Miku Sophie Kühmel – Kintsugi

Miku Sophie Kühmel – Kintsugi

Kintsugi – das japanische Kunsthandwerk, zerbrochenes Porzellan mit Gold zu kitten.

Ein Wochenendhaus in der Uckermark. Reik und Max haben ihren langjährigen Freund Tonio und dessen inzwischen erwachsene Tochter Pega eingeladen. Alles ist wie immer, schon seit inzwischen zwanzig Jahren bildet das Quartett eine Art freiwillige Familie, Reik und Max haben Pega ebenso mit erzogen und aufwachsen sehen wie Tonio. Frauen gab es keine, die vermisste auch niemand. Alles scheint perfekt, doch das scheinbar glückliche Bild bekommt nach und nach immer feinere Risse, die irgendwann in Brüchen enden. Ein Wochenende, das ein Ende und Anfang ist, an dem vieles infrage gestellt, anderes bestätigt wird.

Miku Sophie Kühmel verleiht ihren vier Figuren einem nach dem anderen eine Stimme, um ihre Sicht des Jetzt, aber auch der vergangenen zwei Jahrzehnte zu schildern. „Kintsugi“ ist dafür als Titel hervorragend gewählt, denn es wird versucht nochmals zu kitten, was schon zerbrochen ist. Vier Perspektiven auf das Leben, die das Ungesagte offenlegen und zeigen, was unter der Oberfläche versteckt wird.

Alle erwachsenen Männer haben mit Selbstzweifeln und Unsicherheiten zu kämpfen, die sie jedoch verstecken. Max ist erfolgreicher Professor, der von seinen Studierenden bewundert wird, dies aber gar nicht wahrnimmt, sondern immer nur sieht, wie erfolgreich sein Partner ist. Reiks Kunst begeistert weltweit und hat ihn reich gemacht, für ihn jedoch ist Tonio das größte Kunststück geglückt: seine Tochter. Alles, was er erschafft, verblasst daneben und wird bedeutungslos. Tonio hingegen hat keine Karriere gemacht trotz bester Voraussetzungen als Musiker und ob er als alleinerziehender Vater so erfolgreich war, stellt er ebenfalls infrage. Pega hat drei ganz unterschiedliche Vorbilder und erkennt, wie schwer es für alle Männer in ihrem Leben sein wird, an diese auch nur ansatzweise heranzureichen.

Es geht um nicht weniger als das Leben und den Sinn desselben. Obwohl sie etwas aus den wenigen Chancen gemacht haben, bleibt bei Reik, Max und Tonio die Frage, ob nicht auch alles ganz anders hätte kommen könne, ob sie nicht etwas verpasst haben, den falschen Weg eingeschlagen haben. Es sind die Zweifel, die wir alle mit uns herumtragen und die uns blind machen für das Schöne und Gute in unserem Leben. Die das verdecken, was Außenstehende bewundern und beneiden und uns verleiten, Dinge aufzugeben, die schwer erkämpft wurden und wertvoll sind.

Ein wundervoll erzählter Roman, der tief in die Seele und Gedankenwelt der Figuren abtaucht und beim Leser Denkprozesse anstößt, die auch nach der letzten Seite noch fortdauern.

Dave Eggers – Every

Dave Eggers – Every

Nachdem die Firma Circle schon weite Teile des Internets beherrschte, hat sie sich mit dem Aufkauf eines online Versandhauses, das nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war, auch den Konsummarkt gesichert. Unter dem Namen „Every“ kontrolliert Mae Holland nun weite Teile des Alltags der Menschen. Delaney Wells hat viel dafür getan, um bei Every angestellt zu werden, doch weniger, weil sie von dem Unternehmen fasziniert wäre, sondern weil sie Rache nehmen möchte. Von außen ist der Konzern zu mächtig, um ihm zu schaden, das kann nur aus dem Innersten gelingen. Mit ihrem Mitbewohner Wes entwickelt sie eine Strategie: mit immer absurderen Vorschlägen für Apps wollen sie den Menschen die Augen öffnen, doch ihre Idee fruchtet nicht. Statt sich angewidert abzuwenden, nehmen die Nutzer die immer weiterreichenden Einschränkungen begeistert auf und sind gerne bereit, immer mehr Freiheiten aufzugeben. Sie müssen also noch weiter gehen.

Mit großer Faszination hatte ich vor einigen Jahren „The Circle“ gelesen und trotz der etwas flachen Protagonistin konnte mich die Idee des Romans begeistern. Nun legt Dave Eggers den Gegenentwurf, die Zerstörung seiner eigenen Schöpfung, vor. Mit Delaney hat er eine clevere und mutige Figur geschaffen, die konsequent ihr Ziel verfolgt, das auch glaubwürdig motiviert ist, die Umsetzung jedoch bleibt für mich hinter den Erwartungen zurück. Dies liegt vor allem an vielen Längen, die die Handlung nicht voranbringen und der Vorhersehbarkeit der Entwicklungen, hier hätte ich mir mehr Überraschungen gewünscht.

Delaneys Ansatz, immer absurdere Vorschläge zu machen, die die Menschen kontrollieren – welche Worte verwenden sie, wie gut gelingen die Interaktionen mit anderen, wie gute „Freunde“ sind sie wirklich bis hin zu vollständigen Überwachung des Lebens – treiben aktuelle Entwicklungen immer weiter. Die Argumentationsstruktur von Every überzeugt: all dies dient der eigenen Sicherheit und Kontrolle. Wessen Sprache permanent überwacht wird, wird sich bemühen „korrekt“ und rücksichtsvoll zu sprechen und so wird die Welt ein bisschen besser. Die Bodycams zeichnen alles auf, weshalb man auch die kleinen Verfehlungen des Alltags sichtbar macht und sie so nach und nach einstellt. Alle werden zu besseren Menschen. Ein rücksichtsvoller Umgang miteinander, Reduzierung von Gewalttaten und auch noch der Schutz der Umwelt – wer kann sich dem ernsthaft verweigern?

Eggers geht einfach einen Schritt weiter und zeigt schön, wie leicht die Fallen eigentlich zu entdecken wären, in die die Figuren tappen. Jedoch, sie wollen das, denn das Leben wird leichter, wenn einem Entscheidungen abgenommen werden und Ordnung und Struktur herrscht. Nichts ist anstrengender, als selbst zu denken, weshalb man das großzügig an Every abgibt. So überzeugend dieser Aspekt ist, es hätten ein paar Erfindungen weniger sein dürfen, denn die 20. App bringt die Handlung irgendwann auch nicht mehr weiter.

Eine kleine Gruppe von Verweigerern versucht sich all dem zu widersetzen, Anarchisten, die mit ihren Mitteln in den Kampf ziehen, ebenso wie ein paar Intellektuelle, die jedoch nicht gehört werden. Auch Delaneys Freund Wes und seine Entwicklung im Laufe der Handlung bleibt für mich zu plakativ und einfallslos, Eggers kann definitiv mehr als abgenutzte Versatzstücke zu verwenden.

Die Idee überzeugt, auch die Protagonistin ist gelungen, aber der Autor hätte für mein Empfinden mehr daraus machen können. Einzelne Szenen – der Ausflug zu den Robben und die Folgen – sind herrlich, auch das Offenlegen der heuchlerischen Argumente ist gut umgesetzt. Viele Längen und eine doch recht absehbare Entwicklung schlagen jedoch auf der negativen Seite zu Buche.

Linn Strømsborg – Nie, nie, nie


Linn Strømsborg – Nie, nie, nie

Schon seit acht Jahren ist sie mit Philip in einer glücklichen Beziehung, kein Wunder, dass ihre Familien und Freunde die unausweichliche Frage nach Hochzeit und Kindern Mantra artig wiederholen. Doch sie will keine Kinder, sie ist glücklich mit ihrem Leben und ihrer Beziehung, es fehlt nichts. Der Freundeskreis wird mit Anfang 30 langsam kleiner, immer mehr beginnen ein Nest zu bauen, draußen, auf dem Land und in den Vorstädten, um dem Lärm der Großstadt zu entfliehen, um es sich mit der Kleinfamilie im neuen Kokon einzurichten. Da geht man abends nicht mehr spontan weg, alles muss nun gut geplant sein. Als ihre beste Freundin Anneken und deren Mann Alex dann plötzlich auch die Schwangerschaft verkünden, ist auch die letzte Verbündete schwach geworden. Sie wollten doch zusammen alt werden, ohne Kinder.

Linn Strømsborgs Erzählerin erzählt genau jene Geschichte, die ziemlich allen Frauen ab Mitte/Ende 20 bekannt vorkommen dürfte. Sobald sich eine feste Partnerschaft abzeichnet, wartet das Umfeld nur noch darauf, endlich die Ankunft eines neuen Erdenbürgers feiern zu dürfen. Als gäbe es kein anderes Konzept, keinen gegensätzlichen Lebensentwurf, wird bei aller Modernität und erreichten Bildungsabschlüssen von Frauen immer noch erwartet, dass sie irgendwann zurückkehren zu Kind und Küche. „Nie, nie, nie“ wollte die Erzählerin genau das und sieht sich mit einer Welt konfrontiert, in der ihre Vorstellung scheinbar keinen Platz hat.

Sie mag Kinder, beschäftigt sich auch mit ihnen, trägt und beruhigt sie – aber deshalb will sie noch lange keine eigenen haben. Auch ihre Partnerschaft ist ihr genug, sie ist glücklich mit Philip und kann ihr Leben nach ihren Wünschen und Vorstellungen gestalten. Ihr ist völlig bewusst, dass dies eine hedonistische Sichtweise ist – aber im Ernst: welche Frau bekommt Kinder für die Rentenkasse? Sie kann sich dem Thema nicht entziehen: in der Familie, am Arbeitsplatz, mit Freunden, immer wieder kommt es auf und seit Jahren schon hat sie ausweichende Sätze parat, um das Gespräch rasch auf etwas anderes zu lenken. Von Beginn ihrer Beziehung an hat sie keinen Hehl daraus gemacht, dass sie ihre Meinung nicht ändern wird, doch bei Philip ändert sich die Lage und so wird auch das gemeinsame Fundament brüchig, auf dem sie stehen.

Soll man sich dem Druck irgendwann einfach beugen? Nur damit es aufhört? Auch das zieht sie in Betracht, als sie jedoch auch sieht, was die Elternschaft mit ihren besten Freunden macht, ist diese Option schnell wieder vom Tisch. Ein Baby zu haben ist nicht immer eitel Sonnenschein, es strengt an, zermürbt, raubt die letzten Kräfte und Anneken erkennt sich selbst bald nicht mehr wieder – und doch ist ihre Tochter für sie das Beste, was in ihrem Leben jemals geschehen ist.

„Kannst du glücklich sein, wenn dich alle für unglücklich halten? Wenn ich mich gegen Kinder entscheide, wird man mir dann immer mit Mitleid und Bedauern begegnen, von der Häme und den Egoismus-Vorwürfen mal ganz abgesehen?“

Linn Strømsborg beschönigt weder die eine noch die andere Sicht, sondern lässt authentisch miterleben, wie sich Freundschaften, Beziehungen und auch das eigene Leben im Laufe der Zeit verändert. Es ist weder ein feministisches Manifest der selbstbestimmten Frau, noch ein Urteil über den einen oder den anderen Weg. Im Gegenteil, an den Frauenfiguren werden ganz unterschiedliche Haltungen zum Thema Mutterschaft deutlich und auch was dies mit jenen Frauen tut, die sich dem gesellschaftlichen Diktat beugen und nicht ihrem Bauchgefühl folgen. Wunderbar unaufgeregt erzählt, ein heikles Thema mal nicht vom Extrem her betrachtet, sondern mit all seinen Facetten und widersprüchlichen Emotionen mitten aus dem Leben heraus.