Doireann Ní Ghríofa – Ein Geist in der Kehle

Doireann Ní Ghríofa – Ein geist in der Kehle

Eine Ausnahmesituation bringt die Essayistin und Poetin Doireann Ní Ghríofa zu einer Adligen, Eibhlín Dubh Ní Chonaill, die zwei Jahrhunderte vor ihr lebte und ihre Gedanken und Emotionen ebenfalls in Gedichtform äußerte. Als erwachsene Frau nimmt sie den Text, den sie bereits in der Schulzeit einmal lesen musste, gänzlich anders wahr und spürt eine Verbindung, der sie nachgeht, wenn sie nicht gerade den Haushalt schmeißt oder sich um ihre drei Kinder kümmert. Eine Verbindung zwischen zwei Frauen über Zeit und gesellschaftliche Veränderungen hinweg.

Die Autorin hat für das Buch „Ein Geist in der Kehle“ eine Mischform von Texten gewählt, die am besten zum Ausdruck bringt, was sie leitet und wie sehr die Texte von Eibhlín Dubh sie bewegen. Das Schwangersein und Mutterwerden lässt sie mehr denn je als Frau empfinden und schafft ein starkes Band zu jener Frau, die heute zum irischen Nationalmythos zählt.

Beide Leben werden clever miteinander verwoben. Das der Autorin ist für mich besonders intensiv im Ausdruck, als sie ihre Tochter zur Welt bringt und bange Wochen nach der Frühgeburt durchlebt. Die Erschöpfung und Zweifel werden in jeder Zeile lebendig und treffen einem auch als Leserin unmittelbar, auch wenn man eine derartige Erfahrung nicht machen musste. Vor allem das Gefühl, in ihrer ureigenen Funktion als Mutter, die das in ihr heranwachsende Kind nicht gut versorgt, versagt zu habt, trifft die Autorin hart.

Im Kontrast dazu Eibhlín Dubh, die einerseits stark wirkt und doch nach dem Tod ihres Mannes das Schicksal der Frauen ihrer Zeit erleidet: sie verschwindet. Sie wird unsichtbar, nicht mehr erwähnt, weder in offiziellen noch in privaten Dokumenten. Einzig durch ihre Söhne lebt sie weiter und sehr gelegentlich als Randfigur, die jedoch nur beim Mädchen Rufnamen genannt wird.

Die Autorin nennt ihren Text feministisch. Nicht nur die beiden Protagonistinnen, sondern das, was sie gesellschaftlich zu Frauen macht, stehen im Zentrum. Die Angst zu versagen, die gesellschaftlichen Erwartungen nicht zu erfüllen, wirken stark durch. Und auch das Verschwinden, in dem Moment, wo der Gatte nicht mehr da ist, ist wohl ein sehr weibliches Phänomen.

Ein starker Text, der sich einer Genre-Zuordnung versagt. Eine feministische Perspektive, die einerseits sehr persönlich und doch auch wieder universell ist. Sprachlich außergewöhnlich und gerade in den poetischen Passagen ein literarischer Hochgenuss.

Ellen Dunne – Boom Town Blues

Ellen Dunne – Boom Town Blues

Eigentlich ist Patsy Logan für eine Auszeit nach Dublin gekommen, um sich dort bei ihrer Cousine zu erholen und nebenbei auch ein wenig in der Familiengeschichte nachzuforschen, denn dass beim Tod ihres Vaters alles so war, wie es die offiziellen Berichte darstellen, glaubt sie nicht wirklich. Doch dann wird bei einem Empfang in der österreichischen Botschaft eine junge Deutsche vergiftet und man bittet sie um Amtshilfe. Gemeinsam mit einem Mitarbeiter der Botschaft soll sie die irischen Kollegen bei den Ermittlungen unterstützen, was auf wenig Begeisterung stößt. So hatte sie sich ihren Aufenthalt nicht vorgestellt, doch die Kommissarin ist durch und durch Polizistin und überschreitet bald schon ihre Grenzen, um die Spuren zu verfolgen, die die Iren nicht sehen wollen.

Ellen Dunnes dritter Auftritt für die toughe Münchner Ermittlerin führt wieder die beiden Länder zusammen, die den Hintergrund der Protagonistin bilden. Auch wenn Patsy von privaten Sorgen geplagt wird, steht in „Boom Town Blues“ der Mord im Zentrum. Schnell schon zeigt sich, dass die Motive jedoch nicht in dem Opfer zu suchen sind, sondern in dem, was Irland in den letzten Jahren immer wieder in die Schlagzeilen gespült hat: der rasante Aufstieg vom einstigen europäischen Armenhaus zum boomenden Finanz- und Immobilienzentrum, das mit der Krise 2008 einen einzigartigen Absturz erlebt hat.

Das ungleiche Duo Patsy und Sam bringt die Untersuchungen recht flott voran, von den Unverschämtheiten ihrer Dubliner Kollegen lassen sie sich weder einschüchtern noch aufhalten und haben so bald schon richtigen Ansatz gefunden. Patsys Ausfälle aufgrund der Trennung von ihrem Mann motivieren ihr Verhalten und auch die Anwesenheit in der irischen Hauptstadt glaubwürdig. Sie ist als Figur interessant gezeichnet, ohne jedoch den Krimi zu sehr damit zu überlagern.

Sehr gut gelungen ist für mich die Verschmelzung von Mordfall und der gesellschaftlich wie politisch brisanten Finanzkrise. Immer wieder wird der zentrale Handlungsstrang durch Einschübe unterbrochen, die einfache Menschen zeigen und Einblick in das geben, wie es vielen Hausbesitzern ergangen ist. Es war keine Krise, die nur Banken betroffen hat, im Gegenteil, die kleinen Eigentümer, die während der Jahre des wirtschaftlichen Aufstiegs zu größeren Krediten verführt und gedrängt wurden, als sie bedienen konnten, sind diejenigen, die es wirklich schlimm getroffen hat und die die Folgen der Spekulationen zu tragen haben. Tragische Schicksale, die so manchen verzweifeln und zu grausamen Handlungen verleiten lassen.

Ein unterhaltsamer Krimi, dessen Ermittlungen zügig und stringent verfolgt werden, wobei der Fall überzeugend in die gegenwärtige Situation Irlands eingebettet ist und geschickt auch die Folgen der Krise verdeutlicht.

Sally Rooney – Schöne Welt, wo bist du

Sally Rooney – Schöne Welt, wo bist du

Nach einem langen Klinikaufenthalt flüchtet sich die Schriftstellerin Alice in ein kleines Örtchen an der irischen Küste. Dort hofft sie in der Ruhe und Abgeschiedenheit wieder Kraft zu finden. Schnell macht sie Bekanntschaft mit dem Lagerarbeiter Felix, der so anders ist als die Menschen sonst in ihrem Leben. Etwa ihre beste Freundin Eileen, die in Dublin bei einem Literaturmagazin arbeitet oder Simon, Eileens Jugendfreund, mit dem sie eine on/off Beziehung pflegt. Über E-Mail stehen Alice und Eileen in Kontakt, tauschen alle Geheimnisse und vor allem die Sorgen, die sie plagen: was erwarten sie eigentlich von ihrem Leben? Was müssten sie tun, um wirklich glücklich zu sein? Gibt es so etwas wie Glück überhaupt?

Die vielfach für ihre Romane ausgezeichnete irische Schriftstellerin Sally Rooney gilt als Stimme ihrer Generation. Mit „Schöne Welt, wo bist du“ setzt sie das Thema fort, das sich schon in ihren ersten beiden Romanen, „Gespräche mit Freunden“ und „Normal People“, fand: eine Generation, der quasi die ganze Welt offensteht, die intellektuell gebildet ist und doch mit dem Leben hadert, geplagt wird von depressiven Verstimmungen und Selbstzweifeln; unfähig sich selbst zu lieben gelingen auch Beziehungen zu anderen kaum.

Die beiden Protagonistinnen Alice und Eileen verbindet eine langjährige Freundschaft, die auf ihre Studienzeit zurückgeht. Sie teilen alle intimen Gedanken und können philosophische Fragen ebenso miteinander erörtern wie ihr Liebesleben. Sie sind nicht mehr ganz jung, das Leben hat bereits Spuren hinterlassen: bei Alice war es durch den Erfolg ausgelöster Druck und Stress, die in einem Zusammenbruch endeten. Eileen hat das Ende einer langjährigen Beziehung nicht verwunden und wendet sich wieder ihrer Jugendliebe zu, was jedoch auch in einem komplizierten hin und her endet.

Es gibt tatsächlich eine nur recht reduzierte Handlung, was aber den Fokus auf das Innenleben der Figuren erlaubt. Mit Felix, der in vielfältiger Weise anders ist als die drei Freunde, wird ein interessanter Gegenpol geschaffen, der ausspricht, was die Figuren selbst vor sich nicht zugeben würden, der polarisiert und provoziert und so Spannungen überreizt. Zugleich leidet er genauso unter seiner eigenen Lebenssituation, ist ebenso unsicher mit Hang zur Depression wie Alice, Eileen und Simon.

Die Geschichte ist noch vor dem Lockdown angesiedelt, dabei befinden sich die Figuren schon längst in einem selbstgemachten Miniaturkosmos. Sie sind passiv, ihr Leben geschieht, sie gestalten nicht, haben zu viel Angst davor eine Entscheidung zu treffen und verharren daher eher, als dass sie etwas tun würden. Sie wollen den anderen nicht zu nahetreten und treten daher bei dem leisesten Anklang von Widerstand den Rückzug an. Sie wissen nicht, wer sie sind, was sie empfinden, was sie vom Leben erwarten. In dieser Weise von sich selbst verunsichert, wird es ihnen unmöglich, anderen offen zu begegnen und zu lieben.

Auch wenn ich nicht zu der geschilderten Generation gehöre und mich auch nicht mit den Figuren identifizieren kann, lese ich Rooneys Romane doch gerne. Was ihr auch in diesem gelingt, ist es Ambiguitäten einzufangen, die die Figuren authentisch wirken zu lassen und eine dauerreflexive Innensicht auch wieder mit literarischen Ausflügen zu verbinden.

Lana Bastašić – Fang den Hasen


Lana Bastašić – Fang den Hasen

Ein Anruf katapultiert Sara aus ihrem Leben in Dublin zurück in ihre Kindheit und Jugend nach Bosnien. Einst waren sie und Lejla unzertrennliche Freundinnen, am ersten Schultag haben sie sich kennengelernt und selbst beim Studium noch die Bank geteilt. So gegensätzlich sie waren – Sara Tochter des Polizeichefs, immer eher zurückhaltend und nachdenklich, Lejla die Wilde aus der Familie mit zweifelhaftem Ruf – so eng war doch die Freundschaft. Ebenso zu Lejlas Bruder, der nur wenige Jahre älter für Sara der erste Kontakt zu einem Jungen darstellte. Bis Armin verschwand, wie so viele zur Zeit des auseinanderfallenden Jugoslawien. Doch nun ist er scheinbar in Wien und Lejla benötigt einen Fahrer, weshalb sie nach 12 Jahren Funkstille um Saras Hilfe bittet.

Lana Bastašićs Roman „Fang den Hasen“ wurde 2020 mit dem Literaturpreis der Europäischen Union ausgezeichnet. Dieser wird jährlich an aufstrebende Schriftsteller:innen verliehen und würdigt den Reichtum der zeitgenössischen Literatur sowie das kulturelle und sprachliche Erbe Europas. Obwohl die Autorin viele Jahre in Irland und auch Spanien lebte, erschien der Roman in bosnischer Sprache. Als Mitbegründerin des „3+3 sisters“ Projekts fördert sie Schriftstellerinnen des Balkans. Dort ist auch ihre Geschichte tief verwurzelt.

Das weiße namenlose Kaninchen, dem einst schon Alice in das Wunderland folgte, ist einer der wesentlichen Verbindungen zwischen Lejla und Sara. Immer wieder taucht der Hase und die Erinnerung an diesen bzw. auch dessen Nachfolger im Roman auf. Wie die andere literarische Mädchenfigur stößt auch Sara auf zahlreiche Türen, wenn auch in ihrem Gedächtnis, die sich nach und nach öffnen und all das, was sie viele Jahre vergessen glaubte, wieder hervorbringen.

Die Reise der beiden Freundinnen von Mostar nach Wien ist kein fröhlich-freudiges Wiedersehen. Eine hat sich davongemacht, im reichen Europa ein gutes Leben gefunden, während die andere zwischen den Trümmern des Balkankrieges über die Runden kommen muss. Konnten sie als Kinder noch über die Ungleichheiten und die Zugehörigkeit zu verschiedenen Volksgruppen hinwegsehen, war es für die jungen Erwachsenen nicht mehr möglich, die unterschiedlich verteilten Privilegien zu ignorieren.

Aus Sicht Saras wird die Begegnung mit der Vergangenheit geschildert. Dies ist notwendigerweise völlig subjektiv und wirft immer wieder auch Fragen auf – ist sie wirklich so unschuldig an der Situation, wie sie sich sieht? Sind ihre Erinnerungen korrekt oder hat sie sich etwas zusammengereimt, was für sie die günstigere Darstellung ist? Diese hindern sie jedoch nicht an einem humorvollen und oft ironischen Erzählton, der locker durch die Handlung trägt, auch wenn diese durchaus nachdenklich stimmende und hochpolitische Aspekte beinhaltet. Es ist kein harmloser Roadtrip, auf den sich beiden jungen Frauen begeben, dieser ist nur der Hintergrund, vor dem sich die Zerrissenheit einer ganzen Region offenbart.

Ein beachtenswertes Debüt, das unter einer lockeren Oberfläche einen tiefen Abgrund bereithält.

Naoise Dolan – Aufregende Zeiten

Naoise Dolan – Aufregende Zeiten

Nach dem Studium flüchtet Ava aus Dublin nach Hongkong, wo sie einen Job als Englischlehrerin annimmt. Was sie in ihrem Leben tun will, davon hat sie keinen Plan, ganz anders als Julian, der als Banker fest im Leben zu stehen scheint. Bald zieht sie bei ihm ein, von einer klassischen Beziehung kann jedoch keine Rede sein. Sie wohnt im Gästezimmer, was die beiden jedoch nicht von gemeinsamen Nächten abhält. Sie sind ein ungewöhnliches Paar, zwischen Nähe und Distanz, immer darauf bedacht, keine rote Linie des anderen zu übertreten, jedes Wort auf die Goldwaage legend und doch vermissen sie sich, wenn Julian auf Geschäftsreisen ist. Während einer solchen lernt Ava Edith kennen, die so anders ist, sich wirklich für Ava interessiert und alles von ihr wissen möchte. Zunehmend lässt Ava sie in ihr Leben, auch wenn ihr das Interesse und bald auch die Zuneigung der Juristin komisch vorkommen. Aber womöglich hat sie nur noch nie die Erfahrung von Liebe gemacht.

Unweigerlich ist man bei Naoise Dolans Debütroman auch an eine andere irische Autorin erinnert, die in den letzten Jahren für Furore gesorgt hat. Ebenso wie Sally Rooney schreibt Dolan über eine Generation von stark verunsicherten jungen Menschen, die sich nichts mehr als funktionierende Beziehungen wünschen, aber selbst mit dem passenden Partner eher einen gemeinsamen Tanz voller Verunsicherung aufführen, als sich gelassen dem hinzugeben, was geschieht.

Ava ist die Personifizierung des Twentysomething: sie wirkt unabhängig und willensstark nach außen, ihr Leben findet gleichermaßen online wie offline statt, Image muss immer in beiden Versionen des Lebens mitgedacht werden. Freundschaften drücken sich mehr durch die Likes und Klicks aus denn durch das gemeinsame Erleben. Gedanklich steckt sie derweil in endlosen Spiralen des Überdenkens fest, Spontaneität gibt es nicht mehr, da Worte Folgen haben und jede mögliche Deutung antizipiert werden muss, bevor es dann doch zu spät ist, noch auf etwas zu reagieren. Ironie und Zynismus gehören zum Kommunikationsrepertoire, sind jedoch gleichzeitig mit für die Distanzierung von den anderen verantwortlich, die die Figuren einsam macht.

Einerseits ist die 22-Jährige nicht immer leicht auszuhalten, man wünscht ihr eine gute Portion naive Sorglosigkeit, um frei von den Gedanken zu sein und das Leben genießen zu können. Andererseits hat ihr analytischer Verstand jedoch auf einer ganz anderen Ebene wiederum einen großen Reiz. Sprache dient ihr nicht nur als Mitteilungsmedium für Inhalte, sondern markiert auch Klasse. Sie als Irin mit bescheidenem Hintergrund unterscheidet sich dramatisch von Julian, der Eton und Oxford besuchte und mit seinem Job im Finanzsektor auch finanziell zum oberen gesellschaftlichen Ende zählt. Beide wiederum gehören als Expats des ehemaligen Kolonialherren in Hongkong zur Oberschicht, die in einer Parallelwelt lebt und nur im Dienstleistungsbereich Berührungspunkte mit den Einheimischen hat. So kommt es auch, dass die dramatischen politischen Ereignisse der Umbrella Bewegung vor Avas Tür stattfinden, ohne dass sie ernsthaft davon Notiz nehmen würde. Sie kann jedoch auch jederzeit das Land verlassen, irgendwo hingehen, wo sie ganz selbstverständlich alle Rechte in Anspruch nehmen kann. Sensibilität scheint nur in Bezug auf die eigene Person angezeigt, dann jedoch gleich in übersteigerten Maßen.

Avas Angst vor Zurückweisung, dem immerwährenden Gefühl nicht zu genügen, folgt eine Distanziertheit, die man auch als Leser spürt. Es fällt nicht leicht, Sympathie mit ihr zu empfinden und sich ihr zu nähern. Als Figur kann sie so überzeugen, ich hätte mir jedoch eine größere emotionale Eingebundenheit gewünscht.

Eine pointierte und scharfe Analyse einer Generation, deren globale Vernetzung nicht zu mehr Nähe, sondern zum genauen Gegenteil führt und deren Leben nur dann stattgefunden hat, wenn es auch mit schönen Bildchen dokumentiert und von möglichst vielen geliked wurde.

Louise O’Neill – Asking for it [dt. Du wolltest es doch]

Louise O’Neill – Asking for it

Emma O’Donovan hat trotz ihrer erst 18 Jahre ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Sie weiß, dass sie die Hübscheste ist, auf jeden Fall hübscher und begehrenswerter als ihre Freundinnen. Dank des Einkommens des Vaters, einem angesehenen Bankdirektor, kann ihre Familie auch ein finanziell entspanntes Leben führen, auch wenn andere in der Kleinstadt noch etwas vermögender sind, aber damit können sich die Töchter auch nur begrenzt Aussehen und Bewunderung erkaufen. Nach einer Party wacht Emma eines Nachmittags auf der Veranda auf, völlig benebelt und ohne jede Erinnerung an das, was am Abend zuvor geschehen ist. Doch es dauert nicht lange, bis sie auf den Social-Media-Kanälen alles dokumentiert findet: offenbar hat sie sich gleich mit mehreren Männern eingelassen, die alles dokumentiert haben. Emmas Ruf ist ruiniert, doch bald steht auch die Frage im Raum, ob sie all dem überhaupt zugestimmt hat.

Louise O’Neill lässt erst gar keine Zweifel aufkommen: ihre Protagonistin ist eine furchtbare Figur, der man bald schon nur das Schlimmste wünscht. Aber gleich sowas? Geschickt spielt sie mit den Emotionen der Leser, es fällt einem schwer, Mitleid zu empfinden für jemand, der sich derart verlogen und rücksichtslos auch gegenüber vermeintlichen Freundinnen verhält. Ihr Charakter ist geprägt von einem ausufernden Egoismus und Egozentrik, liebenswert ist kaum etwas an ihr.

Auch an dem Abend, der zu dem entscheidenden Ereignis führt, verhält sie sich nach gewohnten Mustern und manövriert sich selbst leichtsinnigerweise in diese Situation. Doch ist sie schuld an dem, was man ihr antut? Und sind die darauffolgenden Reaktionen des Umfeldes gerechtfertigt? Die ganze Familie erfährt Verachtung und Ausgrenzung, beschuldigt sie doch angesehene Jungs der Gemeinschaft und Emmas Verhalten ist hinlänglich bekannt. Es folgt der psychische Niedergang aller, eine logische Konsequenz, die jedoch faktisch die Opfer doppelt bestraft.

Man kommt als Leser emotional nicht ganz aus der Zwickmühle heraus. Manche Aspekte sind klar, die „boys will be boys“ Kultur, das Wegsehen und Leugnen offenkundiger Gewalttaten, doch gerade die Tatsache, dass die Opferperspektive nicht so eindeutig den Unschuldstouch hat, macht es einem schwer, Emma als das zu sehen, was sie ist und das Ereignis von ihrem Charakter und der Vorgeschichte zu lösen. Ein aufwühlender, aber lesenswerter Roman mit zudem unerwarteten Ende.

Kevin Barry – Beatlebone

Kevin Barry – Beatlebone

John Lennon begibt sich 1978 auf eine Insel westlich von Irland, um in der Einsamkeit wieder zu sich zu finden, um das, was er in einer Urschreitherapie gelernt hat, umzusetzen und sein künstlerisches Potenzial neu auszuloten. Der nahende 40. Geburtstag hat ihn in eine Sinnkrise versetzt, die ihm lähmt, abgeschieden von der Menschheit will er drei Tage mit innerer Einkehr verbringen. Doch sein Weg zur isolierten Destination ist voller Hürden, doch sein Fahrer Cornelius O‘Grady ist unerschrocken und mit dem notwendigen Stoizismus ausgestattet, das Abenteuer mit dem verzweifelten Beatle auf sich zu nehmen und diesen an sein Ziel zu führen.

Dorinish, die Insel, um die sich zunächst alles in dem Roman dreht, hatte John Lennon 1967 tatsächlich für einen lächerlich geringen Preis von 1550 Pfund erworben und ihr auch zwei kurze Stippvisiten abgestattet. Die beschwerliche Reise entwickelt sich als psychologischer Trip in die Tiefen von Lennons Seele, in der gerade viele Themen wüten:

„Was geht Ihnen durch den Kopf?

Schwer zu sagen.

Liebe, Blut, Schicksal, Tod, Sex, das Nichts, Mutter, Vater, (…)“

Lennons Zustand ist mehr als fragil, wiederholt drängt er darauf, dass er nur auf seine Insel und seine Ruhe haben will. Doch bis er dort ankommt, gilt es so einiges zu erdulden. Sein asketischer Lebensstil schützte ihn weder vor dem Nervenzusammenbruch noch vor der irischen Landbevölkerung. Doch was diese dem Sänger voraus hat, ist, dass sie die Erfahrung von Angst und Paranoia schon kennt. Cornelius ist der perfekte Konterpart, an dem Lennon sich abarbeitet, den er jedoch nicht kleinkriegt.

Das Buch hat gewisse Brüche, in einem Kapitel erläutert der Erzähler den Entstehensprozess des Romans, das Ende schildert die Entstehung des Albums „Beatlebone“, das durch Lennons mystische Inselerlebnisse inspiriert wurde, tatsächlich jedoch nie entstanden ist. Die experimentelle Struktur mag nicht jedem Leser gefallen, bei einem Avantgardisten wie Lennon als zentraler Figur, ist dies aber durchaus passend.

Kevin Barry ist ein begnadeter Autor, dem ein glaubwürdiger John Lennon kurz vor dem völligen Zusammenbruch überzeugend gelingt. Es benötigt vermutlich gerade diese Nähe zu einem gewissen Wahnsinn, um in dem Maße kreativ zu schaffen, wie es bei dem Beatle der Fall war. Sein Interesse an Esoterik und alternativen Weltsichten, ebenso wie die Experimentierfreude mit Drogen, sind hinlänglich beschrieben worden und lassen daher nicht verwundern, dass ein Mensch ebenso wie die Kunstfigur in einem regelrechten Malstrom von Gedanken gefangen ist und die Flucht aus diesem sucht.

Die Dialoge sind sprachlich brillant und oszillieren locker zwischen humorvoll und tiefgründig, ebenso die bisweilen bizarren Episoden im Pub und Hotel, die Lennon über sich ergehen lassen muss. Es ist keine biographische Erzählung, sondern eine fiktive Geschichte, die eines der ganz großen Genies der Musikgeschichte zurück auf den Boden holt, jenen der erbarmungslosen, ungezähmten irischen Küstenregion, die jedoch mit ihren Meeresrauschen und Höhlen ganz eigenes Inspirationspotenzial hat.

Ein herzlicher Dank geht an den Rowohlt Verlag für das Rezensionsexemplar. Mehr Infos zu Autor und Buch finden sich auf der Verlagsseite.

Dervla McTiernan – Todesstrom

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Dervla McTiernan – Todesstrom

Seiner Frau zuliebe gibt Cormac Reilly seinen Posten bei der Spezialeinheit in Dublin für den normalen Polizeidienst in Galway auf. Das Team ist feindselig und man überlässt ihm nur ungelöste Altfälle. Nur mit Danny, den er auf der Polizeischule kennenlernte, versteht er sich einigermaßen, aber auch der kann sich keinen Reim darauf machen, weshalb man Cormac so kaltstellt. Ein Selbstmord weckt Erinnerungen an einen Fall 20 Jahre zuvor: Cormac war dem nun verstorbenen junge Mann damals begegnet, als dieser noch ein Kind war und er ihn und seine Schwester Maud aus unsäglichen Verhältnissen holte. Scheinbar hat die Gewalterfahrung aus der Kindheit doch ihre Spuren hinterlassen. Aber so einfach ist der Fall nicht, vor allem will Maud nicht an diese Theorie glauben. Zwei Jahrzehnte war sie spurlos verschwunden, doch nun ist sie wieder in Galway. Besteht zwischen dem Tod ihres Bruders und ihrem plötzlichen Auftauchen etwa ein Zusammenhang?

Dervla McTiernan stellt gleich mit ihrem Debut unter Beweis, dass sie es mit den bekannten irischen Krimi Autoren aufnehmen kann und inzwischen auch bei uns bekannten Namen wie Adrian McKinty, John Banville/Benjamin Black, John Connolly oder Catherine Ryan Howard in nichts nachsteht. Nicht nur der Fall – oder besser die Fälle, die geschickt mit einander verwoben werden – hat es in sich, vor allem konnte die Autorin mich mit dem spannenden menschlichen Zusammenspiel innerhalb der Polizei überzeugen.

Obwohl Galway die sechstgrößte Stadt Irlands ist, erweckt der Handlungsort doch eher den Eindruck eines Dorfes oder einer Kleinstadt. Alle kennen sich und jeder weiß irgendein schmutziges Geheimnis des anderen. In diesem Umfeld ist es nicht leicht für Außenseiter Fuß zu fassen und das Vertrauen zu gewinnen. Mit seinem Erfolg in der Hauptstadt sind die Schwierigkeiten für Cormac umso mehr vorprogrammiert. Die Atmosphäre, die McTiernan erschafft, legt sich über die ganze Handlung, ein ungutes Gefühl, dass noch irgendetwas im Busch ist, vom dem Cormac nichts ahnt, das aber entscheidend sein wird, lässt einem nicht los.

Besonders positiv ist mir aufgefallen, wie widersprüchlich und vielschichtig die Frauenfiguren in diesem Roman erscheinen. Statt auf plakative Schablonen zurückzugreifen, hat die Autorin sehr interessante Persönlichkeiten geschaffen, die den spannenden Krimi deutlich bereichern. Die Handlung wird geschickt aufgebaut und die Spannung steigert sich kontinuierlich bis zum großen Knall.

Ein rundum überzeugender Auftakt für die Reihe um DI Cormac Reilly, bei dem die Autorin auf saubere Ermittlungen und nicht auf Technik oder Zufall bei der Lösung des Falles setzt.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. Mehr Informationen zu Autorin und Buch finden sich auf der Internetseite der Verlagsgruppe Random House.

Sally Rooney – Gespräche mit Freunden

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Sally Rooney – Gespräche mit Freuden

Mit einundzwanzig liegt die große Welt noch vor einem. So auch vor Frances, Litersturstudentin und angehende Schriftstellerin aus Dublin. Gemeinsam mit ihrer Freundin Bobbi tritt sie bei Poetry Slams auf, sie werden bewundert, bejubelt. Aber das ist nur wegen Bobbi, die sofort jeden verzaubert mit ihrer Schönheit und Offenheit. Neben ihr bleibt Frances blass, denkt sie. Als die Fotografin Melissa ihnen anbietet, ein Porträt über sie zu machen, öffnet sich eine neue Welt für die junge Frau aus bescheidenen Verhältnissen. Während die Uni in die Sommerpause geht, bewegen sich Bobbi und Frances sich plötzlich in der Welt der im Kunst- und Literaturbetrieb bereits Arrivierten. Scheu bewundert Frances diese Menschen, die sie um ihr Leben beneidet. Zurückhaltend und kühl erscheint sie, um ihre Unsicherheit und Selbstzweifel zu verdecken und doch interessiert man sich für sie, vor allem Nick, Melissas gutaussehender Ehemann, und völlig unvorbereitet wird Frances von ihren Gefühlen überrannt.

Die irische Autorin Sally Rooney gilt als der neue Star am Literaturhimmel, das Feuilleton bejubelt sie und ihr Debutroman war gleich für mehrere Preise nominiert. Man kann nur spekulieren, wie viel von ihrer Protagonistin Frances selbst in ihr steckt, viele Parallelen liegen auf der Hand und eines lässt sich ganz sicher sagen: sie ist eine der stärksten Stimmen ihrer Generation, und das, was sie mit ihrem Debut abliefert, schraubt die Erwartungen an die folgenden Werke hoch.

Einen Sommer und den Anfang des Herbstes begleitet die Geschichte Frances. Auch wenn die weiteren Figuren, Bobbi und vor allem auch das komplizierte Verhältnis von Melissa und Nick, durchaus auch viele interessante Aspekte liefern, so dreht sich doch allen nur um die Gedankenwelt der jungen Studentin. Viele Bücher gibt es, die die Unsicherheit einer jungen Frau, vor allem auch gegenüber älteren und selbstbewussteren Frauen, thematisieren. Rooney gelingt es aber insbesondere Frances‘ Gedankenstrudel einzufangen und dabei den Leser mitzunehmen. Man betrachtet sie nicht nur von außen, das Mädchen, das erst erwachsen werden und lernen muss, ihre Wirkung auf andere richtig einzuschätzen. Viel mehr hat man das Gefühl direkt in ihr zu stecken und die widersprüchlichen Emotionen mit ihr zu durchleben.

Es ist ein besonderer coming-of-age Roman, der insbesondere durch das Milieu ein ganz eigenes Flair entwickelt. Frances‘ Reflektiertheit steht ihr bisweilen im Weg, alles zu analysieren und zu hinterfragen, hält sie bisweilen vom Leben ab und treibt sie in einen gefährlichen Strudel. An dieser Stelle hat mich die junge Autorin ganz besonders überzeugt: ihr ist es gelungen, psychische Ausnahmezustände und auch manifeste Erkrankungen in einer ausgesprochen unaufgeregten Weise in die Handlung einzubauen, so dass diese nicht als Determinante der Figur erscheinen und diese dadurch nicht als bemitleidenswertes Opfer gezeichnet wird. Charakter und Persönlichkeit treten nicht hinter diese zurück, sondern nehmen sie als eine Facette auf.

Es genügen wenige Seiten und man wird von dem Sog, den der Roman entfaltet, mitgezogen. Ihr Stil ist ironisch bis metaphorisch und vor allem sehr reflektiert. Dazu bietet sie neben der Haupthandlung unzählige Themen und Denkanstöße, die die Breite ihres Repertoires nur noch weiter unterstreichen. Zweifelsfrei einer DER Romane 2019.

Ein herzlicher Dank geht an das Bloggerportal für das Rezensionsexemplar. mehr Informationen zu Autorin und Buch finden sich auf der Seite der Random House Verlagsgruppe.

Claire McGowan – Blackwater

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Zehn Jahre sind vergangen, seit Zoe tot aufgefunden wurde. Ihr Vater ist daran zerbrochen, ihre Mutter hat Blackwater verlassen und Paul hat seine Strafe für den Mord abgesessen. Doch jetzt taucht plötzlich eine junge Frau an Zoes Elternhaus auf und behauptet ebendiese Zoe zu sein. Wie kann das sein? Ihr Onkel und ehemaliger Polizist Phil hatte sie eindeutig identifiziert, ihr glitzerndes Partykleid, das sie zum Feiern an ihrem letzten Abend trug, war auch sehr ausgefallen, so dass eine Verwechslung ausgeschlossen war. Es dauert nicht lange, bis Zweifel an den damaligen Ermittlungen aufkommen, hatte man Paul zu schnell verurteilt und er unschuldig Jahre im Gefängnis gesessen? Stellt sich die Frage, wer die tote Frau dann war und wo Zoe in den letzten Jahren war.

Claire McGowan hat die Geschichte exklusiv für das Radioprogramm der BBC geschrieben, die bereits auch mehrere ihrer Romane für das Radio adaptiert hat. Die Handlung ist ausgesprochen kompakt und damit perfekt als Hörbuch, die Anzahl der Figuren bleibt überschaubar und auf Nebenhandlungen wird weitgehend verzichtet. Nichtsdestotrotz bietet die Story einiges an Spannung und kann durch eine clevere Konstruktion, die sauber aufgelöst wird, überzeugen.

Aktuell unter BBC Sounds noch zum Nachhören verfügbar.