu können. Andererseits hat ihr analytischer Verstand jedoch auf einer ganz anderen Ebene wiederum einen großen Reiz. Sprache dient ihr nicht nur als Mitteilungsmedium für Inhalte, sondern markiert auch Klasse. Sie als Irin mit bescheidenem Hintergrund unterscheidet sich dramatisch von Julian, der Eton und Oxford besuchte und mit seinem Job im Finanzsektor auch finanziell zum oberen gesellschaftlichen Ende zählt. Beide wiederum gehören als Expats des ehemaligen Kolonialherren in Hongkong zur Oberschicht, die in einer Parallelwelt lebt und nur im Dienstleistungsbereich Berührungspunkte mit den Einheimischen hat. So kommt es auch, dass die dramatischen politischen Ereignisse der Umbrella Bewegung vor Avas Tür stattfinden, ohne dass sie ernsthaft davon Notiz nehmen würde. Sie kann jedoch auch jederzeit das Land verlassen, irgendwo hingehen, wo sie ganz selbstverständlich alle Rechte in Anspruch nehmen kann. Sensibilität scheint nur in Bezug auf die eigene Person angezeigt, dann jedoch gleich in übersteigerten Maßen.

Avas Angst vor Zurückweisung, dem immerwährenden Gefühl nicht zu genügen, folgt eine Distanziertheit, die man auch als Leser spürt. Es fällt nicht leicht, Sympathie mit ihr zu empfinden und sich ihr zu nähern. Als Figur kann sie so überzeugen, ich hätte mir jedoch eine größere emotionale Eingebundenheit gewünscht.

Eine pointierte und scharfe Analyse einer Generation, deren globale Vernetzung nicht zu mehr Nähe, sondern zum genauen Gegenteil führt und deren Leben nur dann stattgefunden hat, wenn es auch mit schönen Bildchen dokumentiert und von möglichst vielen geliked wurde.

Peter Mohlin/Peter Nyström – Der andere Sohn

Peter Mohlin/Peter Nyström – Der andere Sohn

Nach einem gefährlichen Einsatz gegen ein Drogenkartell muss John Adderley durch das FBI-Zeugenschutzprogramm eine neue Identität erhalten. Er bittet darum, nach Schweden versetzt zu werden, das Land, in dem er die ersten 12 Jahre seines Lebens verbracht hat. Widerstrebend stimmen seine Vorgesetzten zu, da sonst der Prozess platzen würde. Es ist jedoch keine Nostalgie, die ihn zurücktreibt, seine Mutter bittet um seine Hilfe. 10 Jahre zuvor wurde sein Halbbruder des Mordes an der Erbin eines Klamottenimperiums beschuldigt, aus Mangel an Beweisen jedoch wieder freigelassen. Nun wird der Fall erneut aufgerollt und die Mutter fürchtet, dass es wieder keine fairen Ermittlungen gibt. John wird in das Ermittlungsteam eingeschleust und kann bald nicht nur die Leiche finden, sondern auch nachweisen, dass es Manipulationen bei den Ermittlungen gab. Offenbar sitzt der Täter in den Reihen der Polizisten.

Das Autorenteam Mohlin/Nyström kennt sich bereits seit Kindheitstagen und hat mit „Der andere Sohn“ nun zum ersten Mal gemeinsam einen Kriminalroman verfasst, den Auftakt einer Reihe, die in der schwedischen Stadt Karlstad angesiedelt ist. Die Geschichte liefert genau das, was man von skandinavischer Spannungsliteratur gewohnt ist: eine sauber gestrickte, komplexe Handlung, die jedoch auch Raum lässt, um einen Blick in die Gesellschaft und kulturellen Eigenheiten zu gewähren.  Der Protagonist John nimmt dabei eine interessante Zwischenposition ein: weitgehend in den USA sozialisiert und beruflich durch die Arbeit beim FBI geprägt, spricht er zwar die Sprache seiner neuen Kollegen, hadert jedoch mit so mancher Eigentümlichkeit, an die er sich nur schwer gewöhnen kann.

Was geschah mit Emelie in der Nacht vor 10 Jahren? Und wo ist die Leiche der jungen Frau? Nach einer Party wollte sie noch einen mysteriösen Mann treffen, doch ihre Spur verliert sich, das letzte Lebenszeichen ist eine große Menge Blut an einem Felsen, ganz in der Nähe finden sich Spermaspuren, die zu Johns Halbbruder führen. Doch dieser leugnet die Tat und auch die junge Frau gekannt zu haben. Sobald John sich näher mit ihr befasst, zeigt sich, dass die Studentin zwei ganz unterschiedliche Seiten hatte, die offenbar zu ihrem Verhängnis wurden. Als John die Manipulationen am Beweismaterial entdeckt, nimmt die Handlung nicht nur eine Wende, sondern auch das Tempo ordentlich Fahrt auf. Und immer muss der Ermittler auch damit rechnen, dass seine wahre Identität entdeckt wird, was ihn das Leben kosten könnte.

Ein überzeugender Auftakt, auch wenn der Anfang mit John Vorgeschichte in Baltimore etwas ausführlich war und nicht in unmittelbarem Zusammenhang zum Cold Case steht. Jedoch scheint dies in den Folgebänden wieder relevant zu werden. Der Fall bietet einige überraschende Wendungen, die durch akribische Polizeiarbeit und nicht durch bloßen Zufall ausgelöst werden. Die Spannung wird gelegentlich durch kleine interkulturelle Missverständnisse – Gott bewahre: Küchendienst für den ehemaligen FBI–Ermittler und viel zu kleine Autos mit Gangschaltung– unterbrochen, die zur Abwechslung auch zum Schmunzeln einladen.

Amélie Nothomb – Les Aérostats

Amélie Nothomb – Les aérostats

Jeder kann zum Leser werden, oder? Die Literaturstudentin Ange Daulnoy wird als Nachhilfelehrerin für den 16-jährigen Pie engagiert, der nach Auskunft des Vaters nicht lesen kann. Das kann dieser sehr wohl, er hat nur keine Lust darauf; doch die nur unwesentlich ältere Tutorin bringt ihn dazu, die Pflichtlektüre Le rouge et le noir zu lesen – ein Mädchenbuch wie er spöttisch bemerkt. Sein Interesse gilt den Waffen, weshalb er kurzerhand als nächstes zur Ilias verdonnert wird, die er mit Begeisterung verschlingt und sich auch eine fundierte Meinung bilden kann. Nach und nach arbeiten sie sich durch den Kanon und eine immer tiefere Freundschaft bildet sich zwischen den beiden Außenseitern. Pie hat den Eindruck gar nicht zu leben und wie seine Eltern lebendig tot zu sein, Ange leidet darunter, an der Uni quasi unsichtbar zu sein und nicht wahrgenommen zu werden. Mit jedem Buch verändern sie sich und entwickeln sich weg von den Figuren, die sie zu Beginn waren.

Amélie Nothombs 29. Roman wurde von den französischen Literaturpreisen 2020 durchgängig ignoriert, dabei huldigt er der Literatur wie kaum ein anderer. Es geht ums Lesen, ums Reden über das Lesen und um die Welt im Buch und draußen vor der Tür. Es ist eine eigene Welt, in die Ange Pie einführt und um nicht nur eine Tür zu seiner Phantasie, sondern auch aus seinem Leben öffnet – viel mehr als sie erwartete und beabsichtigte. Aber es ist auch eine Geschichte von der Liebe und vom Erwachsenwerden und von einsamen Seelen, die sich dank der Welt der Bücher begegnen. Ein typisch Nothomb’sches Ende sorgt erwartungsgemäß dafür, dass nicht zu viel Glückseligkeit herrscht und holt einem auf den nackten Boden der Tatsachen zurück.

Valerie Keogh – The Three Women

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Valerie Keogh – The Three Women

Sie sind beste Freundinnen seit Beginn ihres Studiums, doch nun zwanzig Jahre später wird die Freundschaft auf eine schwere Probe gestellt. Ein verhängnisvoller Abend, als sie nur ihren Abschluss feiern wollten, holt die Polizistin Beth, Staatsanwältin Megan und Agenturinhaberin Joanne wieder ein. Es war nur eine falsche Annahme, eine kleine Lüge, doch diese hat den Lebensweg aller drei Frauen bestimmt. Eine unbedarfte Bemerkung bringt alles ans Licht und nun müssen sich die drei Freundinnen dem stellen, worauf sie ihr Leben aufgebaut haben: Lügen.

Der Psychothriller beginnt eher gemächlich, das Verhältnis der Frauen scheint eher unentspannt, dafür, dass sie beste Freundinnen sein sollen. Auch die Reaktionen ihrer Partner wirken etwas überzogen. Doch dann plötzlich entfaltet der Roman sein ganzes Drama und wird zu einem überzeugenden Thriller, der einem die Geschichte nur so um die Ohren fliegen lässt. Ein Ereignis jagt das nächste und kaum glaubt man das Ausmaß der Katastrophe zu überblicken, setzt Valerie Keogh noch eins drauf. Eine unerwartete Entdeckung, die neugierig auf mehr von der Autorin macht.

Carlton Roster – Blutboden

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Carlton Roster – Blutboden

Ein Krimi-Hörbuch aus dem Genre „Mit Recherche und Realismus hab ich’s nicht so, aber meine Porno- und Fetischphantasien würde ich schon gerne als Krimi präsentieren“. Eigentlich ist das scheußliche Cover schon recht wegweisend und sollte einem vom Hören abhalten. Aber zum Inhalt: Einer jungen Studentin werden brutal die Zehen abgehackt und sie findet einen grausamen Tod durch Ausbluten. Der zuständige Hauptkommissar Krüger kümmert sich nen feuchten Kehricht um den Fall und schickt stattdessen seine attraktive Marie Liebsam allein zu ihrem ersten Fall. Sie macht dann auch etwas, was man großzügig ermitteln nennen könnte, bevor sie erwartungsgemäß selbst in die Fänge des Bösen Mörders gerät.

Wer hinter dem Autorennamen „Carlton Roster“ steckt ist schwer herauszufinden, viel mehr als das „Blutboden“ sein Erstlingswerk und Auftakt einer Reihe ist, konnte ich nicht herausfinden. Es besteht keine Gefahr, dass ich an weitere Bücher oder Hörbücher des Schreibers gerate, zu sehr hat sich mir das Hörerlebnis in die Erinnerung eingebrannt. Gleich auf mehreren Ebenen kann man das Werk als geradezu bahnbrechend beschreibend. Himmelschreiend würde es aber auch ganz gut treffen.

Der Fall beginnt tatsächlich blutrünstig und spannend, man gerät direkt in die Mordszene und die Neugier ist geweckt. Interessant: es werden bei der Leiche nur neun Zehen gefunden, was die Ermittler messerscharf zur Erkenntnis führen: das muss der Beginn einer Mordserie sein oder das Opfer hatte nur neun Zehen. Joa, beides die unmittelbar logischen Schlüsse. Der Täter versteht etwas von seinem Handwerk, weshalb zunächst das Umfeld des Opfers beleuchtet wird und da ist es naheliegend, in eine große Erstsemester BWL Vorlesung mit mehreren Hundert Zuhörern zu gehen und allen zu erzählen, dass sie ermordet und wurde und jetzt um qualifizierte Beiträge zu bitten. Einzig suspekt ist jedoch der Dozent, der aber gegenüber der Polizei nicht zugeben wird, dass er diese Studentin tatsächlich näher kennt. Also ziemlich nah, denn er hat in seinem Auto mit ihr geschlafen. Lange Rede: es wird dann noch eine falsche Spur gefunden, der man nachgeht und die sogar zu einer Verhaftung führt. Jetzt ein bisschen CSI: die DNA Daten entlasten den Verdächtigen, das Ergebnis ist positiv wie der Polizist mitteilt. Also negativ, aber positiv für den Mann in Gewahrsam.

Das absolute Highlight ist aber Marie Liebsam. Sie trägt im Dienst Minikleidchen, bei dem man den Zwickel der Strumpfhose sehen kann. Das erfährt man nicht einmal, nicht zweimal, sondern jedes Mal, wenn sie ihren Auftritt hat. Sie ist die Protagonistin, das kommt also dauernd.  Nicht mit Charme, sondern ganz profan nackten Tatsachen becirct sie ihre Zeugen und Verdächtigen. Dies tut sie vorwiegend allein. Wozu auch noch einen Kollegen mitnehmen, kann die junge Polizistin in ihrem ersten Fall ganz allein, bringt sie zwar mehrfach in brutal gefährliche Lagen, aber mit Realismus war’s bei der Story ja eh nicht so. Ach ja, sie zeigt ihren messerscharfen Verstand – der offenbar gelegentlich auch schwere Aussetzer hat – und beeindruckt damit die männlichen Kollegen. Da man an der Haustür des Opfers keine Einbruchsspuren findet, erklärt sie dies mit folgender beeindruckender Überlegung: die junge Frau hat bestimmt immer die Tür offenstehen lassen. Sicher, liegt nahe bei einer jungen Frau, die frisch aus der Provinz in die Großstadt gezogen ist.

Nochmal zurück zu den Zehen, von denen ja eine fehlte. Das schien irgendwie wichtig zu sein. Wurde dann aber leider vergessen zu erklären. Ebenso woher jemand was von dem Bargeldversteck unter der Badewanne wissen konnte. Dass eine Studentin mehrere tausend Euro in ihrer Wohnung aufbewahrt, ist ja jetzt auch nicht unbedingt der Normalfall. Achtung Spoiler! sollte jemand trotz der klaren Warnung doch noch Interesse an dieser Geschichte haben, nicht weiterlesen! Dem echten Täter kommen sie dann nicht wegen Kommissar Zufall auf die Spur, sondern dieser kehrt einfach in die Wohnung des Opfers zurück, wo er – hier dann doch Kommissar Zufall – auf Marie trifft. Warum er dort ist, bleibt völlig unklar. Was er mit der Nachbarin zu tun hat, ebenso. Und außerdem wird der Fall am Ende sowieso nicht geklärt.

Fazit: beeindruckend, wie viele frauenverachtende männliche Figuren man in einer so kurzen Geschichte unterbringen kann. Auch die Dreistigkeit, mit der eine Pornodarstellerin als verantwortliche Kommissarin getarnt ermitteln darf, ist durchaus beachtenswert. Ebenfalls gelernt: alle jungen Frauen haben offenbar einen Schuhfetisch und sind sowieso nymphoman veranlagt. Aber auch alles andere ist so schräg und realitätsfern – unbedingt noch zu erwähnen: der Pathologe, der während der Obduktion das Handy greift, mit den Handschuhen, mit denen er gerade an der Leiche war, aber die zieht er dann eh aus, um mit bloßen Händen weiter zu untersuchen – dass man vor lauter Fassungslosigkeit den Ausschaltknopf nicht findet.

Jennie Rooney – Red Joan

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Jennie Rooney – Red Joan

Als Joan im Januar 2005 die Einladung zur Beerdigung von Sir William Mitchell erhält, weiß sie, dass nach all den Jahrzehnten die Wahrheit offenbar doch ans Tageslicht gekommen ist. Kurze Zeit später fährt dann auch ein Wagen vor und Ms Hart und Mr Adams informieren sie, dass dem House of Commons ihr Name als einer der russischen Agenten im Zweiten Weltkrieg mitgeteilt werden wird. Lange Tage der Befragung stehen ihr bevor, die sie zurück ins Jahr 1937 führen als sie am Newnham College in Cambridge ihr Studium der Naturwissenschaften begann. Dort lernte sie Sonya kennen, Jüdin ursprünglich aus Russland, aktuell vor den Nazis aus Deutschland geflohen, und deren Cousin Leo kennen, in den sich Joan verliebt und für den sie bereit war, ihr Vaterland zu verraten.

Jennie Rooneys Roman basiert auf der Lebensgeschichte von Melitta Stedman Norwood, die mehr als 30 Jahre als Sekretärin in einer staatlichen britischen Forschungsanstalt dem KGB wichtige Erkenntnisse über die Aktivitäten im Vereinigten Königreich geliefert hatte und erst 1999 entlarvt wurde. Die Autorin zeigt in „Red Joan“ jedoch nicht einfach wie eine junge Frau dem Charme eines russischen Agenten erliegt und für diesen zur Spionen wird, sondern lässt den Leser Joans komplexe Gedanken nachvollziehen, die einem verstehen lassen, weshalb sie sich zu diesem Schritt entschieden hat – für mich eine gut fundierte Überlegung, die weit über den Horizont von Nationalstaaten hinaus geht.

Die Handlung spielt sich auf zwei Zeitebenen ab, die Befragung innerhalb weniger Tage im Jahre 2005 und Joans Erinnerung an die Zeit ab Ende der 1930er Jahre. Als gutbehütetes Mädchen kommt sie unbedarft nach Cambridge und freundet sich mit der lebenslustigen Sonya an. So erhält sie Zugang zu politischen Debatten, die ihr zuvor fremd waren, vor allem die Exilrussen, die der Idee des Kommunismus anhängen, faszinieren sie. Auch wenn sie durch ihre Verliebtheit in Leo bisweilen den Fokus verliert, bleibt sie doch eine rationale Naturwissenschaftlerin und durchdenkt ihr Handeln. Als Mitarbeiterin Max‘ Labor ist sie bereit, Informationen zu stehlen und weiterzureichen, aber es ist die Atombombe auf Hiroshima, die für sie das entscheidende Moment darstellt: wenn nur ein Land der Welt über diese Waffe verfügt, sind dann nicht alle gefährdeter als wenn es ein Kräftegleichgewicht gibt, das sich aufhebt? Kann die gegenseitige Bedrohung nicht auch ein Garant für Frieden sein? Alle haben das Ausmaß der Zerstörung und des Leids in Japan gesehen, niemand kann sich das für sein eigenes Land wünschen.

Neben den klassischen Agenten-Geschichten wie sie John Le Carré mit seinen George Smiley Romanen oder auch Ian Fleming mit James Bond erzählen, tauchen in den letzten Jahren vermehrt auch die Geschichten um die weiblichen Agenten auf, wie etwa in Ian McEwans „Sweet Tooth“ oder Kate Atkinsons „Transcirption“. Jennie Rooneys Geschichte bietet neben den politischen Aspekten vor allem interessante Charaktere mit komplexen Beziehungen und etliche unerwartete Wendungen, sicherlich mit ein Grund dafür, dass sich die große Judy Dench als Schauspielerin für die Rolle der Joan in der 2018er Verfilmung hat gewinnen lassen.

Gregor Hens – Missouri

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Gregor Hens – Missouri

Als sich endlich die Chance bietet, greift Karl beherzt zu. Ein Job als Assistant Teacher in Columbia, Missouri, ermöglicht ihm die Flucht aus Deutschland. Die germanistische Abteilung ist überschaubar und zudem bildet sie mit dem französischen und dem russischen Institut eine Einheit. Schnell findet er Freunde und ebenso schnell verliebt er sich – ausgerechnet in eine seiner Studentinnen. Stella fasziniert ihn vom ersten Tag an und tatsächlich verfügt die junge Frau über ungeahnte Fähigkeiten. Sie und ihre Familie nennen es Calder Zirkus – die Fähigkeit die Schwerkraft zu überwinden und zu schweben. Im übertragenen Sinne tun sie das beide, denn die Frischverliebten schweben und lassen sich von zutiefst irdischen Gedanken nicht herabziehen. Und während Karl in den USA den Boden unter den Füßen verliert, erlebt seine Heimat die größten Umwälzungen seit dem 2. Weltkrieg.

Gregor Hens‘ Roman macht zunächst den Eindruck einer etwas verspäteten coming-of-age Erzählung, denn erst mit Anfang zwanzig emanzipiert und befreit sich der Protagonist von der Last seiner Familie und der Jugend im katholischen Internat. Der Umzug vom pulsierenden Köln in die US-amerikanische Provinz lässt für ihn die weltpolitischen Ereignisse in weite Ferne schweifen – und das, wo gerade seine Heimat der „place to be“ wäre. Dazu eine Liebesgeschichte, die nicht sein darf und sich noch unerwartet verkompliziert. Geschickt nutzt der Autor diese Rahmenbedingungen jedoch für ganz andere Themen und hier zeigt er sein wahres Können und der Roman seine ganz große Stärke.

Neben diesen oberflächlichen Begebenheiten ist die Geschichte voller Reflexion und ein Galopp durch die Linguistik und Literatur. Erst in der Ferne trifft ihn die Konfrontation mit der eigenen Sprache und ihren Fallstricken so richtig, erst die neue Situation führt ihm auch vor Augen, dass die Abenteuer der Literatur auch seine sind – hat er nicht eine verbotene Beziehung zu einer Studentin und reist mit ihr durch die USA bis zur Westküste? Stella jedoch ist glücklicherweise kein Kind mehr wie „Lolita“, aber dennoch nur ein Teenager. Aber auch eine Mrs Robinson gibt es – Karl steckt in der Falle.

Daneben die aufkommende Computertechnik, erste E-Mails – Zukunftsgespinste, die von der Zeit inzwischen längst überholt sind, Ende der 1980er aber wie Science-Fiction anmuteten. Der Roman ist voller Anspielungen, Referenzen, Intertextualität und kommt doch leichtfüßig daher. Bei der wissenschaftlich-geschichtlichen Last hätte er erdrückt werden können, aber das Gegenteil geschieht: all dies lässt ihn nur höher steigen. Dies verdankt er vor allem der unprätentiösen Sprache des Ich-Erzählers, die erfrischend jugendlich und unbedarft daherkommt und einen passenden Kontrast zu dem bietet, was mit ihr transportiert wird.

Eine Reise in die Ferne zurück zum Ich und zur Identität des Protagonisten, aber auch seiner Nationalität, fern der großen Debatten und Kriegsschauplätze. Und erfreulicherweise eine andere Seite Amerikas als die, mit der wir und momentan tagtäglich herumschlagen. Ganz eindeutig einer dieser leisen, unaufgeregten Romane, die jedoch echte Perlen darstellen.

Sally Rooney – Gespräche mit Freunden

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Sally Rooney – Gespräche mit Freuden

Mit einundzwanzig liegt die große Welt noch vor einem. So auch vor Frances, Litersturstudentin und angehende Schriftstellerin aus Dublin. Gemeinsam mit ihrer Freundin Bobbi tritt sie bei Poetry Slams auf, sie werden bewundert, bejubelt. Aber das ist nur wegen Bobbi, die sofort jeden verzaubert mit ihrer Schönheit und Offenheit. Neben ihr bleibt Frances blass, denkt sie. Als die Fotografin Melissa ihnen anbietet, ein Porträt über sie zu machen, öffnet sich eine neue Welt für die junge Frau aus bescheidenen Verhältnissen. Während die Uni in die Sommerpause geht, bewegen sich Bobbi und Frances sich plötzlich in der Welt der im Kunst- und Literaturbetrieb bereits Arrivierten. Scheu bewundert Frances diese Menschen, die sie um ihr Leben beneidet. Zurückhaltend und kühl erscheint sie, um ihre Unsicherheit und Selbstzweifel zu verdecken und doch interessiert man sich für sie, vor allem Nick, Melissas gutaussehender Ehemann, und völlig unvorbereitet wird Frances von ihren Gefühlen überrannt.

Die irische Autorin Sally Rooney gilt als der neue Star am Literaturhimmel, das Feuilleton bejubelt sie und ihr Debutroman war gleich für mehrere Preise nominiert. Man kann nur spekulieren, wie viel von ihrer Protagonistin Frances selbst in ihr steckt, viele Parallelen liegen auf der Hand und eines lässt sich ganz sicher sagen: sie ist eine der stärksten Stimmen ihrer Generation, und das, was sie mit ihrem Debut abliefert, schraubt die Erwartungen an die folgenden Werke hoch.

Einen Sommer und den Anfang des Herbstes begleitet die Geschichte Frances. Auch wenn die weiteren Figuren, Bobbi und vor allem auch das komplizierte Verhältnis von Melissa und Nick, durchaus auch viele interessante Aspekte liefern, so dreht sich doch allen nur um die Gedankenwelt der jungen Studentin. Viele Bücher gibt es, die die Unsicherheit einer jungen Frau, vor allem auch gegenüber älteren und selbstbewussteren Frauen, thematisieren. Rooney gelingt es aber insbesondere Frances‘ Gedankenstrudel einzufangen und dabei den Leser mitzunehmen. Man betrachtet sie nicht nur von außen, das Mädchen, das erst erwachsen werden und lernen muss, ihre Wirkung auf andere richtig einzuschätzen. Viel mehr hat man das Gefühl direkt in ihr zu stecken und die widersprüchlichen Emotionen mit ihr zu durchleben.

Es ist ein besonderer coming-of-age Roman, der insbesondere durch das Milieu ein ganz eigenes Flair entwickelt. Frances‘ Reflektiertheit steht ihr bisweilen im Weg, alles zu analysieren und zu hinterfragen, hält sie bisweilen vom Leben ab und treibt sie in einen gefährlichen Strudel. An dieser Stelle hat mich die junge Autorin ganz besonders überzeugt: ihr ist es gelungen, psychische Ausnahmezustände und auch manifeste Erkrankungen in einer ausgesprochen unaufgeregten Weise in die Handlung einzubauen, so dass diese nicht als Determinante der Figur erscheinen und diese dadurch nicht als bemitleidenswertes Opfer gezeichnet wird. Charakter und Persönlichkeit treten nicht hinter diese zurück, sondern nehmen sie als eine Facette auf.

Es genügen wenige Seiten und man wird von dem Sog, den der Roman entfaltet, mitgezogen. Ihr Stil ist ironisch bis metaphorisch und vor allem sehr reflektiert. Dazu bietet sie neben der Haupthandlung unzählige Themen und Denkanstöße, die die Breite ihres Repertoires nur noch weiter unterstreichen. Zweifelsfrei einer DER Romane 2019.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. mehr Informationen zu Autorin und Buch finden sich auf der Seite der Random House Verlagsgruppe.

Caroline Kepnes – YOU – Du wirst mich lieben

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Caroline Kepnes – YOU – Du wirst mich lieben

Als sie seine Buchhandlung betritt, ist es um Joe Goldberg geschehen. Doch Guinevere Beck, die alle nur mit ihrem Nachnamen anreden, hat Amors Pfeil nicht so tief getroffen, weshalb er ein wenig nachhelfen muss. Erst beobachtet er die Studentin nur, dann nutzt er eine Gelegenheit, um mit ihr wieder in Kontakt zu treten. Nun sitzt sie in der Falle. Beck entwickelt tatsächlich Gefühle für ihn, aber andere Dinge, vor allem andere Männer, beschäftigen sie ebenfalls. Also muss Joe diese nach und nach aus dem Weg räumen. Den anderen Typen, die Freundin, den Therapeuten. Da er ihre Mails mitliest, ist er ihr immer einen Schritt voraus und er ist sich sicher, sie wird am Ende schon erkennen, was gut für sie ist.

Die Geschichte um den besessenen Bücherfreak, der eine junge Frau stalkt, um sie für sich zu gewinnen, klingt in der Grundanlage spannend. Tatsächlich fand ich den Anfang auch sehr überzeugend, die Dialoge sind hier lebendig und Joes Verhalten zwar übergriffig, aber doch nachvollziehbar. Es ist offenkundig, dass er sich zum Psychopaten entwickeln wird und die Situation sich zuspitzen muss, aber dies geschieht nur mit sehr vielen Schleifen und Längen, was leider der Spannung nicht zuträglich ist.

Natürlich ist Joe besessen und krank, die Leichtigkeit, mit der er mordet, ist ohne Frage auch jenseits des normalen Verhaltensrahmens. Allerdings sind die anderen Figuren auch weit davon entfernt, was zum Teil aber auch an der nicht ganz stimmigen Figurenzeichnung liegt. Vor allem Beck ist in sich nicht glaubwürdig, von der talentierten und ehrgeizigen Studentin, die ein Stipendium für eine der besten Universitäten erhalten hat, ist gar nichts zu spüren. Sie ist dümmlich, naiv, völlig desinteressiert an ihrem Studium und scheint außer für den nächsten Mann, den sie aufreißen kann, keine Gedanken zu haben. Auch ihren Freundinnen rangieren in jeder Hinsicht auf dem geistigen Niveau von 13-Jährigen Dorfproletinnen, was den wohlhabenden und intellektuellen Hintergrund, den sie angeblich haben, in keiner Weise widerspiegelt.

Das ewige Hin und Her zwischen Joe und Beck, die ja irgendwie mag, aber dann doch nicht, soll vermeintlich das große Finale hinauszögern und die Spannung steigern. Allerdings wird es irgendwann sehr müßig herauszufinden, warum Beck jetzt gerade doch wieder nicht will oder was ihre Freundin ihr nun serviert. Die Schleife ist leider auch so wiederholend und vorhersehbar, dass keinerlei Überraschung kommt. Joes Informationsbeschaffung und Überwachungssystem ist clever, auch sein Charakter in sich völlig stimmig – aber das ist zu wenig, um den ganzen Roman durch zu tragen.