Arno Strobel – Die App

Arno Strobel – Die App

Hendrik und Linda stehen nur wenige Tage vor der Hochzeit als die junge Frau spurlos verschwindet. Hendrik kehrt von einem nächtlichen Notfalleinsatz in der Klinik zurück und sieht sich mit einem leeren Haus konfrontiert. Kein Hinweis auf den Verbleib der zukünftigen Gattin. Die Polizei interessiert sich auch nur mäßig für den Fall, doch ein Aufruf bei Facebook bringt Erfolg: Linda ist nicht die einzige, die in Hamburg spurlos verschwunden ist, die mysteriösen Vermisstenfälle häufen sich und alles deutet darauf hin, dass die SmartHome Software Adam das verbindende Element der Fälle ist. Die App sichert nicht nur das Haus, sie scheint die Kontrolle übernommen bzw. jemandem genau zu dem verholfen zu haben, was mit ihr eigentlich verhindert werden sollte: Zugang zu den geschützten, privaten Räumen.

Nach den ersten 100 Seiten der Leseprobe war ich angefixt und wollte unbedingt wissen, wie der Fall gelöst wird. Leider konnte der überzeugende, starke Auftakt die Erwartungen nicht erfüllen. Bedauerlicherweise wandelt sich der Psychothriller von einem spannenden Wettstreit Mensch gegen Computer zu einer sehr ehrvorsehbaren und reichlich abstrusen Posse, die leider jeglicher Glaubwürdigkeit entbehrt.

Konnte ich über Kleinigkeiten zunächst noch geflissentlich hinwegsehen – Hendriks Vermisstenmeldung landet nicht bei der Polizei, sondern direkt bei den Hauptkommissaren des LKA – haben mich zahlreiche Plattitüden und Nachlässigkeiten zunehmend geärgert. Der Psychologin, die Hendrik hilft und den entscheidenden Verbindungsaspekt der Fälle erkannt hat, wird mit großem Erstaunen konstatiert, dass sie ja selbstständig denken kann; Hendrik stellt drei banale Fragen und man attestiert ihm das Potenzial zum LKA Kommissar; niemand wird stutzig, als der Kommissar die zwei aufbrausende und leichtsinnige Zivilisten zu seinen Verbündeten macht, um gemeinsam mit ihnen gegen das Böse zu kämpfen. Kleine Szenen nur, die jedoch einfach ärgerlich sind, weil sie mich als Leser nicht ernst nehmen, soll man wirklich einfach alles glauben und hinnehmen?

Die Themen SmartHome und Gefahren durch KI und deren Fernsteuerung durch böse Darknet Nutzer waren noch nicht groß genug für den Roman, es musste noch ein weiterer Reißer draufgesetzt werden, der für mich zu sehr bemüht war, um ernsthaft glaubwürdig die gesamte Handlung zu motivieren. Auch das Laien innerhalb weniger Tage gelingt, woran das LKA offenkundig über Monate scheiterte – das mag es mal geben, mich überzeugen jedoch mehr realistische Handlungen.

Fazit: leider am Ende große Enttäuschung. Der Roman hatte mehr versprochen, sich dann aber leider in typischen Krimi-Versatzstücke und konstruierter Logik verloren.

Agatha Christie – Evil Under the Sun/Murder in Mesopotamia

Agatha Christie – Evil Under the Sun / Murder in Mesopotamia

In diesen sehr speziellen Zeiten fällt es mir manchmal schwer, mich auf außergewöhnliche Geschichten einzulassen, wenn der Alltag schon sehr anstrengend ist, soll es wenigsten bei Büchern etwas entspannter zugehen und da sind die Klassiker wieder ganz weit vorne. Mit Agatha Christie und vor allem den John Moffatt Hörspiel-Versionen ist gute Unterhaltung jedenfalls gesichert.

In „Evil Under the Sun“ urlaubt der belgische Privatdetektiv in einem exklusiven englischen Seebad, wo jedoch nach der Ankunft der Schauspielerin Arlena Stuart die Ruhe empfindlich gestört wird. Nicht nur drehen sich alle Männer nach ihr um, ihr unerwartetes Ableben bringt die Urlaubspläne Poirots dann vollends durcheinander. Ein Hotelgast nach dem anderen wird verhört und genauestens durchleuchtet bis der Schuldige und sein perfider Mord schließlich offengelegt werden.

Einen ganz anderen Schauplatz wählt Christie für den Mord an Louise Leidner, die bereits seit einiger Zeit fantasierte und scheinbar Geister sah: die nervöse Ehefrau eines Archäologen befindet sich bei einer Ausgrabungsstätte in Mesopotamien und ist erleichtert über die Ankunft von Krankenschwester Amy Leatheran, der sie sofort vertraut. Doch auch diese neue Freundschaft kann die Bluttat nicht verhindern. Glücklicherweise befindet sich Poirot in der Nähe auf Durchreise und kann zu dem ungewöhnlichen Fall hinzugezogen werden. Klar ist: nur einer aus dem Ausgrabungsteam kommt als Mörder in Frage.

Die BBC hat insgesamt 25 Krimis der Grande Dame mit John Moffatt intoniert, in denen der Schauspieler in die Rolle des berühmten Ermittlers schlüpft. Mit charmantem Akzent und der gewohnt zurückhaltend aber dennoch überlegenen Art nähert er sich souverän der Lösung und deckt jede Lüge auf, die man ihm unverfroren präsentiert. „Murder in Mesopotamia“ fand ich insgesamt etwas raffinierter und allein schon aufgrund des Handlungsortes in der irakischen Wüste interessanter. Noch dazu bietet Poirot am Ende eine herrliche Querverbindung zu anderen Werken: er plane nun, nachdem der Fall aufgeklärt ist, zurück nach England zu kehren. In Istanbul will er den berühmten Orient Express nehmen, ein wenig Luxus soll man sich ja gönnen. Dass der bekannte Mord in selbigen bereits Jahre zuvor beschrieben wurde, kann man hier getrost ignorieren.

Lilja Sigurðardóttir – Das Netz

Lilja Sigurðardóttir Das Netz
Lilja Sigurðardóttir – Das Netz

Ihre Liebe wird ihr zum Verhängnis. Als ihr Mann Adam sie mit Agla zusammen erwischt, ist es ganz aus zwischen ihm und Sonja. Die Ehe war da schon längst gescheitert, aber für ihren Sohn Tómas war sie geblieben. Ein neues Leben ohne ihren Mann und sein Einkommen aufzubauen, ist nicht einfach und bald schon gerät Sonja in arge Schwierigkeiten, aus denen ein Freund ihr anbietet zu helfen. Nur einen Botendienst soll sie erledigen, doch der hat es in sich. Sie soll Kokain nach Island schmuggeln. Unerwarteterweise ist Sonja gut darin, völlig unauffällig bewegt sie sich als Businessfrau auf den Flughäfen und akribisch bereitet sie den Transport vor. Doch genau das wird ihr zum Verhängnis: ihr attraktives unscheinbares Auftreten fällt Bragi Smith auf. Der Zollbeamte hat viele Jahre Erfahrung und erkennt die Schmuggler. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ihm Sonja ins Netz geht.

„Das Netz“ ist Band 1 der Reykjavík Noir Trilogie von Lilja Sigurðardóttir. Mit Sonja Gunnarsdóttir hat die isländische Autorin eine ungewöhnliche Protagonistin geschaffen. Eine Mutter, die nach der Trennung in eine schwierige Lage gerät, die von mächtigen Männern gnadenlos ausgenutzt wird, sich aber dann zunehmend ihrer Stärken bewusst wird und diese für sich einzusetzen weiß. Sie kennt ihre Gegner nicht wirklich, zu unbedarft ist sie noch, doch als sie erkennt, in welchem Netz sie gefangen ist, weckt dies ihre Kämpfernatur.

Die Spannung des Krimis wird gleich durch zwei parallel verlaufende Bedrohungen aufrechterhalten: zum einen ist Sonja den Drogenbossen wehrlos ausgeliefert; sie lebt zwar noch in der Illusion, sich irgendwann freikaufen zu können, dass dies aber eher einem Wunschdenken geschuldet ist, kann man sich als Leser ausrechnen. Auf der anderen Seite ist ihr der Zollbeamte Bragi auf die Spur gekommen, der sie gleichermaßen zu Fall bringen kann und die Aussicht, das Sorgerecht für ihren Sohn zu erhalten damit bedroht. Emotional sitzt sie ebenfalls zwischen den Stühlen. Der nicht enden wollende Kampf mit ihrem Ex-Mann ist genauso zermürbend wie die Beziehung zu Agla, die sich nicht wirklich zu der Beziehung mit einer Frau bekennen kann und will.

Bei all den Sorgen fehlt Sonja der Kopf, um die Ermittlungen, die gegen die Bankmitarbeiterin Agla eingeleitet wurden, ernsthaft zu verfolgen. Diese hat offenbar nicht unwesentlich daran Anteil, dass der kleine Inselstaat in eine finanzielle Katastrophe geraten ist, doch nun soll sie für ihre Spekulationen und Geldwäsche bezahlen.

Man muss den Krimi sicher als Teil einer Serie sehen, denn so ganz glücklich lässt er mich nicht zurück. Viele Fragen bleiben offen und der Cliffhanger zum Ende ist ohnehin etwas, das ich nicht wirklich schätze. Die kurzen Kapitel tragen zu dem schnellen Erzähltempo bei, im Laufe der Handlung nimmt diese auch deutlich an Spannung und Komplexität zu, bevor gleich mehrere Enthüllungen so manches in einem völlig anderen, aber nicht minder interessanten Licht erscheinen lassen. Die Autorin hat eine komplexe Geschichte erschaffen, die von der außergewöhnlichen Protagonistin lebt und mit einigen Überraschungen aufwartet.

Taffy Brodesser-Akner – Fleishman steckt in Schwierigkeiten

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Taffy Brodesser-Akner – Fleishman steckt in Schwierigkeiten

Als Toby Fleishman morgens wach wird, checkt er zunächst die neuen Nachrichten auf seiner Dating App. Seit seine Frau Rachel sich von ihm getrennt hat, lernt er die schönen Seiten des Single Daseins kennen und offenbar ist ein Arzt jenseits der 40 noch attraktiv, besonders für junge Frauen. Doch er wird jäh unterbrochen als er merkt, dass seine Kinder Solly und Hannah in der Wohnung sind, offenbar hat Rachel sie Mitten in der Nacht dort abgeladen, dabei wäre er erst am Wochenende wieder mit der Betreuung dran gewesen. Das allein ist seltsam genug, doch auch Tage später lässt sich die Mutter nicht mehr blicken, ist auch nicht zu erreichen. Ihre Assistentin blockt ebenfalls jeden Anruf ab und langsam wird für Toby das Leben als alleinerziehender Vater etwas schwierig, denn der Leberexperte hat eine Patientin mit seltenem Syndrom, die im Sterben liegt, während sein Freund Seth plant seine viel zu junge Freundin zu ehelichen. Doch das ist erst der Anfang.

Taffy Brodesser-Akners Roman ist auf der Longlist des diesjährigen Women’s Prize for Fiction Longlist nominiert und wurde insgesamt von den Kritiken sehr positiv aufgenommen. Die Journalistin der New York Times hat in ihrem Debut eine ganze Bandbreite von Themen in einem ausnehmend humorvollen Ton umgesetzt und ihr ist so durchaus ein unterhaltsamer, wenn auch kritischer und bisweilen nachdenklich stimmender Blick auf unsere moderne Welt gelungen, der mich restlos begeistern konnte.

Gemeinsam haben alle Figuren, dass sie ein Leben führen, dass von außen gesehen geradezu perfekt anmutet: sie gehören zu Oberschicht Manhattans, weder an Geld noch an beruflichem Erfolg mangelt es, die Kinder sind weitgehend wohlgeraten und eigentlich gibt es nicht den geringsten Grund zur Unzufriedenheit. In dem Moment jedoch, in dem die Fassaden fallen, wird deutlich, dass kaum einer von ihnen das Leben führt, das er oder sie gerne hätte. Seth ist der immer aktive und attraktive Junggeselle, der das Nacht- und Kulturleben voll ausschöpft, aber in Wirklichkeit vom biederen Familiendasein träumt. Libby, eigentliche Erzählerin und seit Jugendtagen mit Seth und Toby befreundet, arbeitet freiberuflich als Journalistin, hat aber seit Monaten keinen Satz aufs Papier gebracht. Rachel hat vor der Trennung erkannt, dass Toby nicht der Mann ist, der ihr das Leben bietet, von dem sie immer geträumt hat und dass sie selbst dafür verantwortlich ist, das entsprechende Einkommen zu generieren, was sie aber letztlich in den völligen Abgrund stürzt.

Toby ist mit der aktuellen Situation wenig zufrieden, alleinerziehend mit vorpubertären Kindern, ist sein Gleichgewicht in Schwanken geraten, denn zuvor war für ihn alles Bestens: er hatte keine großen beruflichen Ambitionen, sein Job im Krankenhaus mit den Patientenkontakten erfüllt ihn, wenn ihm danach war, spazierte er in aller Ruhe durch den Central Park nach Hause und genoss sein Leben – auf Kosten aller um ihn herum.

Es sind vor allem die oberflächliche Dating Kultur, die mit Aufkommen von entsprechenden Apps noch groteskere Züge angenommen hat, sowie der New Yorker Kampf um den schönen Schein: Job, Haus, Familie, Aussehen – alles ordnet sich diesem unter. Gerade die Frauen geraten dabei jedoch unter die Räder, wie an der abwesenden Rachel, aber auch an Libby deutlich wird. Neben der Organisation des Familienlebens – und vor allem der richtigen Kinderkontakte und den perfekten Partys – müssen sie zugleich in einer immer noch von Männern dominierten Berufswelt bestehen. Dass sie dabei auch noch attraktiv aussehen sollen und die angesagten Yoga-Kurse besuchen müssen goes without saying.

Der Autorin gelingt es, mit einer weiblichen Erzählerin das männliche Weltbild Tobys hervorragend zu transportieren: die böse Exfrau, die ihn allein mit den Kindern zurücklässt; die pubertierende Tochter, die einfach aufreizende Bilder von sich online postet (die erschreckende Ähnlichkeiten zu jenen seiner jungen Bettgenossinnen aufweisen); seine Assistenzärztin, die seine Essenseinladung ausschlägt – irgendwie verhalten sich die weiblichen Menschen um ihn herum nicht mehr planmäßig und er muss sich plötzlich anpassen. Dabei kommt er trotzdem irgendwie charmant und liebenswert daher, was das Lesen zu einer großen Freude macht. Es ist ganz sicher keine Abrechnung mit den Männern dieser Welt, aber, wie der Titel bereits andeutet, das Leben wird schwieriger für sie.

Jørn Lier Horst – Wisting und der Tag der Vermissten

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Jørn Lier Horst – Wisting und der Tag der Vermissten

Kurz vor dem 10. Oktober, wie in jedem Jahr seit 24 Jahren, holt William Wisting die Unterlagen zu dem ungelösten Fall von Katharina Haugen hervor und studiert die Ermittlungsergebnisse, immer in der Hoffnung, doch noch etwas Neues zu entdecken, das den Fall lösen könnte. Er wird wieder zu Martin Haugen, dem Ehemann, fahren, mit dem ihn inzwischen fast so etwas wie eine Freundschaft verbindet. Doch dieses Mal entsprechen gleich zwei Dinge nicht den üblichen Routinen: Martin Haugen ist nicht zu Hause als Wisting ihn aufsucht, stattdessen sieht der Kommissar, dass überall Überwachungskameras angebracht wurden. Und Adrian Stiller interessiert sich plötzlich für den Mann. Der Sonderermittler einer neuen Einheit, die Cold Cases neu aufrollt, untersucht eigentlich den Vermisstenfall Nadia Krogh, in dessen Zusammenhang nun Spuren zu Martin Haugen führen. Beide Fälle liegen mehr als zwei Jahrzehnte zurück, da ist die Chance gering, sie noch zu lösen, aber manchmal benötigen Menschen einfach Zeit, bis sie sich offenbaren.

Jørn Lier Horst hat mit der Reihe um alte Fälle für seine Serie um den norwegischen Kommissar William Wisting quasi einen eigenen Ableger geschaffen. Der Fall um den mysteriösen Code, den die verschwundene Katharina hinterlassen hat, ist im Original der zwölfte der inzwischen vierzehnbändigen Reihe, die deutsche Zählung beginnt mit diesem eine neue, führt aber vor allem das Privatleben Wistings und seiner Tochter Line fort. Nichtsdestotrotz lässt sich der Krimi auch problemlos als Einstieg in die Serie, unabhängig von den Vorgängern, lesen.

Zunächst scheint die Suche nach Katharina in eine Sackgasse zu führen, alle Spuren sind ausgewertet und bei genauer Betrachtung ihrer Lebensgeschichte, liegt es auch nahe, dass die Frau einfach untergetaucht ist und sich an einem anderen Ort ein neues Leben aufgebaut hat. Auch der zweite Fall um die Industriellentochter, deren Verschwinden schnell zu einem Entführungsfall wird, klingt zunächst nicht besonders vielversprechend, was eine Lösung nach so langer Zeit angeht. Doch unerwartet wird mit viel psychologischem Geschick wird der Täter in die Enge getrieben, ein riskantes Manöver, das jedoch von den Ermittlern geschickt eingefädelt wird und letztlich die losen Enden miteinander verknüpft.

Wisting bleibt sich auch in diesem Fall treu. Unprätentiös und lebensnah ist er nicht der Superheld, sondern arbeitet mit seinen Kollegen im Team und offenbart bei der Beaufsichtigung seiner Enkelin auch dramatische Schwächen. Das Menschliche, das sich bei ihm zeigt, ist es auch, dass ihn antreibt, er will Gerechtigkeit für die Hinterbliebenen und verstehen, was einen Mörder so weit treibt, einem anderen das Leben zu nehmen. Gerade auch sein Privatleben, das wieder einmal unmittelbar mit seinem Beruf verbunden wird, lässt ihn authentisch und erfrischend normal wirken. In dieser Hinsicht ist ein typischer Nordic noir Krimi, ihm fehlen jedoch die düsteren, geradezu depressiven Aspekte, die sich auf den moralischen und gesellschaftlichen Verfall beziehen, womit sich Jørn Lier Horst deutlich von anderen skandinavischen Spannungsromanen abhebt.

Toni Morrison – Jazz

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Toni Morrison – Jazz

Eine ausgelassene Party in Harlem, 1926. Plötzlich wird die feiernde Schar von einem Schuss aufgeschreckt, der die junge Dorcas niederstreckt und tötet. Der Täter ist bekannt: Joe Spur, ihr 50-jähriger Geliebter. Dorcas wird beerdigt, dabei kommt es zum Eklat, als Violet, Joes Frau, den Gottesdienst stört. Gerechtigkeit gibt es nicht, Polizei will man nicht und Dorcas kann eh niemand wieder lebendig machen. Das Leben in Harlem geht weiter. Doch wie soll es weitergehen für Joe, der Dorcas noch immer liebt; für Violet, die man nun Violent nennt und die sich fragt, was Joe an dem Mädchen fand; für Dorcas‘ Tante Alice Manfred, die sie großgezogen hat und für ihre Freundin, die die sich anbahnende Liebelei beobachtete. Harlem Mitte der 1920er Jahre folgt seinen eigenen Gesetzen und die führen die Menschen bisweilen auf ungeahnte Wege.

„Jazz“ ist Toni Morrisons zweiter Roman der sogenannten „Beloved“ Trilogie, für den ersten Band hatte sie 1988 den Pulitzer Preis gewonnen. Wie sich unschwer am Titel erkennen lässt, spielt die Handlung im schwarze Harlem der Jazz-Ära, jedoch erschafft Morrison eine ganz andere Atmosphäre als die der Roaring Twenties, wie sie von weißen Autoren wie F. Scott Fitzgerald oder Edith Wharton beschrieben werden. Es ist nicht die Zeit des ausgelassenen Feierns mit Frauen in exquisiten Kleidern, sondern der alltägliche Kampf ums Überleben:

„Jede Woche seit Dorcas‘ Tod, den ganzen Januar und Februar hindurch, legte irgendeine Zeitung die Knochen einer gebrochenen Frau frei. Mann tötet Frau. Acht der Vergewaltigung angeklagte Männer freigesprochen. Frau und Mädchen Opfer von. Frau begeht Selbstmord. Weiße Angreifer angeklagt. Fünf Frauen festgehalten. Frau sagt, Ehemann prügelt sie. In eifersüchtiger Wut hat ein Mann. Wehrlos wie Federvieh, dachte sie. Oder doch nicht?”

 Morrison schildert aus abwechselnden Perspektiven die Vorgänge in der Lenox Avenue. Die großen Hoffnungen, die Violet und Joe einst in die Stadt geführt haben, wo das Leben so viel einfacher sein sollte als das Dasein als Sklave auf den Feldern der Plantagenbesitzer. Die Enttäuschungen darüber, auch in New York als Schwarze nur Menschen zweiter Klasse zu sein. Die feinen Unterschiede, die durch die Nuancen der Hautfarbe bedingt sind – es ist eine eigene Welt, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert.

„Als wir von der 140th Street in eine größere Wohnung in der Lenox zogen, da haben die hellhäutigeren Mieter versucht, uns draußen zu halten. Ich und Violet haben gegen sie gekämpft, als wenn es Weiße gewesen wären. Und wir blieben Sieger. Es waren schlechte Zeiten, und weiße wie schwarze Vermieter haben sich um die Farbigen geschlagen wegen den hohen Mieten, die für uns in Ordnung waren (…)“

Morrison legt den Finger in die Wunde und riss mit ihrem historischen Roman Anfang der 1990er Jahre nochmal vieles auf, was noch lange nicht überwunden war und heute, mehr als 50 Jahre nach dem Civil Rights Movement und dem formalen Ende der Segregation, wieder infrage gestellt wird. Neben der brisanten Thematik besticht der Roman vor allem durch die Atmosphäre und die klare, geradezu nüchterne Sprache, mit der sie grausamste Situationen zu schildern weiß. Ein Roman, der wieder mehr ins Bewusstsein gerückt werden sollte, trotz oder vielleicht gerade wegen seines Alters von nunmehr fast 30 Jahren. Einziger Kritikpunkt ist eine Übersetzungsunsitte: die Namen wurden für die deutsche Ausgabe „angepasst“, was ich nicht nur überflüssig, sondern ärgerlich finde. Die Anspielung hätte durch eine Fußnote einfach gelöst werden können.

Håkan Nesser: Intrigo I – In Liebe, Agnes

INTRIGO von Hakan Nesser
Håkan Nesser: Intrigo I – In Liebe, Agnes

Agnes und Henny sind Schulfreundinnen, die sich vor Jahrzehnten aus den Augen verloren haben. Henny ist es, die nach dem Tod von Agnes Ehemann zu dieser per Brief wieder Kontakt aufnimmt. Bei Agnes löst sie Erinnerungen an die gemeinsame Zeit aus, aber auch an das Ereignis, das die Freundschaft auseinanderbrechen lies. Doch nun scheint die Zeit der Vergebung gekommen zu sein, denn Henny hat eine große Bitte an ihre ehemals beste Freundin: ihr Mann hat eine Geliebte und soll dafür mit dem Tod bezahlen. Auf Agnes kommt sicherlich niemand, denn sie hatten über unzählige Jahre keinen Kontakt. Da Agnes gerade in einer finanziell schwierigen Situation steckt, geht sie auf das Angebot ein und so bereiten die beiden Frauen gemeinsam das Ableben des untreuen Ehemanns vor.

„In Liebe, Agnes“ ist schon ein älterer Roman Håkan Nessers, der von btb wiederholt aufgelegt wurde und auch als Hörbuch gelesen von Andrea Sawatzki bereits erschienen ist. Anlässlich der Verfilmung mehrerer Kurzkrimis von Nesser unter dem Sammeltitel „Intrigo“ wurde auch dieser Roman neu produziert und von Dietmar Bär gelesen. Zur Serie gehören ebenfalls „Die Wildorchidee aus Samaria“ und „Tod eines Autors“, das Buch enthält zusätzlich „Tom“ und „Sämtliche Informationen in der Sache“.

Auch wenn es in dem Roman um einen Mord geht, was man schon früh in der Geschichte weiß, ist er eigentlich kein Krimi und Spannung kommt er spät auf. Dies tut dem Hörgenuss aber keinen Abbruch, denn Nesser ist ein begnadeter Geschichtenerzähler und in „In Liebe, Agnes“ fokussiert er mehr auf das, was früher zwischen den Freundinnen war als auf dem Mord. Man weiß, dass es ein Ereignis gegeben haben muss, dass die beiden Freundinnen entzweit hat und durch die Briefe und die dadurch ausgelösten Erinnerungen nähert man sich langsam. Dass Agnes den „Auftrag“ so schnell angenommen hat, verwunderte mich und so war klar, dass es hier mehr dahintersteckt als man zunächst ahnt. Der Showdown erfüllt dann auch die Erwartungen und kann plötzlich mit einem hohen Tempo und Nervenkitzel aufwarten.

Man erkennt die Handschrift Nessers sofort, für mich einer der überzeugendsten schwedischen Erzähler, der von Dietmar Bär auch passend intoniert wird.