Steintór Rasmussen – Poesie des Mordens

Steintór Rasmussen – Poesie des Mordens

Kommissar Jákup á Trom ist gerade auf zweiwöchiger Fortbildung in Kopenhagen, als man dort die Leiche eines Färingers findet. Die örtliche Polizei bittet ihn, seinen Aufenthalt zu verlängern und bei der Aufklärung mitzuwirken. Der Tote ist kein Unbekannter, Tóki Narvason gilt als bester Schriftsteller der Inselgruppe. Jákup hatte sich eigentlich sehr auf die Heimat gefreut, nicht nur, weil er seine Frau und die Kinder wiedersehen wollte, sondern auch weil es das Wochenende der großen Strickclubparty im Hotel Atlantis ist, die sich niemand entgehen lässt und wo alles geschehen kann. Genau das ist auch der Fall, unter anderem gibt es am Sonntagmorgen eine Tote – die Freundin des verstorbenen Poeten. Das kann kein Zufall sein.


Steintór Rasmussen entführt mit „Poesie des Mordens“ zum dritten Mal auf die Atlantikinseln, die literarisch bei weitem nicht so prominent sind wie beispielsweise Island, das zahlreichen Autoren als Krimischauplatz dient. Die außergewöhnliche Natur des Eilands spielt dieses Mal eine nachrangige Rolle, dafür wird die Handlung sehr stark durch die Traditionen – Strickclubs und deren Festivals sind mir von nirgendwo bislang untergekommen – und die spezifische Gesellschaftsstruktur getragen. 


Die beiden Mordfälle, bei denen nicht einmal eindeutig geklärt ist, ob es Morde sind, sind zwar das tragende Element, rücken für mich aber hinter die Figuren zurück. Immer wieder erlauben Einschübe Blicke in die Vergangenheit sowie in die Seele und das Gedankenwirrwarr eines enttäuschten Menschen. Doch reicht diese Enttäuschung, um gleich zwei Feinde aus dem Leben zu befördern? Viele Jahrzehnte gehütete Geheimnisse kommen plötzlich ans Licht und stellen so manchen Lebensentwurf infrage.


Neben den herausfordernden Ermittlungen fällt dieses Mal Jàkup durch seine eigenen Qualen auf. Auch er hat ein Geheimnis, sein Umgang jedoch damit und die Tatsache, wie er mit zweierlei Mass seine Schwächen und die der anderen beurteilt, kommen unerwartet. Der bis dato rechtschaffene Polizist zeigt plötzlich eine ganz neue und nicht gerade schmeichelhafte Seite. 


Rasmussen hat eigenen ganz eigenen Erzählstil gefunden, der bisweilen etwas unemotional wirkt und doch fesselt. Die Geschichte ist überzeugend konstruiert und entfaltet sich erst langsam, wobei dieses Mal die Figuren herausragend gestaltet wurden und die Handlung souverän tragen und voranbringen.

Tom Zürcher – Liebe Rock

Tom Zürcher – Liebe Rock

Timm hat gerade die Schule abgebrochen, um sich ganz dem Schreiben zu widmen. Eigentlich ist er nicht besonders gut darin, aber jeder gute Schriftsteller hat auch immer viel Alkohol getrunken und das kann er. Für seinen neuen Lebensschritt muss er natürlich auch ausziehen und so landet er bei der Kellnerin Rock, ihrem Mitbewohner Marc und dem namenlosen Hund in der Rumpelkammer. Lose Sätze sammelt Timm in seinem Wachsheft, doch mehr noch ist er damit beschäftigt, die Aufmerksamkeit von Rock zu erlangen, in die er sich gnadenlos verliebt hat, was jedoch nicht auf Gegenseitigkeit beruht. Dank seines Vaters eröffnet sich plötzlich die Chance auf eine Veröffentlichung, dumm nur, dass er gar keinen Roman hat, den man veröffentlichen könnte. Sein Verleger, ein ehemaliger Kollege seines Vaters aus der Versicherungsbranche, empfiehlt ihm daher eine zweifelhafte Methode und schnell schon ist das Meisterwerk fertig – und ebenso noch mehr Probleme als die, in die sich Timm bereits geritten hat.

Tom Zürcher konnte mich mit seiner kafkaesken Bankensatire „Mobbing Dick“ herrlich unterhalten, weshalb meine Erwartungen an seinen neuen Roman groß waren. Leider bleibt „Liebe Rock“ weit hinter diesen zurück. Zwar finden sich wieder herrlich komische Szenen, aber dieses Mal kann vor allem der Protagonist mich nicht überzeugen. Zwar kann die Anlage als rücksichtslos-egoistisches, sich gnadenlos selbstüberschätzendes Machomännchen durchaus seinen Reiz haben, hier jedoch finde ich es eher primitiv abstoßend und nicht faszinierend.

Timm laviert sich durchs Leben. Mit Gelegenheitsjobs im Supermarkt hält er sich über Wasser, während er allen erzählt, dass er Schriftsteller sei. Das Eigentum anderer Leute – Handy, Fahrrad, sogar der Dissertation des Mitbewohners – betrachtet er entspannt als seins und er hat nicht einmal ein schlechtes Gewissen, wenn er etwas verliert oder zerstört. Er lügt sich erfolgreich so durch. Respekt kennt er nicht, auch nicht gegenüber Tieren, die Misshandlung der Katze ging dann doch über meine Schmerzgrenze hinaus. Wenn er nicht bekommt, was er will, wird er patzig und bockig wie ein Dreijähriger, so etwas wie Empathie ist ihm völlig fremd. Er lebt in seiner eigenen Welt, nur der Hund scheint ihn zu verstehen – dass dies kein gutes Ende nehmen kann, ist jedoch vom ersten Satz an bekannt.

Man fragt sich immer, was der Autor mit seiner Geschichte zum Ausdruck bringen möchte. Die Absurdität des Literaturbetriebs, wo Timms Roman unerwartet ein Erfolg wird, obwohl es schlichtweg Bockmist ist, den er da zusammengestückelt hat? Oder das Gefangensein eines Menschen mit offenkundiger narzisstischer Persönlichkeitsstörung, die als Krankheit von seiner Umgebung nicht erkannt wird? So richtig Sympathien kann man nicht für ihm empfinden, aber auch gegenteilige Emotionen, die einem durch die Handlung tragen könnten, stellen sich nicht ein, weil man noch am ehesten Verachtung und Mitleid empfindet, was es nicht leicht macht, den Roman zu schätzen, trotz der passend lockeren Sprache und humorvollen Szenen.

Polly Samson – Sommer der Träumer

Polly Samson – Sommer der Träumer

Nach dem Tod der Mutter flüchtet die junge Erica mit ihrem Bruder Bobby vor den Wutausbrüchen des Vaters aus London auf die griechische Insel Hydra. Dort hofft sie auch mehr über ihre Mutter zu erfahren, denn deren ehemals beste Freundin Charmian lebt dort und hatte sie eingeladen. Sie ist es auch, die das Mädchen in die Gemeinschaft von Schriftstellern, Malern und Musikern einführt, die dort ein unbeschwertes Leben der Bohemians führen und alle hoffen, dass sie von der Muse geküsst werden und das nächste große Meisterwerk verfassen.

Polly Samson ist mit dem Pink Floyd Sänger David Gilmour verheiratet und hat für die Band an unzähligen Liedtexten mitgearbeitet. In „Sommer der Träumer“ lässt sie eine Reihe von bekannten Künstlern erscheinen, unter anderem Leonard Cohen und seine norwegische Muse Marianne Ihlen. die Insel ist nicht nur klein, sondern 1960 auch noch ohne Strom, was das Leben reduziert und unweigerlich auch die zwischenmenschlichen Emotionen in den Fokus rückt.

Erica kommt als naive junge Frau zu der bunten Community, sie ist nicht nur unerfahren, sondern auch bezogen auf ihr Leben und ihre Zukunft planlos und zudem durch den Verlust der Mutter schwer getroffen. Sie beobachtet und bewundert das unbeschwerte Leben das voller Drogen und Sex, das aber auch von Gewalt geprägt ist und in dem insbesondere die Frauen weniger als eigenständige Künstlerinnen wahrgenommen werden, denn als willfährige Partnerinnen, die den Launen der leidenden Künstler ausgesetzt sind.

Leider hat mich der Roman nicht wirklich erreicht. Ich fand Ericas Verzweiflung in London nach dem Verlust der Mutter noch gut greifbar und berührend, auf der Insel jedoch dominieren andere Charaktere und sie wird zunehmend in die Rolle der Beobachterin gedrängt. Das Mysterium um ihre Mutter trägt auch nur bedingt zum Spannungsaufbau. An dem Titel reizte mich vor allem die Atmosphäre der kleinen Insel, auf der kreative Menschen sich ganz dem künstlerischen Schaffen widmen – leider sind es aber eher Beziehungsprobleme und Gewaltausbrüche, die die Tage prägen. Insgesamt durchaus leicht zu lesen, aber leider weit hinter den Erwartungen geblieben.

Guillaume Musso – La vie est un roman [dt. Eine Geschichte, die uns verbindet]

Guillaume Musso – La vie est un roman

Gut gelaunt kehrt Autorin Flora Conway mit ihrer Tochter Carrie in das Apartment im Lancaster Building zurück. Wie immer spielen sie eine Runde verstecken, Flora hört noch, wie das Mädchen davontapst, doch als sie die Suche beginnt, kann sie Carrie nicht finden. Die Tür ist abgeschlossen, die Fenster ebenso, wo also steckt sie? Verzweifelt ruft sie die Polizei, die ebenfalls vor einem Rätsel steht. Wer treibt ein perfides Spiel mit der erfolgreichen, aber sehr zurückgezogen lebenden Schriftstellerin? Die Antwort findet sich in Paris: Romain Ozorski, seines Zeichens ebenfalls beliebter Autor, der jedoch gerade in einer persönlichen Krise steckt, nachdem seine Frau Almine nicht nur die Scheidung will, sondern auch den gemeinsamen Sohn Théo in die USA bringen möchte. Die Verbindung liegt in Fantine de Vilatte, Verlegerin mit Gespür für Bestseller.

Nachdem ich vor wenigen Tagen zum ersten Mal einen Roman von Guillaume Musso gelesen habe, war ich neugierig auf weitere Werke des französischen Erfolgsautors. Sein aktuelles Buch hat die Erwartung nicht enttäuscht: wieder werden verschiedene Geschichten angerissen, deren Verbindung sich erst im Laufe der Handlung aufzeigt. Der Titel verrät eigentlicher schon alles, was einem jedoch als Leser erst spät klar wird. Clever konstruiert bleiben lange Zeit offene Fragen, deren Beantwortung man mit Spannung verfolgt und die sich schließlich glaubwürdig und restlos klären.

Die Handlung beginnt in New York mit dem mysteriösen Verschwinden Carries. Man kann die Verzweiflung der Mutter nachvollziehen, vor allem als sich bei der Befragung durch die Polizei der Verdacht aufdrängt, dass sie selbst beschuldigt wird, hinter der Geschichte zu stecken. Der zweite Handlungsstrang fokussiert ebenfalls auf einem verzweifelten Elternteil, Romain sieht sich seiner noch Ehefrau ausgeliefert, die geschickt das öffentliche Image lenkt, um ihn als gewalttätigen und aggressiven Gatten und Vater darzustellen, um so den gemeinsamen Sohn ganz für sich zu haben. Aus Romains Sicht stellt sich die Lage gänzlich anders dar, mental labil und unter dem Einfluss zweifelhafter Extremisten sollte Almine keinesfalls das Sorgerecht für Théo erhalten.

Floras und Romains Verbindung klärt sich rasch, aber die anderen Figuren bleiben mysteriös. Nach dem Prinzip einer russischen Puppe steckt immer noch eine weitere Geschichte in der gerade erzählten, Ähnlichkeiten und Parallelen zeigen sich, aber was auf welcher Ebene liegt, muss erst enthüllt werden.

« Vous allez supprimer les fichiers de votre disque dur, c’est ça? Vous allez mettre ma vie à la poubelle, d’un simple clic sur votre ordinateur ? – C’est un peu réducteur, mais ce n’est pas faux. »

Gleich mehrere Autoren, neben Flora Conway und Romain Ozorski auch noch Frederik Andersen, die verschiedene Geschichten erzählen. Ein großer Spaß für Literaturliebhaber, zudem spannend geschrieben, so dass man das Buch gar nicht mehr weglegen möchte.

Benedict Wells – Spinner

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Benedict Wells – Spinner

Jesper Lier ist Anfang 20 und hatte eigentlich vor nach seinem Umzug von München nach Berlin so richtig das Leben zu beginnen und als Autor zu arbeiten. Die Realität sieht jedoch anders aus: er lebt in einem Kellerloch, schreibt für eine Lokalzeitung, um sich finanziell über Wasser zu halten, die Uni hat er nur zur Immatrikulation betreten und langsam wird ihm auch bewusst, dass sein Mammutwerk von Roman, an dem er zwei Jahre lang gearbeitet hat, vermutlich nichts taugt. Der Rest seines kümmerlichen Lebens ist so beklagenswert, dass die Depression die logische Folge ist. Auch seine Freunde dringen kaum mehr zu ihm durch. Seiner Mutter hat er versprochen für den anstehenden Umzug zurückzukehren und zu helfen, aber der geplante Familienbesuch drückt ebenfalls aufs Gemüt – wofür lebt er eigentlich noch?

Benedict Wells zweiter Roman, der bereits 2009 erschien, im Herbst 2016 jedoch in einer überarbeiteten Fassung nochmals aufgelegt wurde, hat deutliche autobiografische Züge. Genau wie sein Protagonist verließ Wells nach Ende der Schulzeit die bayerische für die Bundeshauptstadt, um dort die Schriftstellerkarriere zu starten. Mit Nebenjobs als Redakteur schlug er sich durch, bis ihm mit „Becks letzter Sommer“ der Durchbruch als Autor gelang. „Spinner“ hat er in sehr jungen Jahren verfasst, was man dem Roman deutlich anmerkt, alles in der Geschichte dreht sich in einem sehr begrenzten Radius um den Protagonisten, der Blick über den Tellerrand und das Wahrnehmen der Welt um ihn herum gelingt ihm noch nicht.

Der Roman klingt ein wenig nach einem verspäteten Vertreter der Popliteratur. Die junge Hauptfigur auf der Suche nach dem Sinn des Lebens, das hauptsächlich von Alkohol, Zigaretten und Drogen bestimmt wird und immer wieder Referenzen zu den Größen des Literatur- und Musikbetriebs aufweist. Allerdings bleibt Wells völlig frei von Gesellschaftskritik und Jesper ist weitgehend unpolitisch, ja noch nicht einmal offen politisch desinteressiert, weshalb er dann doch hinter den bekannten Vertretern des Genres zurückbleibt. Auch die psychologische Tiefe des Charakters bleibt überschaubar, er ist nicht der intellektuelle Denker, der innerlich zerrissen ist und so tiefgründige Sinnsuche betreiben würde. Im Gegenteil: Jesper Lier ist in weiten Teilen wohlstandsverwöhnt und badet in Selbstmitleid. Auch wenn er durchaus harte Schicksalsschläge erlebt hat, eigentlich ist er in einer sehr komfortablen Lebenssituation und findet nur Gefallen an dem dandyhaften Auftritt eines Emos, der nicht erwachsen geworden ist.

Trotz der Kritik hat mir der Roman gefallen und ich würde ihn ohne Frage als lesenswert bezeichnen wollen. Auch wenn ihm die Tiefe fehlt und er nicht ganz so berühren kann wie mit „Vom Ende der Einsamkeit“, gelingt es Wells doch eine überzeugende Figur zu schaffen, die in sich stimmig ist und deren Seelenleben er glaubwürdig einfängt. Jesper Lier wirkt authentisch und meiner Einschätzung nach durchaus ein symbolischer Vertreter für seine Generation. Sprachlich lässt der Autor an einigen Stellen sein Können aufblitzen, das sich in seinen späteren Büchern dann richtig entfaltet.

Ein herzlicher Dank geht an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Titel und Autor finden sich auf der Verlagsseite.

Deborah Levy – Was ich nicht wissen will

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Deborah Levy – Was ich nicht wissen will

Deborah flieht aus Südafrika nach Mallorca, Mitten im Winter, um zu schreiben. Doch schon das Ankommen ist so beschwerlich, dass sie keinen richtigen Anfang findet. Mit einem chinesischen Ladenbesitzer kommt sie ins Gespräch. Er genau wie sie fern der Heimat, der Landessprache nicht mächtig, fremd. Sie erzählt ihm von ihrer Kindheit in Südafrika, zur Zeit der Apartheit, als man ihren Vater wegen seiner Aktivitäten für den ANC verhaftete und sie zu einer entfernten Tante schicke, wo sie als jüdischen Mädchen bei Nonnen unterrichtet wurde. Sprach sie zuvor schon nicht viel, verstummt sie nun fast gänzlich. Nach Jahren des Wartens wird der Vater freigelassen und die Familie flieht nach England. Zwar spricht man dieselbe Sprache, aber das Mädchen findet immer noch keine Worte, um sich auszudrücken. Erst durch das Schreiben kann sie das, was in ihr vorgeht, nach außen dringen lassen.

Deborah Levys literarischer Durchbruch gelang ihr 2012 mit Heim Schwimmen, für das sie auf der Shortlist des Man Booker Prize 2012 stand. Dasselbe konnte sie im vergangenen Jahr mit Hot Milk wiederholen. Als Südafrikanerin hat sie die Rassentrennung miterlebt, die auch zentral für „Was ich nicht wissen will“ ist. Der Untertitel, der leider bei der deutschen Ausgabe fehlt, unterstreicht die realen Bezüge, dass es ihre Gedanken sind und ihre Erklärung dafür ist, weshalb sie zur Schriftstellerin wurde: A reponse to George Orwell’s 1946 essay ‚Why I write‘.

Es sind zwei Phasen in ihrem Buch, die mich besonders beeindruckt haben. Die erste zu ihrer Kindheit in Johannesburg, wo sie mit der den Kindern eigenen Naivität die Welt beobachtet und erfasst, ohne zu verstehen, was sie sieht und was dies bedeutet:

Der Koffer, den mein Vater packt, ist sehr klein. Bedeutet das, er kommt bald wieder? Die Männer haben ihm ihre breiten Hände auf die Schultern gelegt. (…) Und jetzt wird er zügig abgeführt von Männern, von denen ich aus mitgehörten Gesprächen zwischen Mom und Dad weiß, dass sie andere Menschen foltern und dass sie manchmal am Handgelenk ein Hakenkreuz eintätowiert haben.

Vor allem die innige Beziehung zu ihrem Kindermädchen Maria und deren Tochter Thandiwe und das nur langsame Begreifen, dass sie zwar im selben Haus, aber nicht in derselben Welt leben, wird durch ihren kindlichen Blick nicht verwässert, sondern geschärft:

Thandiwe durfte eigentlich nicht bei uns zu Hause sein, denn sie war schwarz, und ich hatte versprechen müssen, es keiner Menschenseele zu sagen. Ich nannte Thandiwe manchmal Doreen, aber nur hin und wieder. Doreen weinte auch noch, als Maria mit ihr den Bungalow verließ und sie zur Bushaltestelle »Nur für Schwarze« brachte, von der aus sie in die »Township« zurückfahren sollte, in der sie lebte.

Zum anderen ihre Zeit in England, wo sie sich wie im Exil fühlt, zwangsverfrachtet, da in der alten Heimat kein Leben mehr möglich ist. Auch nach Jahren ist sie in der neuen Heimat nicht angekommen und vermisst das, was sie aufgeben musste:

Seit sechs Jahren lebte ich jetzt in England und war fast so englisch wie eine eingefleischte Engländerin. Trotzdem war ich von anderswo. Mir fehlten der Geruch der Pflanzen, für die ich keine Namen hatte, die Stimmen der Vögel, für die ich keine Namen hatte, das Gemurmel in Sprachen, für die ich keine Namen hatte.

Gerne erinnert sie sich zurück, doch als Erwachsene muss sie erkenne, dass ihre Erinnerungen sich womöglich nicht mit den Eindrücken der anderen Menschen decken:

Nur eine Erinnerung möchte ich behalten: Maria, die auch Zama ist, wie sie abends auf den Verandastufen sitzt und Büchsenmilch trinkt. Die afrikanischen Nächte waren warm. Die Sterne leuchteten hell. Ich liebte Maria, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie mich ebenfalls liebte. Politik und Armut hatten sie von ihren leiblichen Kindern getrennt, und sie war ausgelaugt von den weißen Kindern in ihrer Obhut.

Auch wenn der Verlag ihn als Roman führt, ist es doch eher ein Essay über das Dasein als Schriftsteller, in dem Deborah Levy genau wie auch Orwell autobiographisch begründet darlegt, weshalb sie gar nichts anderes tun kann, als schreiben. Orwells vier Motive gelten meines Erachtens gleichermaßen für Levy: Egoismus, da man gerne auch über sich schreibt; ästhetischer Enthusiasmus, ein historischer Impuls und die politische Absicht – all dies findet sich hier uns in anderen ihrer Werke wieder.

Paul Auster – Nacht des Orakels

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Paul Auster – Nacht des Orakels

Der Schriftsteller Sidney Orr erinnert sich an neun Tage im September 1982, die sein Leben nachhaltig verändern sollten. Gerade von einer sehr schweren Erkrankung genesen, erwirbt er am Vormittag des 18.9.1982 in einem wundersamen Schreibwarenladen in Brooklyn ein neues Notizheft. Sobald er dieses öffnet, fließen die Geschichten nur so aus ihm heraus, unter anderem die um Nick Bowen, einem Literaturagenten, den das Lesen des Manuskripts „Nacht des Orakels“ dazu veranlasst, sein bisheriges Leben hinter sich zu lassen. Doch Sidney Orr führt seinen Protagonisten in eine Sackgasse und eine neue Schreibblockade droht. Er möchte ein weiteres Schreibheft erwerben, doch der Laden ist nur 48 Stunden später verschwunden. Nicht nur seine beruflichen Sorgen, eng gekoppelt mit den finanziellen Nöten nach seiner langen Erkrankung, sondern auch das Verhalten seiner Frau Grace, die unvermittelt in Tränen ausbricht, dann plötzlich für einen ganzen Tag verschwindet, bereiten ihm Kopfzerbrechen. Sein alter Freund John Trause könnte ihm mentale Unterstützung bieten, doch dieser ist ebenfalls krank und der Ärger um seinen Sohn nimmt ihn gänzlich in Beschlag und plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Nur 10 Tage nach der Entdeckung des geheimnisvollen Schreibhefts muss Sidney feststellen, dass in seinem Leben nichts mehr ist wie am Morgen des 18. September.

Paul Auster hat seinen Roman 2003 veröffentlicht und greift scheinbar in vielerlei Hinsicht auf biografische Elemente zurück. Die Handlung ist in Brooklyn angesiedelt, wo auch Auster lebt. Der Protagonist ist ein Autor wie Auster selbst, der nicht nur Romane veröffentlicht, sondern gelegentlich auch für den Film arbeitet; in den Figuren Trause (ein Anagramm von „Auster“) und Grace lassen sich Parallelen zu Auster selbst und zu seiner Frau Siri Hustvedt finden; Trauses Sohn ist drogenabhängig und kriminell ebenso wie Austers Sohn.

Interessant wir „Nacht des Orakels“ durch die vielfache Verschachtelung. Das Manuskript zum gleichnamigen Buch wird einer Figur überlassen, die sich der Protagonist ausdenkt – es gibt ein Buch im Buch im Buch. Auf allen drei Ebenen erleben die Figuren Zufälle, die ihr Leben tiefgreifend verändern und, noch viel bedeutender, es kommt zu ungewollten Prophezeiungen, deren Realisierung sie ins Unglück stürzt.

Austers Erzählstil hat einen hohen Wiederkennungswert, wer andere Bücher von ihm mochte, wird auch viel mit „Nacht des Orakels“ anfangen können. Es ist noch nicht so weit wie das 2017 erschienene Epos „4 3 2 1“, das sowohl in Konstruktion, Handlung und vor allem Figurenzeichnung deutlich komplexer geraten ist, kann aber gerade auch in der Hörbuchfassung von Jan-Josef Liefers vorgetragen, überzeugen und sehr gut unterhalten.