Nele Neuhaus – In ewiger Freundschaft

Nele Neuhaus – In ewiger Freundschaft

Pia Sanders Ex-Mann bittet sie um einen Gefallen: seine Agentin hat seit Tagen schon nichts von einer Freundin gehört und ist besorgt. Als Pia in Bad Soden ankommt, wartet Maria Hauschild bereits auf sie und in der Tat wirkt das verlassene Haus seltsam. Doch dann finden sich Blutspuren und im Obergeschoss ein dementer alter Mann. Offenkundig ist die Sorge berechtigt. Schnell stößt die Spurensicherung auf weitere Indizien und alle Hinweise führen zu einem renommierten Frankfurter Verlag. Bei Winterscheid war die Vermisste nur wenige Wochen zuvor gefeuert worden und hat das mit einem waschechten Skandal zelebriert. Noch bevor Pia Sander und ihr Chef Oliver von Bodenstein den geringsten Überblick haben, taucht die erste Leiche auf. Und weitere folgen in dem gar nicht so netten Intellektuellen-Milieu.

In „In ewiger Freundschaft“ schickt Nele Neuhaus das Ermittlergespann Sander/von Bodenstein zum zehnten Mal auf Mordermittlung im Taunus. In gewohnter Manier handelt es sich dabei um einen komplexen Fall mit unzähligen Figuren, die alle auf undurchsichtige Weise miteinander verwoben sind und zudem zahlreiche Geheimnisse hüten. Auch das Privatleben der Figuren wird weiterentwickelt, dieses Mal gerät von Bodensteins familiäre Situation stärker in den Blick und fordert den Kommissar ebenfalls erheblich.

Die Fans der Reihe dürften sich schnell wieder heimisch in dem Krimi fühlen. Die Figuren kommen einem nach so vielen Bänden wie gute alte Bekannte vor, die man nur etwas länger nicht gesehen hat, immerhin ist der letzte Band bereits vor zwei Jahren erschienen. Besonders amüsant wie die Autorin sich nebenbei selbst aufs Korn nimmt, indem sie den Rechtsmediziner und Ex-Mann von Sander, Henning Kirchhoff, zum Autor einer Taunus-Krimireihe mit zufälligerweise identischen Titeln ihrer Serie macht.

Der Fall spielt in einem undurchsichtigen Verlagsmilieu und hat, wie sich schnell ergibt, Verbindungen zu einer mehr als 30 Jahre zurückliegenden Episode. Allein die Menge an Figuren zu überblicken – einige dabei schon längst verstorben – erfordert schon einige Aufmerksamkeit des Lesers. Nur langsam lichtet sich das Netz von Lügen und Verstrickungen, löst sich aber letztlich überzeugend und glaubhaft motiviert.

Ein routiniert erzählter Krimi, der die Erwartungen an die Reihe voll bedient. Wer bereits Fan von Sander und von Bodenstein ist, wird auch mit diesem Fall einige spannende und unterhaltsame Lesestunden erleben. Auch wenn man den eigentlichen Kriminalfall ohne das Vorwissen aus den vorgehenden Romanen nachvollziehen kann, bleibt doch bei den zentralen Figuren meines Erachtens einiges an Seitenhieben auf der Strecke, wenn man ihre Vorgeschichte nicht kennt.

Kate Atkinson – Die vierte Schwester

Kate Atkinson – Die vierte Schwester

Der frühere Police Inspector und nun Privatdetektiv Jackson Brodie hat gleich mehrere knifflige Fälle auf einmal zu lösen. Drei Familientragödien, die ihre Spuren hinterlassen haben. Die Schwestern Julia und Amelia müssen ihren Vater beerdigen, in seinem Büro, das ihnen zu Lebzeiten immer verboten war, finden sie eine blaue Maus. Jenes Plüschtier, das ihrer Schwester Olivia gehörte, die als 3-Jährige spurlos verschwand und in all den Jahrzehnten seither gab es nie eine heiße Spur – hatte etwa ihr eigener Vater etwas damit zu tun? Shirley sucht ebenfalls jemanden: ihre Nichte Tanya. Sie hatte versprochen sich um das Baby zu kümmern als ihre Schwester Michelle nach dem Mord an ihrem Mann verhaftet wurde, aber die Schwiegereltern hatte das Kind an sich genommen. Sein dritter Fall dreht sich ebenfalls um eine junge Frau: Theo Wyre sucht immer noch nach dem Mörder seiner damals 18-jährigen Tochter Laura, die zehn Jahre zuvor brutal getötet wurde. Drei komplizierte Fälle, zu denen sich Jacksons Streit mit seiner Ex-Frau gesellt, die droht mit der Tochter nach Neuseeland zu ziehen, ebenso wie die Tatsache, dass die Suche nach jungen Frauen Jackson auch ganz persönlich trifft.

Der erste Band von Kate Atkinsons Serie um den Privatermittler Jackson Brodie war bereits 2005 erschienen, wurde nun bei Dumont als Taschenbuchausgabe neu aufgelegt. Der Autorin gelingt hier ein faszinierender Genremix. Einerseits klassischer Detektivroman mit Ermittlungen in gleich mehreren ungelösten Fällen, andererseits bietet sie eine Ansammlung so kurioser Figuren, die sich in ihrem Handeln jeder Schublade verweigern und einen lakonisch-trockenen Humor, der die britischen Gepflogenheiten in Cambridge messerscharf kommentiert, so dass man bisweilen gerne laut auflachen möchte. Die ganze Bandbreite menschlicher Tragödie breitet die Autorin vor dem Leser aus und wird langsam zu einem Gesamtbild verflochten.

„Die Aufträge, die er übernahm, waren größtenteils entweder lästig oder langweilig – für Prozesse ermitteln, jemandes Vergangenheit ausleuchten (…). Nicht zu vergessen die verschwundenen Katzen.“

Die Geschichte startet mit scheinbar unzusammenhängenden Mordfällen – hier ist auch der Originaltitel „Case Histories“ m.E. deutlich treffender als der deutsche, der nur einen der Handlungsstränge aufgreift – die nacheinander lose nebeneinanderstehend vorgestellt werden. Ein irritierender Einstieg, der sich jedoch rasch danach auflöst und die Verbindung zu Jackson Brodie schafft. Der gutherzige, wenn auch etwas zynisch gewordene Ermittler übernimmt die hoffnungslosen Fälle, wie soll er nach so langer Zeit noch etwas aufklären können? Aber wer sonst sollte sich darum kümmern?

Man ist versucht immer wieder hin und her zu blättern, um all die Daten und Figuren im Blick zu halten und mit jenen, die plötzlich am Rande auftauchen, scheinbar nebensächlich sind und dann doch das fehlende Puzzlestück darstellen, nachdem gesucht wurde. Die vielfältig die Charaktere sind – allesamt liebevoll in ihrer Schrulligkeit gezeichnet – findet jeder Leser genau jene Geschichte, die ihn besonders anspricht. Die Struktur schlichtweg genial, gepaart mit einem Feuerwerk an Emotionen entsteht so ein bemerkenswerter Roman, der sich von der Masse abhebt. Atkinson hat schlicht das ganze Leben eingefangen und kondensiert zwischen die beiden Buchdeckel gepackt.

Maria Adolfsson – Doggerland. Fester Grund


Maria Adolfsson – Doggerland. Fester Grund

Ein wenig neidisch ist Karen Eiken Hornby schon auf Luna, die berühmteste Sängerin von Doggerland, die eine geheimnisvolle Aura umgibt, der auch Karens Partner Leo offenbar gerade verfällt. Nach Jahren des Rückzugs will die Sängerin wieder ein Album veröffentlichen und hat nun im Geheimen die Aufnahmen mit Leo und dem Team gemacht. Als sie zu den finalen Aufnahmen nicht erscheint, wird Karen gebeten, inoffiziell zu ermitteln, nur wenige Tage später jedoch gibt es schon wieder Entwarnung und Karen kann sich einem viel dringenderen Fall widmen: ein Serienvergewaltiger scheint wieder zugeschlagen zu haben. Nachdem er bereits im Herbst Frauen brutal misshandelt hat, ist nun ein weiteres Opfer zu beklagen und wieder kann dies kaum Angaben zum Täter machen. Vier Frauen, die nichts gemeinsam zu haben scheinen, doch irgendetwas muss sie verbinden. Obwohl gesundheitlich angeschlagen, vergräbt sich Karen in die Nachforschungen – bis ihre Ärztin sie bittet, sofort vorbeizukommen.

„Fester Grund“ ist der Abschluss der Doggerland-Trilogie der schwedischen Autorin Maria Adolfsson. Die Inselgruppe zwischen Dänemark und Großbritannien, die einst die britischen Inseln mit dem Kontinent verband, liegt heute versunken in der Nordsee. In ihren Romanen macht Adolfsson sie zum Schauplatz der Ermittlungen ihrer eigenwilligen Kommissarin Karen Eiken Hornby, die im Abschlussband gleich zwei Fälle bearbeiten muss, während sie selbst ziemlich angeschlagen ist.

Die Suche nach der Sängerin Luna wird zunächst vor allem durch negative Emotionen Karens geprägt, sie ist sich ihrer Beziehung zu Leo, die nach wie vor weitgehend undefiniert ist, nicht sicher und lässt sich durch die strahlende Diva völlig aus dem Gleichgewicht bringen. Dies hindert sie zwar nicht daran, genauso akribisch und ernsthaft wie immer ihre Nachforschungen zu betreiben, aber die Stimmung zu Hause ist mehr als vergiftet. Auch der zweite Fall geht ihr nahe, die Brutalität, mit der der Täter immer wieder zuschlägt, ist kaum auszuhalten. Offenkundig treibt ihn ein tiefer Hass, was für sie die Vermutung nahelegt, dass er seine Opfer gekannt und sich von diesen gedemütigt gefühlt haben könnte.

Nachdem mich „Fehltritt“, der erste Teil der Reihe, restlos begeistern konnte, weil Adolfsson eine unglaubliche Welt erschaffen hat, die man sich mit dem rauen Klima leicht bildlich vorstellen kann, ließ mich „Tiefer Fall“ etwas enttäuscht zurück, da sich hier die Handlung etwas in sich selbst verirrt hatte. „Fester Grund“ punktet dieses Mal nicht mit der Insellandschaft, sondern mit zwei interessanten Fällen und einer wieder überzeugenden Protagonistin, die neben dem scharfen Verstand und auch ihre Schwächen offenbart und so genau jenen Bruch zwischen mutiger, unerschrockener Ermittlerin und leicht zu verunsichernden Partnerin schafft, der sie zu einer vielseitigen und authentischen Figur macht.

Ein klassischer nordic crime, der keine Wünsche offenlässt, außer vielleicht jenem, dass die Trilogie auch bei uns fortgesetzt wird, im schwedischen original ist nämlich inzwischen ein vierter Band erschienen.

Arvid Heubner – Totenstill

Arvid Heubner – Totenstill

Ein Eliteinternat in Sachsen-Anhalt. Seit vielen Jahren schon ist es Tradition, dass die Abiturientinnen zu einer Silentiumwoche aufbrechen, um vor den Prüfungen nochmals mentale Energie zu tanken. Doch nun ist seit mehreren Tagen kein Kontakt mehr zu ihnen herzustellen und die winterlichen Temperaturen und der starke Schneefall machen den Verantwortlichen Sorgen. Die Polizei kämpft sich zur Hütte vor, diese ist jedoch verlassen, von den Mädchen und ihrem Lehrer keine Spur. Erst als einige Stunden später die 18-jährige Mia völlig erschöpft aufgefunden wird und den Hinweis auf eine Höhle geben kann, gibt es die erste hilfreiche Spur. Doch was die Ermittler dort erwartet, ist ein Bild des Grauens: alle Schülerinnen sowie der Tutor sind tot, brutal und eiskalt ermordet. Tinus Geving vom LKA und ehemaliger Europol Ermittler leitet die Mordkommission, die schon bald merkt, dass der Fall nicht nur wegen der Herkunft der höheren Töchter brisant ist, sondern auch ganz aktiv aus den eigenen Reihen behindert wird.

Der Klappentext hat mich unmittelbar neugierig auf den Thriller gemacht. Welche Intrigen wohl in diesem Internat gesponnen wurden, dass sie mit einem solchen Verbrechen endeten? Und wer sind die Eltern der Mädchen, dass diese statt zu trauern Einfluss auf die Ermittlung nehmen können? Leider jedoch blieb die Geschichte für mich etwas hölzern und an vielen Stellen nicht wirklich nachvollziehbar. Der Fokus liegt nicht auf den Geschehnissen der Schule, sondern auf der Soko Eichenburg, allen voran dem Geving, der an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet und dessen negative Gemütsverfassung dich bleiern über den ganzen Text senkt.

Die Ermittlungen der Sonderkommission kommen nur langsam voran, viel zu wenige Hinweise erschweren die Spurensuche, wesentliche Untersuchungen werden schlichtweg vergessen. Weshalb Geving nicht mehr Europol ist, erschließt sich im Laufe der Handlung durch seine Flashbacks, dass er aber in der tiefsten Provinz versauert, erklärt sich dadurch für mich nicht. Auch dass sein letzter internationaler Fall plötzlich mit den Vorkommnissen des Internats in Verbindung steht und er die großen Zusammenhänge erkennt, war für mich etwas zu viel des Zufalls.

Parallel werden die Intrigen innerhalb der sachsen-anhaltinischen Landesregierung gesponnen. Auch hier leider nur eine Ansammlung eindimensionaler Figuren, die sich durch Machtgeilheit und Rücksichtslosigkeit auszeichnen, weitere Charaktermerkmale sind Fehlanzeige. Politik ist hier kein komplexes Thema, sondern eine Spielwiese für Egozentriker, die diese maximal ausreizen.

Die Kapitelüberschriften weisen eine gewisse Anlehnung an die sieben Todsünden auf, was sehr viel hergegeben hätte, leider bleiben aber die Figuren insgesamt zu flach, um dies in glaubwürdige Motive und überzeugende Aktionen umzusetzen. Zwar werden am Ende die Zusammenhänge restlos offengelegt, diese sind aber für mein Empfinden etwas zu abenteuerlich, um glaubwürdig zu wirken. Ein spannendes Szenario und durchaus ansprechender und spannender Schreibstil, aber in der Gesamtschau nicht ganz rund.

Arno Strobel – Die App

Arno Strobel – Die App

Hendrik und Linda stehen nur wenige Tage vor der Hochzeit als die junge Frau spurlos verschwindet. Hendrik kehrt von einem nächtlichen Notfalleinsatz in der Klinik zurück und sieht sich mit einem leeren Haus konfrontiert. Kein Hinweis auf den Verbleib der zukünftigen Gattin. Die Polizei interessiert sich auch nur mäßig für den Fall, doch ein Aufruf bei Facebook bringt Erfolg: Linda ist nicht die einzige, die in Hamburg spurlos verschwunden ist, die mysteriösen Vermisstenfälle häufen sich und alles deutet darauf hin, dass die SmartHome Software Adam das verbindende Element der Fälle ist. Die App sichert nicht nur das Haus, sie scheint die Kontrolle übernommen bzw. jemandem genau zu dem verholfen zu haben, was mit ihr eigentlich verhindert werden sollte: Zugang zu den geschützten, privaten Räumen.

Nach den ersten 100 Seiten der Leseprobe war ich angefixt und wollte unbedingt wissen, wie der Fall gelöst wird. Leider konnte der überzeugende, starke Auftakt die Erwartungen nicht erfüllen. Bedauerlicherweise wandelt sich der Psychothriller von einem spannenden Wettstreit Mensch gegen Computer zu einer sehr ehrvorsehbaren und reichlich abstrusen Posse, die leider jeglicher Glaubwürdigkeit entbehrt.

Konnte ich über Kleinigkeiten zunächst noch geflissentlich hinwegsehen – Hendriks Vermisstenmeldung landet nicht bei der Polizei, sondern direkt bei den Hauptkommissaren des LKA – haben mich zahlreiche Plattitüden und Nachlässigkeiten zunehmend geärgert. Der Psychologin, die Hendrik hilft und den entscheidenden Verbindungsaspekt der Fälle erkannt hat, wird mit großem Erstaunen konstatiert, dass sie ja selbstständig denken kann; Hendrik stellt drei banale Fragen und man attestiert ihm das Potenzial zum LKA Kommissar; niemand wird stutzig, als der Kommissar die zwei aufbrausende und leichtsinnige Zivilisten zu seinen Verbündeten macht, um gemeinsam mit ihnen gegen das Böse zu kämpfen. Kleine Szenen nur, die jedoch einfach ärgerlich sind, weil sie mich als Leser nicht ernst nehmen, soll man wirklich einfach alles glauben und hinnehmen?

Die Themen SmartHome und Gefahren durch KI und deren Fernsteuerung durch böse Darknet Nutzer waren noch nicht groß genug für den Roman, es musste noch ein weiterer Reißer draufgesetzt werden, der für mich zu sehr bemüht war, um ernsthaft glaubwürdig die gesamte Handlung zu motivieren. Auch das Laien innerhalb weniger Tage gelingt, woran das LKA offenkundig über Monate scheiterte – das mag es mal geben, mich überzeugen jedoch mehr realistische Handlungen.

Fazit: leider am Ende große Enttäuschung. Der Roman hatte mehr versprochen, sich dann aber leider in typischen Krimi-Versatzstücke und konstruierter Logik verloren.

Claire McGowan – The Lost (dt. Bittet nicht um Gnade)

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Claire McGowan – The Lost (dt. Bittet nicht um Gnade)

Nachdem sie in London bereits durch ihre Hilfe bei Vermisstenfällen aufgefallen ist, bietet man der Psychologin Paula Maguire die Mitarbeit in einer neuen Lost Case Gruppe an. Der Haken: diese sitzt in Ballyterrin, ihrer nordirischen Heimatstadt, in die sie eigentlich nie mehr zurückkehren wollte. Wegen ihres Vaters nimmt sie trotzdem an, doch statt an Altfällen zu arbeiten, muss die Gruppe sich mit aktuellen Vermisstenfällen beschäftigen. Gleich zwei Teenager sind verschwunden, eine Verbindung scheint es jedoch nicht zu geben, die eine aus reichem Elternhaus und Schülerin einer katholischen Mädchenschule, die andere gehört zu einer Gruppe von Travellers, die ihr Lager am Rand der Stadt aufgeschlagen haben. Bei Vermisstenfällen bleibt wenig Zeit, Paula weiß jedoch auch, dass manche Menschen einfach verschwinden und nicht gefunden werden wollen. Was das Team jedoch bald schon stutzig macht, ist die Tatsache, dass schon seit Jahrzehnten in der Umgebung eine ungewöhnlich hohe Zahl von jungen Frauen scheinbar spurlos vom Erdboden verschluckt wird.

Für mich ist Claire McGowan eine der Autorinnen, die mich im Krimigenre immer wieder begeistern können. „The Lost“ (dt. Bittet nicht um Gnade), der erste Band ihrer Reihe um die Psychologin Paula Maguire bietet auch genau das, was ich erwartet habe: einen spannenden Kriminalfall, interessante Figuren und die Handlung eingebettet in die Umgebung, die in diesem Fall an der Grenze zwischen der Republik Irland und Nordirland verläuft. Die Troubles sind zwar lange vergangen, aber die Figuren können die Geschichte, die sie unweigerlich in sich tragen, nicht völlig ausblenden.

Gerade diesen Aspekt hat die Autorin unaufdringlich, aber überzeugend mit der Handlung verwoben. Schon bei der Vorstellung des Teams sortiert Paula ihre Kollegen schon auf Basis der Namen unweigerlich in Katholik/Protestant, diese Seite oder die andere. Dass der Teamleiter ausgerechnet Engländer ist und ihm entsprechend so manch sensible Situation nicht bewusst ist, gestaltet die Zusammenarbeit auch nicht leichter. Immer wieder werden die Figuren mit dem Thema konfrontiert, wobei es nicht um politische Fragen geht, sondern um die eigene Familie und die Rolle, die diese einnahm, sowie die Verantwortung für das eigene Handeln, aber auch jener, die man eigentlich zu den engsten Vertrauten zählt.

Schon zu Beginn wird thematisiert, dass Paula nur zögerlich nach Nordirland zurückkehrt, ihre Vorgeschichte wird im Verlauf nach und nach aufgelöst und lässt so eine interessante und vielschichtige Figur, die oft weit von der Superheldin entfernt ist, entstehen. Die Vermisstenfälle scheinen zunächst einen klaren Bezug zu einem kirchlichen Jugendzentrum zu haben, das viele Mädchen regelmäßig besuchten. Hieraus entspinnt sich eine Geschichte, die ein tragisches und schändliches Thema der jüngeren irischen Vergangenheit aufgreift und in dessen Zentrum die katholische Kirche steht, die sich so gar nicht barmherzig und menschenfreundlich zeigt, wobei man dies vielleicht präzisieren muss: junge Frauen standen nicht unter besonderem Schutz, ganz im Gegenteil.

Kein Krimi, der von schnellem und actionreichem Tempo lebt, sondern eine bemerkenswerte und nachdenklich stimmende Geschichte auch jenseits der Spannung zu erzählen hat.

Sasha Filipenko – Rote Kreuze

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Sasha Filipenko – Rote Kreuze

Alexander ist noch gar nicht in seine neue Minsker Wohnung eingezogen, als er auch schon die Bekanntschaft mit der scheinbar exzentrischen Nachbarin Tatjana Alexejewna macht, vor der ihn die Maklerin gewarnt hat. Eigentlich möchte er nicht auf einen Plausch zu ihr kommen, doch dann fesselt ihn die Lebensgeschichte der 91-Jährigen, die an Alzheimer erkrankt ist und oftmals heute schon vergessen hat, was gestern geschehen ist. An ihre Vergangenheit kann sie sich jedoch sehr gut erinnern. Den Zweiten Weltkrieg, ihre Arbeit im Außenministerium, ihren vermissten Mann Ljoscha und die Tochter Assja, die man ihr entrissen hat, als man sie wegen Volksverrat ins Lager schickte. Ein bewegtes Leben hat sie hinter sich, das exemplarisch für viele in der ehemaligen Sowjetunion steht. Mit dem Erzählen ihrer eigenen Geschichte, bewahrt sie diese nicht nur vor dem eigenen Vergessen, das der Krankheit geschuldet ist, sondern auch vor dem kollektiven Verdrängen der Straftaten, die die Kommunisten hinter dem Eisernen Vorhang über viele Jahre verübten.

„Rote Kreuze“ ist der erste Roman des weißrussischen Autors Sasha Filipenko, der ins Deutsche übersetzt wurde. Der Journalist und Drehbuchautor sagt im Nachwort zu seinem Roman, dass für ihn ein guter Roman nicht nur eine Geschichte erzählen soll, sondern Geschichte haben muss. Die Recherche um die Gräuel des Stalin-Regimes setzt er literarisch um und schafft es, auf nicht einmal 300 Seiten ein wichtiges Kapitel der russischen Geschichte wieder ins Bewusstsein zu rufen und den Opfern mit Tatjana Alexejewna eine Stimme zu verleihen.

Trotz ihrer Geburt in London und zahlreicher Reisen in Westeuropa, wird Tatjana Alexejewna schnell eine Anhängerin des Kommunismus als sie nach Moskau übersiedelt. Rückblickend fällt es ihr schwer nachzuvollziehen, wie sie so lange die Augen vor den untrüglichen Anzeichen des sich nähernden Krieges verschließen konnte. Sie dient ihrem Land und wird doch als Verräterin hart bestraft. Nicht die Prügel und die Entbehrungen des Straflagers sind es jedoch, die ihr zusetzen, sondern die Ungewissheit darüber, was mit ihrem Mann und ihrer Tochter geschah und vor allem das schlechte Gewissen wegen einer Kleinigkeit, einem minimalen Betrug, von dem sie hoffte, dass sie so dem Schicksal ein Schnippchen würde schlagen können. Am Ende ihres Lebens angekommen, kann sie nichts mehr beängstigen, nicht einmal mehr Gott, sollte es ihn denn geben:

 „Jetzt denkt sich Gott, dieser von mir erdachte Gott, für mich Alzheimer aus, weil er Angst hat! Er hat Angst mir in die Augen zu schauen! Er will, dass ich alles vergesse.“

Vergessen und Erinnern sind die zentralen Themen des Romans. Nicht nur die alte Dame, sondern auch der junge Nachbar kann und will vor der Erinnerung nicht davonlaufen. Alexanders Los ist zwar gänzlich anders gelagert, aber auch er hadert mit unabwendbaren Entscheidungen einer übermenschlichen Macht, denen er jedoch alles Menschenmögliche entgegensetzt.

Neben der historischen Relevanz des Themas begeisterte mich Filipenko mit unzähligen wundervollen, treffsicheren Formulierungen, die das Lesen zu einem Fest machen. Auch vermeintliche Nebensächlichkeiten wie die wiederholten Verbindungen von Handlung mit Musik – wie etwa Tschaikowskys 5. Symphonie, die nach Tatjana Alexejewnas Empfinden die ganze Dramatik der russischen Geschichte widerspiegelt – man mag sich die Stücke sofort anhören, um noch mehr in die Handlung einzutauchen als man das ohnehin schon tut.

Ein Roman, bei dem einfach alles stimmt – schon jetzt eins der Highlights 2020. Ein herzlicher Dank geht an den Diogenes Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autor und Buch finden sich auf der Verlagsseite.

Stina Jackson – Dunkelsommer

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Stina Jackson – Dunkelsommer

Norrland, weit oben im schwedischen Norden. Zwei Menschen sind auf der Suche. Lehrer Lelle such Lina, seine Tochter, die vor drei Jahren spurlos von der Bushaltestelle verschwunden ist, an der er sie morgens abgesetzt hatte. Die 17-jährige Meja sucht nur nach einem normalen Leben. Mehr als 30 Mal ist sie mit ihrer Mutter Silje bereits umgezogen, von einem Liebhaber zum nächsten, jetzt also in den Norden zu Torbjörn. Die dunklen Wälder machen dem Mädchen aus dem Süden Angst, auch Torbjörn kann sie nur schwer einschätzen, doch bald schon findet sie in den Brüdern Carl-Johan, Göran und Pär Freunde, mit denen sie die langen Sommertage verbringt. Sie sind anders, ihre Eltern leben abgeschieden auf einem Hof und versorgen sich selbst, meiden die Gesellschaft. Als von einem Campingplatz ein Mädchen verschwindet, wird Meja zum ersten Mal mit der dunklen Seite der Gegend konfrontiert. Wieder ein 17-jähriges Mädchen, wieder gibt es keine Spuren, ist sie auch in Gefahr?

Das Debut der gebürtigen Schwedin Stina Jackson, die seit zehn Jahren jedoch bereits in den USA lebt, ist geprägt von der düsteren Stimmung des wenig besiedelten schwedischen Nordens. Entweder die Figuren leben völlig im Einklang mit der Natur oder diese breitet ihre Düsterheit und ihren Schrecken über ihnen aus. Atmosphärisch überzeugend hat die Autorin ihre Story in die wenig idyllische Umgebung eingebaut und erzeugt selbst in friedlichen Situationen ein gewisses Unbehagen.

Die beiden Handlungsstränge um Lelle und Meja werden parallel erzählt. Jede Nacht macht sich der trauernde Vater auf, um die Gegend nach Spuren von Lina abzusuchen, jede Nacht aufs Neue begegnet er potenziellen Tätern, jede Nacht kehrt er mit leeren Händen zurück. Seine Trauer ist überwältigend, fordert ihn völlig bis zur absoluten Belastungsgrenze, doch er gibt nicht auf. Man fühlt sein Leid und wünscht ihm so sehr, dass er endlich Frieden findet. Meja bemitleidet man gleichermaßen, ihre familiäre Situation ist mehr als prekär und man erhofft für das Mädchen, endlich entfliehen zu können. Mit der Begegnung mit den drei Jungs scheint zum ersten Mal so etwas wie Normalität in ihr Leben zu treten, auch wenn der Familie sehr seltsame Prepper zu sein scheinen und sich täglich mit Verschwörungstheorien beschäftigen.

Beide Figuren sind authentisch gezeichnet, vor allem ihr Schmerz bzw. die Einsamkeit der beidem wird deutlich. Dass sich ihre Wege kreuzen müssen, liegt auf der Hand. Die Auflösung des Falles wird ebenfalls überzeugend angebahnt und zu einem sauberen Schluss gebracht. Die Geschichte lebt nicht von nervenzerreißender Hochspannung, sondern wird von den Emotionen der Figuren getragen und besticht durch die düstere Atmosphäre, die sich mit Eintritt des Herbstes noch deutlich verstärkt. Eine rundherum stimmige Erzählung, die die Erwartungen an weitere Romane der Autorin hochschraubt.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autorin und Buch finden sich auf der Seite der Verlagsgruppe Random House.