Jérôme Leroy / Max Annas – Terminus Leipzig

Jérôme Leroy / Max Annas – Terminus Leipzig

Nach einem Alleingang mit ihrem Team, bei dem ein Kollege tödlich getroffen wird, wird die DGSE Kommissarin Christine Steiner zunächst beurlaubt. Die Zeit soll sie auch nutzen, um den Selbstmord ihrer Mutter zu verarbeiten. Obwohl privat unterwegs bittet ihr Chef sie, bei einem Einsatz in Lyon zu unterstützen. Dort wurde ein älteres deutsches Ehepaar ermordet, ehemalige Mitglieder einer linksextremen Gruppierung, auf die ein deutsch-französisches rechtes Bündnis offenbar gerade Jagd macht. Als Christine den Tatort inspiziert, findet sie etwas, das sie völlig aus der Bahn wirft: ein Foto, auf dem ihre Mutter und sie als Kleinkind zu sehen sind. Ihre Mutter hatte nie darüber gesprochen, weshalb sie 1971 alle Brücken zu ihrer deutschen Heimat abgebrochen hat. Christine benötigt nicht viele Informationen, um sich schon kurz danach auf den Weg nach Leipzig zu machen und Rache zu nehmen.

Es gibt Autoren, zu deren Büchern man greift, ohne auch nur einen kurzen Blick auf den Klappentext zu werfen. Jérôme Leroy zählt für mich zu diesen, Max Annas konnte mich bislang gleichermaßen begeistern. Eine Kooperation von beiden ist daher etwas, das ich mir kaum entgehen lassen konnte. „Terminus Leipzig“ ist im Rahmen des Krimifestivals „Quais du Polar“ zwischen den beiden Autoren und ihren Verlagen Edition Nautilus aus Deutschland und Le Point aus Frankreich entstanden. Wie auch in ihren anderen Romanen wird die Handlung von gesellschaftspolitischen Ereignissen getragen, hier der gegenwärtige Terrorismus, der mit der linksextremen Gewalt in der Bundesrepublik der 1970er geschickt verbunden wird.

Als Leiterin einer Antiterroreinheit ist Christine unerschrocken und strategisch in ihrem Vorgehen. So akribisch sie sich über ihre Zielpersonen informiert, hat sie die fehlenden Informationen über ihre eigene deutsche Herkunft immer hingenommen und die Mutter nie genötigt, etwas über ihre Zeit vor dem Umzug in die französische Provinz zu berichten. Das Foto vom Tatort lässt jedoch kaum andere Schlüsse zu als dass die unauffällige Krankenschwester offenbar eine extremistische Vergangenheit hat. In Wolfgang Sonne, der ebenfalls zu sehen ist, glaubt Christine ihren Vater zu erkennen, weshalb sie sich auf den Weg zu ihm macht, um Antworten auf die bislang nie gestellten Fragen zu erhalten. Doch dafür bleibt kaum Zeit, denn gerade in Leipzig angekommen, geraten sie in das Feuer der Rächer, die Sonne ebenfalls ausfindig gemacht haben.

Ein rasanter Kurzkrimi, der sich nicht lange mit der Figurenentwicklung aufhält, sondern unmittelbar ins Geschehen einsteigt. Eine vielversprechende Zusammenarbeit der beiden Autoren, die für mein Empfinden noch stärker hätte ausgebaut werden können, denn sie reißen nur an, was sie eigentlich können. Auch die Handlung bietet noch Entwicklungsspielraum, womöglich ist dies ja in dem Cliffhanger am Ende angelegt, wünschen würde ich mir das jedenfalls.

Katixa Agirre – Die lustlosen Touristen

Katixa Agirre – Die Lustlosen Touristen

Eigentlich ist es nur eine Reise durch ihre Heimatregion, die Ulia ihrem Mann Gustavo zeigen möchte. Zufällig hatten sie sich nach den Madrider Attentaten von 2004 kennen und später auch lieben gelernt. Begleitet werden sie jedoch von einem Geheimnis, das Ulia selbst erst als erwachsene Frau von ihrer Mutter erfuhr und zu dessen Enthüllung es gegenüber Gustavo nie den richtigen Zeitpunkt gab. Das Baskenland zu bereisen geht nicht ohne politische Diskussion und bald schon merkt Ulia, dass hier die Perspektiven zwischen ihr als geborener Baskin und ihrem Mann, dem Spanier, kaum vereinbar sind. Während sie auf den Straßen von Ort zu Ort fahren, drängt auch ihre Doktorarbeit um Benjamin Britten und dessen Pazifismus immer wieder in ihre Gedanken – wie soll sie als Kind einer Region, die seit je her auch mit Terror um Unabhängigkeit kämpft, dies in sich vereinen?

„Ich sehe ganz klar, dass das eine Reaktion auf die negative Überrepräsentation ist, die ihr in den Medien bekommen habt. Von klein auf zu sehen, wie Eurer Scheiß jeden Tag auf Neue die Nachrichten eröffnet, das muss unauslöschliche Spuren hinterlassen.“

Die ETA, vermutlich das, was man als erstes mit dem Baskenland verbindet, wenn man in den letzten Jahrzehnten die Nachrichten verfolgt hat. Unweigerlich muss dies zum Streitpunkt werden und die Autorin Katixa Agirre bindet die politische Diskussion geschickt in ihre Geschichte um „Die lustlosen Touristen“ ein. Auch wenn Ulia dies nicht möchte, sie kann sich nicht von der Geschichte lösen, die auch die ihre ist. So entwickelt sich die Handlung von einem fröhlichen Urlaubtrip zu einer Beziehungsprobe und zu einer neuen Positionsbestimmung, die im Alltag in der Hauptstadt immer verdrängt werden konnte.

Der Roman weigert sich, in irgendeine vorgefertigte Schublade zu passen. Die Einschübe über Benjamin Britten, über den die Musikwissenschaftlerin Ulia promoviert, genauso wie die Zeitungsartikel der englischen Journalistin, der sie auf ihrer Reise wiederholt begegnen, unterbrechen die Handlung immer wieder. Sie retardieren die Detonation, die sich anbahnt, die kommen muss, die Enthüllung dessen, was Ulia mit sich trägt und bislang verschwiegen hat. Dabei ist sie selbst zerrissen zwischen der Heimat, in der sich aufgewachsen ist, deren Geschichten sie kennt und dem aufgeklärten Friedenswillen, den sie selbstverständlich als Akademikerin befürwortet. So wird die Reise nicht nur eine Entdeckung für ihren Mann, sondern auch für sie selbst, denn in die Ecke bedrängt, entdeckt sie auch in sich unbekannte Flecken.

Kein leichter Roman, sondern eine Geschichte, die man sich erlesen muss – was sich aber ohne Frage lohnt.

Mahir Guven – Older Brother

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Mahir Guven – Older Brother

They are neither French, nor the typical Arabs you find in Paris who mainly come from the former colonies in the Maghreb countries. So no wonder the two brothers who grow up without their mother do not belong anywhere. Their father left Syria in the hope of a better life for his kids, but the older of his sons got in trouble early, only the younger one who works as a nurse in a hospital seems to have a promising future. Yet, the feeling of being unable to fulfil his dreams – becoming a real doctor, being treated like the French – throws him off the track. With a Muslim humanitarian organisation, he hopes to do something useful with his life at least and leaves the country for Syria and the war. Three years after abominable conditions leave their mark and when he returns, he is not only the same young man he was before anymore but he also has a mission to accomplish.

“We used to just be Syrians. Well, he was Syrian, and we were Maghrebins, Syrians, sometimes French, occasionally Breton; it depended who we were hanging out with. In real life, until the war in Syria, we were all more just banlieusards than anything else. But since the war, everyone’s been calling themselves Muslim.”

Mahir Guven portrays two possible ways of dealing with an undoubtedly highly demanding situation. No matter how much effort Europeans put into welcoming refugees and migrants of all kinds, societies are not easy to actually enter. The boys have a French mother and a Syrian father, thus by nature, do not completely belong anywhere. This makes them not only fragile and prone to all kinds of delinquencies, but also perceptible to questionable ideologies which on the surface seem to provide answers neither the family nor the society can offer.

The debut novel gives the young men not only a voice, but also the reader a chance to look into their heads and get an understanding of their feelings and lacking sense of belonging. It also shows that it is not inevitably the family, the friends or the milieu someone lives in which determine about their life. There are always options, decisions are made and even if you opt for one road, this does not obligatorily have to be a one-way street. Second, the terrorists who threaten our peaceful life are not always stupid idiots, but the intelligent ones who simply were refused their share of happiness and a chance in life.

I was immediately immersed in the novel which is written in a lively and authentic tone. But first and foremost, I find it highly relevant to read about these kinds of perceptions and feelings, by far too long other voices have domineered the discourse and if we want to live up to our ideals, we need to listen to them, too.

Sam Byers – Schönes Neues England

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sam Byers – Schönes Neues England

London war gestern, heute trended die Provinz. So wie Edmundsbury mit seinem Technologie Park und den zahlreichen ansässigen IT Firmen. Darunter auch The Arbor, eine Firma, die per Gamification das Maximum aus ihren Mitarbeitern herausholt. Sie ist es auch, die aus einer heruntergekommenen Wohnanlage eine lebenswerte und voll automatisierte Luxus-Siedlung gestalten will. Die Politiker brüsten sich mit dem Deal, doch nur so lange, bis die Kehrseite publik wird. Die armen, kleinen Leute, die dafür weichen müssen. Ein Scoop für Journalisten wie Robert Townsend, der in unmittelbarer Nähe wohnt und plötzlich genau die Menge an Internet Aufmerksamkeit erhält, von der er immer geträumt hat. Dass er sich dafür von seiner Freundin entfremdet, bemerkt er kaum im medialen Höhenflug. Ein großes Projekt, das plötzlich auf Widerstand stößt und die Stimmung aufheizt, eine Welt, die mehr online als offline stattzufinden scheint und in der Beziehungen fragil wie nie zuvor sind.

Sam Byers entwirft eine Welt, die man irgendwo zwischen Dystopie und bösartiger Satire einordnen möchte, aber die zu real scheint, um sie nur als Fiktion wahrzunehmen. Die Mechanismen, die er entlarvt, sind die, denen wir tagtäglich begegnen; das Verhalten seiner Figuren ist symptomatisch für unsere medial gesteuerte Welt. Ein erschreckendes Szenario, das womöglich von der Realität bereits überholt wurde, ohne dass wir uns dessen bewusst wären.

Es gibt viele interessante Aspekte, die allesamt auffällig authentisch wirken und so den fiktionalen Anstrich verlieren. Die Hightech Firma, die die Infrastruktur einer Siedlung erneuern möchte und deren Absichten bestens verschleiert sind, so sehr, dass selbst leitende Mitarbeiter keinen Überblick darüber haben, woran sie eigentlich arbeiten. Die Bewohner jenes Fleckchens, die man systematisch bedrängt und bedroht und denen wenig subtil das Verschwinden nahegelegt wird. Politiker, die aus der Not der Leute Profit zu schlagen versuchen und nur den Blick auf die nächste Wahl richten. Der Reporter, dem es weniger um Inhalte als um Klicks geht und der erkennt, dass er erst dann ganz oben angekommen ist, wenn er ausreichend viele Hassmails und Morddrohungen bekommt. Daneben anonyme Gruppen, die sich hinter Pseudonymen und Avataren verstecken und durch gezielte Provokation Stimmung machen.

Man rauscht durch die Geschichte und erkennt unsere Welt wieder – in jeder absurden Szene. Besonders die Mechanismen, die in der online Welt greifen fand ich faszinierend, wie etwa die simple Möglichkeit, sich mehrere Identitäten zu erschaffen und diese gezielt einzusetzen. Auch der schmale Grat zwischen Bewunderung und nicht mehr nur verbalem Hass wird glaubwürdig aufgezeigt. Die Dynamiken des Netzes bestimmen nicht nur das Handeln, sondern sogar das Denken.

„Wie war es so weit gekommen? Ihr wurde wieder bewusst, wie nahe sie sich einmal gewesen waren – und dass sie über dasselbe Medium Intimitäten ausgetauscht hatten, das sie heute nutzten, um einander zu verletzen.“

Das globale Netz hat die Welt zusammenrückenlassen und verkleinert, doch nun droht es in das Gegenteil umzuschlagen und zu entfremden. Auf der menschlichen Ebene eine wirklich nachdenklich stimmende Entwicklung, die Sam Byers hervorragend literarisch umgesetzt hat.

„War das nicht mehr normal? Sollte er sich für so was neuerdings entschuldigen?“

Es gibt noch eine hochaktuelle Nebenhandlung um einen Politiker, die genial eingebaut wurde, deren absurde Wirklichkeitsgetreue fassungslos macht. Das Zitat verrät nicht, worum es geht, aber allein nur für diesen Handlungsstrang hat die dazugehörige Figur hat der Autor alle Sterne, die man vergeben könnte, verdient.

Judith W. Taschler – Das Geburtstagsfest

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Judith W. Taschler – Das Geburtstagsfest

Eine große Überraschung haben Jonas, Simon und Lea für den 50. Geburtstag ihres Vaters geplant. Über viele Wochen haben sie Stillschweigen vereinbart und auch die Mutter nicht eingeweiht und dann ist der 17. Juni da und ebenso der unerwartete Gast: in Amerika haben sie Tevi Gardiner ausfindig gemacht, die Frau, der ihr Vater Kim Mey einst in Kambodscha das Leben gerettet hat. Mutter Ines traut ihren Augen kaum, das Mädchen, das ihre Mutter damals mit ihrem heutigen Mann als Flüchtlingskinder aufgenommen hat, steht plötzlich vor ihr. Und Kim ahnt, dass ihn die schlimmsten Heimsuchungen nun ereilen. Jahrzehntelang hat er erfolgreich verdrängt, was war, doch nun muss er sich seiner Vergangenheit stellen.

Die Glauser Preisträgerin Judith W. Taschler schafft es immer wieder mit schweren Stoffen zu begeistern. In „Das Geburtstagsfest“ schildert sie nicht nur eine tragische unerfüllte Liebe, sondern auch die Wohl schlimmste Zeit in dem südasiatischen Land: die Schreckensherrschaft der Roten Khmer und wie auch Kinder unweigerlich in den Konflikt gezogen wurden und Erfahrungen machen mussten, die sie auch Jahrzehnte später noch in ihren Alpträumen verfolgen.

So wie die Gedanken nach und nach aus den Untiefen des Gehirns plötzlich wieder ins Bewusstsein treten, erzählt die Autorin ihren Roman. Einerseits verlaufen die Tage um das Jubiläumsfest, immer wieder werden diese aber durch die Erinnerungen an die Zeit der 70er Jahre in Kambodscha unterbrochen. Sie schenkt ihren Charakteren nichts und scheut auch nicht davor zurück, größte Gräueltaten ungeschönt zu beschreiben. Was hätte es auch für einen Sinn die Realität zu verfremden? Kim Mey muss sich dem stellen, was er getan hat und ebenso wie Tausende andere auch, war er bereit zum Äußersten zu gehen, um sein eigenes Leben zu retten. Aber Taschler wird nicht plakativ schwarz-weiß in ihrer Darstellung, gerade die Zerrissenheit des jungen Kim ist ihr hervorragend gelungen. Der Junge, der Unrecht erkennt und versucht, sich zwischen den Fronten zu bewegen und denen, die ihm zuvor geholfen haben, nun auch entgegenzukommen, obwohl dies bei Tode verboten ist, muss damit leben, Entscheidungen getroffen zu haben, die falsch waren.

Ein gelungener Roman, der ein langsam aus dem Bewusstsein verschwundenes Grauensregime nochmals aufleben lässt und die private Seite von Terror beleuchtet. Kein leichter Stoff, aber unbedingt lesenswert.

Stewart O’Nan – Stadt der Geheimnisse

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Stewart O’Nan – Stadt der Geheimnisse

Nachdem er das Lager überlebt hat und seine ganze Familie ausgelöscht wurde, macht der jüdische Lette Jossi Brand sich auf nach Jerusalem, um den alten Traum seiner Eltern zu realisieren. Die Situation im noch gegründeten Israel ist fragil, schnell schließt sich Brand der Untergrundorganisation Hagana an, um für ein freies Land zu kämpfen. Die Kontaktperson seiner Zelle ist Eva, die nebenbei als Edelprostituierte arbeitet und in den besten Hotels der Stadt verkehrt. Brand verdient sich seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer, meist für ausländische Touristen, gelegentlich um die Anschläge seiner Zelle mit Transportdiensten aller Art zu unterstützen. Er kam mit Wunsch, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, doch immer wieder holt sie ihn ein und was als Aufbruch in eine neue Zukunft gedacht war, wird immer mehr zur Sackgasse aus der es scheinbar kein Entrinnen gibt.

Stewart O’Nan ist seit Mitte der 90er Jahre eine feste Größe in der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Meist schreibt er über die Schattenseiten des American Dream, über die Verlierer und von Schicksalsschlägen Gebeutelten. Auch die Figuren in der „Stadt der Geheimnisse“ haben Erwartungen und Träume, die jedoch in Heiligen Land ebenfalls nicht erfüllt werden.

„Er war nicht so schwach, um sich umzubringen, aber auch nicht so stark, dass er es nicht wollte. Ihm stellte sich immer die Frage, was er mit seinem alten Leben anfangen sollte, die Erinnerung gärte in ihm wie eine Krankheit.”

Obwohl es auf der Handlungsebene meist um die Vorbereitung und Durchführung von Anschlägen geht, dreht sich eigentlich doch alles um Brand. Immer wieder holen die Erinnerungen ihn ein und lassen ihn nicht los. In Eva sieht er seine ermordete Frau Katja, obwohl beide offenbar kaum etwas gemeinsam haben. Vor allem aber das Wissen um das, was er in Gefangenschaft getan hat, um zu überleben, ist es, das ihn quält:

„Die Lager hatten einen egoistischen, argwöhnischen Menschen aus ihm gemacht. Dass jetzt jemand Gutes über ihn dachte, war ihm unangenehm, weil er die Wahrheit kannte. Er war nach Jerusalem gekommen, um sich zu ändern, sich zu bessern. (…) Nachdem er so lange ein Tier gewesen war, glaubte er nicht, je wieder ein Mensch sein zu können, doch wenn sie an ihn glaubten, war es vielleicht möglich.”

 

Die schwache Hoffnung auf einen Neubeginn mit der kühlen und trotz der gemeinsam verbrachten Nächte unnahbaren Eva hält ihn am Leben, auch wenn das Gewesene nicht abstreifen kann.

Ein dichtes Buch, das sowohl die angespannte Stimmung im Jerusalem des Jahres 1947 überzeugend darstellt wie auch die Zerrissenheit zwischen gestern und morgen, in der sich der Protagonist befindet. Der Krieg ist zu Ende, aber in den Menschen tobt er weiter.

André Georgi – Die letzte Terroristin

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André Georgi – Die letzte Terroristin

Der deutsche Herbst ist längst vergangen, die großen Ikonen der RAF tot und Deutschland frisch wiedervereinigt. Aber der Untergrundkampf ist noch lange nicht beendet, denn es gibt neue Ziele, neue Opfer, denen die dritte Generation Terroristen sich zuwendet: der Chef der Deutschen Bank, ermordet im Frühjahr 1991 und das nächste Ziel ist auch schon im Visier: Hans-Georg Dahlmann, der Treuhandchef. Geschickt hat man eine Frau bei im platziert, die bislang völlig unter dem Radar von BKA und anderen Sicherheitsbehörden war: Sandra Wellmann, ehemals beste Freundin seiner Tochter erscheint Dahlmann vertrauenswürdig und geeignet als Assistentin. Doch das BKA ist der RAF auf der Spur, ein V-Mann kann wichtige Informationen liefern und die Nerven liegen blank bei den Terroristen – so geschehen Fehler. Wer wird am Ende die Oberhand haben?

Wie schon in „Tribunal“ greift André Georgi auf die Realität als Vorlage für seinen Thriller zurück und zeigt, dass das Leben selbst genügend Spannung bietet und es gar keiner ausgedachten Geschichte bedarf, um auf höchstem Niveau zu unterhalten. Auch wenn die Namen der Opfer und Täter erfunden sind, benötigt man als Leser nur wenige Seiten um die Ermordungen von Alfred Herrhausen und Detlev Karsten Rohwedder wiederzuerkennen. Zwei aufsehenerregende Fälle, deren genaue Tathergänge bis heute nicht restlos geklärt sind.

Die ganz klar spannendsten Aspekte sind nicht der Ausgang der Geschichte, der ist bekannt, sondern die von Georgi konstruierten Hintergründe und die Figuren der Täter mit ihren Emotionen, aber auch den Strukturen der RAF. Bringt man den Fall Rohwedder nur mit dem Terror in Verbindung, vergisst man mögliche andere Motive, die in Anbetracht seiner Funktion eigentlich naheliegen und es ist gut vorstellbar, dass hinter dem Mord ein ganz anderer Antrieb steckte, der bis heute unentdeckt ist und es womöglich immer bleiben wird. Auch die Rücksichtslosigkeit, mit der die Terroristen mit den eigenen Leuten umgehen, wie Sandra im Roman benutzt und belogen wird, steigert das abscheuliche Bild der Gruppe nochmals.

So bleiben Handlung und Spannung trotz der erkennbaren Parallelen zur Realität und den vielfach bekannten Aspekten auf durchgängig hohem Niveau. Ein Politthriller, der restlos überzeugt und durch die Verbindung von Terror, Politik und Wirtschaft zudem anspruchsvoll die jüngere deutsche Geschichte darstellt, die komplex geworden ist und keine einfachen Zuordnungen und Zuschreibungen mehr zulässt.

Sorj Chalandon – Retour à Killybegs

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Sorj Chalandon – Retour à Killybegs

Dezember 2006, Tyrone Meehan kehrt zu seinem Geburtsort in Killybegs zurück. Mit 81 Jahren will er abschließen und erzählen, was noch zu erzählen bleibt. Doch er ist dort nicht erwünscht, schon kurz nach seiner Ankunft erhält er Besuch der örtlichen Polizei, die ihn warnt, dass er aufpassen möge, aber das weiß Tyrone Meehan schon. Er ist ein Verräter und die will man nicht haben. Wie konnte es dazu kommen? Wann hat er sich der IRA angeschlossen? Vermutlich war er immer Mitglied, wie sein Vater schon vor ihm, der sein Leben dem Kampf gewidmet hatte. Auch Tyrone wird zu einer Ikone des Unabhängigkeitskampfes und des geforderten wiedervereinten Irlands, aber er trägt ein Geheimnis mit sich und das macht ihn erpressbar. Der ärgste Feind weiß davon und nutzt es aus, um ihn so in eine nicht auflösbare Zwickmühle zu bringen.

Killybegs ist ein irisches Dorf in County Donegal, das von der Fischerei geprägt ist. Im Norden, unweit der Grenze zu Nordirland gelegen, war es auch nie weit entfernt von den Feinden, von denen Sorg Chalandons Roman handelt. Die Geschichte wurde inspiriert von Denis Martin Donaldson, einem IRA Kämpfer und Sinn Féin Abgeordneten, der 2005 als Informant des MI5 geoutet und später ermordet wurde. Chalandon war über viele Jahrzehnte Journalist für die Libération und hat unter anderem über den Nordirlandkonflikt berichtet, weshalb dieses Thema ihn schon vor dem Roman lange Zeit begleitete. Sein Wissen, das man aus jeder Zeile herauslesen kann, und die überzeugende sprachliche Umsetzung haben ihm den renommierten Grand Prix du roman de L’Académie française eingebracht.

Von außen ist der Nordirlandkonflikt kaum nachvollziehbar, was auch daran liegt, dass er lange Zeit auf eine Konfrontation zwischen Katholiken und Protestanten reduziert wurde, was die eigentlichen Ursachen und tieferliegenden Gründe in keiner Weise trifft. „Retour à Killybegs“ erzählt nicht nur die Lebensgeschichte eines Mannes, exemplarisch für viele überzeugte Anhänger des Untergrundkampfes, sondern zeichnet auch die Entwicklungen nach und lässt leicht nachvollziehen, weshalb die Friedensverhandlungen so schwierig waren. Tyrone Meehan ist dabei kein eindimensionaler Radikaler, der blind für die Sache kämpft, er ist reflektiert, zwiegespalten, besorgt um die nachfolgende Generation und straft die Reduktion der IRA auf rücksichtslose gewaltbereite Spinner Lügen.

Ein Mann am Ende seines Lebens. Trotz der Tatsache, dass er ein Terrorist war und Menschen getötet hat, kann er Sympathien wecken. Man versteht, was ihn angetrieben hat und vor allem sieht man auch die andere Seite, die ihn viel menschlicher erscheinen lässt als dies Nachrichtenmeldungen je tun könnten. Ein bemerkenswerter Roman mit einem außergewöhnlichen Protagonisten.

Fernando Aramburu – Patria

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Fernando Aramburu – Patria

Patria – Heimat. Doch was bedeutet Heimat und wie weit darf man für seine Überzeugung von Heimat gehen? Txato wurde vor über zwanzig Jahren von ETA Terroristen getötet, seine Frau Bittori trauert bis heute. Doch ihre Tage sind gezählt und bevor die Krankheit sie dahinrafft, will sie wissen, was damals genau geschah und wer Schuld hat an dem Tod ihres Mannes. Sie kehrt zurück in das Haus, in dem sie gemeinsam gelebt hatten, sehr zum Ärger der ansässigen Dorfbevölkerung. Vor allem ihre älteste Freundin Miren beäugt sie argwöhnisch. Liegt es daran, dass ihr Sohn wegen Verbrechen für die ETA in Haft sitzt? Hat er vielleicht sogar damals Txato getötet?

Fernando Aramburu greift mit „Patria“ eine der schwierigsten Episoden der spanischen Geschichte auf: den Terror durch die baskische Untergrundorganisation ETA. Geboren in der Hauptstadt der autonomen Region Baskenland kennt er seit Kindestagen die Situation um die Bevölkerungsgruppe, die für die Unabhängigkeit streitet. Sein Roman hierzu wurde mit dem Premio Nacional de Narrativa, dem Premio de la Crítica sowie dem Premio Francisco Umbral al Libro del Año ausgezeichnet.

Der Autor verlegt den blutigen Konflikt auf eine persönliche Ebene zwischen den beiden Familien, die durch das Attentat an Txato auf Distanz gehen und ihre Freundschaft beenden müssen. Es zeigt auch, wie ein junger Mann, Joxe Mari, in die Fängen der Separatisten gerät und gar nicht anders kann als sich dem bewaffneten Kampf anzuschließen. Langsam nähert man sich dem, was an dem schicksalsvollen Tag geschehen ist und man blickt in die Seelen der Figuren, die keine eindeutigen, keine eindimensionalen Überzeugungen haben, sondern zerrissen sind zwischen den sich widersprechenden Empfinden und den Zwängen, denen sie sich ausgeliefert sehen.

Die Suche Bittoris nach Antworten ist leicht nachvollziehbar, gerade unter dem Druck der sie bedrohenden Krankheit will sie mit den wichtigen Fragen in ihrem Leben abschließen. Schwererer zu fassen ist der Stand von Miren und ihrem Mann im Dorf, wie sie geschützt und unterstützt werden, weil ihr Sohn fernab der Heimat im Gefängnis sitzt – jedem ist zugleich klar, dass er den Tod von Menschen zu verantworten hat. Aber es war für die gerechte Sache. Auch die Frage, ob es so etwas wie göttliche oder übernatürliche Gerechtigkeit gibt, wird mit dem Schlaganfall Arantxas, der Schwester Joxe Maris, gestellt. Sie wirft ihrem Bruder vor, dass er gefangen in seiner Zelle sitzt, aber weiß, weshalb er sich dort befindet. Sie selbst wiederum ist gefangen in einem Körper, der ihr nicht mehr gehorcht, ohne Aussicht jemals wieder herauszukommen – warum sie bestraft wurde, kann jedoch niemand sagen.

Ein großer Gegenwartsroman, den man auf keinen Fall verpassen sollte und der auch in der Hörbuchversion gelesen von Eva Mattes trotz der Komplexität ein echtes Highlight ist.

Juli Zeh – Leere Herzen

Leere Herzen von Juli Zeh
Juli Zeh – Leere Herzen

Terrorismus als buchbare Dienstleistung. Kann es so etwas geben? Natürlich, denn wie „Brücke“, das Projekt von Britta Söldner und ihrem Geschäftspartner Babak beweist, ist dies eine Marktlücke, mit der man sehr viel Geld verdienen kann. Was umfasst das Angebot der beiden? Rekrutierung und Training der Anwärter. Gezielte Auswahl und Überprüfung in einem 12-stufigen Verfahren. Garantierte Dienstleistung mit 100%-iger Erfolgsquote. Davon lässt sich gut leben, auch wenn weder Brittas Mann noch ihre Freunde genau wissen, was sie tut. Expandieren wäre zu gefährlich, den Ball flach halten und nicht auffallen ist die Devise. Doch irgendjemand hat ein Auge auf das erfolgreiche Geschäft mit den Attentaten geworfen und mischt sich ein. Britta und Babak bekommen Angst. Wer ist ihr Gegner, der offenbar nicht nur mächtig, sondern vor allem skrupellos ist?

Juli Zehs aktueller Roman ist eine Art dystopische Gesellschaftskritik. Die Handlung ist in der nahen Zukunft angesiedelt, jedoch in der Post-Merkelschen Ära, wenn eine neue Partei das Ruder übernommen hat und langsam die Demokratie und den Glauben an Europa zerstört. Mehr und mehr werden die Freiheiten der Bürger beschnitten, die dies jedoch als träge Masse hinnehmen und sich in ihrem Wohlstand ausruhen. Das Refugium des Privaten, wo man möglichst wenig Gedanken an die Politik verschwendet, ist das neue Lieblingsziel der Mittelschicht. Gestört wird dieses Idyll nur durch gelegentliche wohl platzierte und kontrollierte Anschläge, die kurz aufpoppen, dank geringer Personen- und Sachschäden jedoch genauso schnell wieder verpuffen.

Auch wenn ich das Grundkonzept mit einer Agentur für Attentäter eine recht innovative Idee finde, bleibt vieles doch so abgehoben unrealistisch, dass es mir nicht authentisch genug erscheint, um mich gänzlich zu überzeugen. Vor allem die Bekämpfung des politischen Systems, an sich spannend und interessant, verliert an Brisanz durch die geringe Konkretheit der politischen Verhältnisse. Das Private der Figuren dominiert so stark, dass man sich nur schemenhaft ein Bild der Gesamtgesellschaft machen kann. Die einzelnen Aspekte sind zu vage, um wirklich eine angreifbare Vorstellung zu schaffen.

Wo das personenübergreifende, gesellschaftliche Ganze zu schemenhaft bleibt, bekommt man einen sehr intensiven Eindruck der Figuren. Diese, allen voran Britta und Janina, sind vielschichtig gezeichnet und wirken lebendig und authentisch. Für mich war Juli Zeh auch vor allem in der Eingangsszene mit dem Abendessen der befreundeten Familien am stärksten, sie ist eine begnadete Erzählerin, der es immer wieder gelingt Atmosphären zu schaffen und den Leser in die Handlung eintauchen zu lassen. Je kritischer die Situation für die Agentur wird, desto höher wird das Tempo und desto passender verlieren die Figuren ihre Selbstsicherheit und Ruhe. Das ist alles sehr stimmig, auch die Spannung steigt kontinuierlich Richtung Ende. Hier wiederum war ich etwas irritiert, so ganz passend und überzeugend war die Lösung für mich nicht. Auch waren mir die Namen eher zu platt – die Söldnerin für das Heer der Attentäter und Babak, der kleine Vater des Supercomputers – hier hätte man kreativer sein können.

Alles in allem daher eine unterhaltsame Geschichte, die zwar erzählerisch gelungen ist, bei der sich aber auch gewisse Schwächen nicht verleugnen lassen.