Brandon Taylor – Real Life

Brandon Taylor – Real Life

Wallace ist Doktorand an einer vorwiegend von Weißen besuchten Universität im Mittleren Westen. Als Schwarzer aus Alabama hat er sich vom ersten Tag an als Außenseiter gefühlt, nicht nur im Labor, in dem er mit Nematoden arbeitet, sondern auch in seinem kleinen Freundeskreis. Er befindet sich an einem Scheideweg, stellt seine Arbeit in Frage, für die er scheinbar gänzlich ungeeignet ist und die ihm auch bei weitem nicht so wichtig ist wie seinen Mitdoktoranden, aber auch privat ist er unglücklich. Beziehungen sind schwierig, er hat eine Art Affäre mit Miller, der jedoch sein homosexuelles Dasein öffentlich leugnet. Zu dieser ungünstigen emotionalen Gemengelage kommt Wallace’ permanentes Gefühl, Rassismus ausgesetzt zu sein. Er hat diverse Erlebnisse, die ihn aufgrund seiner Hautfarbe klar in eine Schublade stecken und herabwürdigen, zugleich hat dies in ihm eine provokante Haltung befördert, mit der er aneckt und so wiederum neue Konflikte heraufbeschwört. Er wird zu einer tickenden Zeitbombe, es ist nur nicht klar, ob er explodieren oder implodieren wird.


„Eigentlich wollte er nicht die Universität verlassen, sondern sein Leben.“

Gerade von Vertreter:innen der queeren Scene in den USA ist Brandon Taylors Debütroman mit großer Begeisterung aufgenommen worden. Die Stärke von „Real Life“ liegt zweifelsohne in der Darstellung der Zerrissenheit und Isolation des Protagonisten. Der Autor überlagert verschiedene Narrative von Diskriminierung, indem Wallace sowohl als Schwarzer wie auch als Homosexueller und zudem aus einer sozial- wie finanzschwachen Familie stammt, ist er in vielerlei Hinsicht Außenseiter und Randfigur in seinem eigenen Leben. Auch für ihn selbst ist nicht immer eindeutig zuzuordnen, wogegen sich die Angriffe gerade richten, die er erlebt.

„Wallace räusperte sich. « Ich weiß würde nicht sagen, dass ich alles hinschmeißen will, aber ja, ich habe darüber nachgedacht. »

« Warum solltest du so was tun? Du weißt schon, bei den Aussichten für… für Schwarze? »“

Vom ersten Tag an ist die Universität nicht der befreiende Ort, den Wallace erwartet hatte. Immer wieder hat er Begegnungen, die wohlmeinend als unsensibel oder offengesagt als rassistisch einzuordnen sind. An seinen fachlichen Defiziten kann er arbeiten, aber irgendwann wird ihm klar, dass er nie passend sein wird für sein professionelles Umfeld, da er das Defizit Schwarzer zu sein, schlichtweg nicht ändern kann. Dies kann er ebenso wenig abstreifen wie seine Vergangenheit, die er hinter sich lassen wollte.

Die Schwierigkeiten, Vertrauen zu fassen und funktionierende Beziehungen zu führen, sind seiner Kindheit und den Erlebnissen zu jener Zeit geschuldet. Seine Eltern konnten ihm kein Vertrauen vermitteln, was seine Grundfähigkeit, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen und an das Gute zu glauben nachhaltig erschüttert ist. Zeigt er sich einerseits devot, immer bereit, seine Schuld einzugestehen, auch wenn es dafür keinen Grund gibt, kann er andererseits extrem provozieren und natürlich auch enttäuschen.

Wallace ist keine einfache, sympathische Figur. Seine destruktive Grundhaltung macht es schwer, einen Zugang zu ihm zu finden. Aber so wenig wie der Leser ist er in seinem Leben beheimatet und sicher. Man kann seine Perspektive vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen verstehen, auch wenn sie befremdlich sind, insofern öffnet der Autor eine fremde Welt für den Leser, deren Denkstrukturen vielfach näher an jener Wallace‘ Antagonisten sein dürfte. Sein Rückzug ist nachvollziehbar, zugleich jedoch auch ein Zeichen seines eigenen Egoismus und ein Stück weit auch der Verachtung, die er anderen gegenüber hegt: als nämlich seine asiatische Kollegin von ihren eigenen Rassismuserfahrungen berichtet, negiert er diese.

Ein Roman voller Emotionen, der bereichern wie auch abstoßen kann. Mit gutem Grund stand der Roman auf der Shortlist des 2020 Booker Prize, ein literarischer Beitrag zur hochaktuellen Diskussion.

Colum McCann – Apeirogon

Colum McCann – Apeirogon

Zwei Väter, Rami Elhanan und Bassam Aramin, die unzählige Gemeinsamkeiten haben. Beide haben sie eine Tochter verloren, beide leben sie auf demselben Fleckchen Erde, beide wollen den anderen verstehen, beide wollen Frieden. Doch es trennen sie auch Welten: Rami ist Israeli, Bassam Palästinenser. Ramis Tochter wurde bei einem hinterhältigen Selbstmordattentat getötet, Bassams Tochter durch die Waffe eines israelischen Soldaten. Sie können sich nicht gegenseitig besuchen, das verbietet das Gesetz und an Checkpoints wird dies kontrolliert. In der Organisation “Parents Circle“ treffen sich Eltern wie sie, die durch den Konflikt ihre Kinder verloren haben und nur einen Wunsch haben: dass nicht noch mehr Eltern dieses Martyrium erleiden müssen.

Colum McCanns Roman ist eine Mischung aus Fakt und Fiktion. Die beiden Väter und ihre Töchter sind real, jedoch nicht alle Gedanken und Ereignisse, die geschildert werden. Auch wird die Handlung durch zahlreiche Fakten ergänzt, die Lexikon-gleich das Geschilderte untermauern und auch versachlichen. Bevor es zu emotional wird, tritt man wieder einen Schritt zurück. Man bewegt sich immer wieder hin und her in diesem Spannungsfeld, das auch durch die 1000 Kapitel, die zunächst aufsteigend, dann absteigend nummeriert sind, unterstützt wird. Dieser Wechsel des Blickwinkels ist es auch, der schon im Titel festgeschrieben ist: ein „Apeirogon“ ist ein Vieleck mit einer gegen Unendlich gehenden Anzahl von Seiten. In der Nahaufnahme sieht man eine Linie und einen Winkel, aus der Ferne stellt sich die Figur jedoch womöglich ganz anders dar. So auch der Konflikt, der sich aus der Ferne zwischen zwei Staaten oder Völkern abspielt, aus der Nähe betrachtet jedoch das Schicksal einzelner Menschen besiegelt.

Es ist nicht leicht zu fassen und zu verstehen, was Bassam und Rami erleiden. Dies wird durch Schleifen und Wiederholungen angedeutet, die gleich dem Leiden und gedanklichen Kreise-Drehen um immer wieder dasselbe Ereignis funktionieren. Smadar und Abir kannten sich nicht, zwischen ihren Todestagen liegen zehn Jahre und doch wurden ihre Schicksale miteinander verbunden; sie stehen auf verschiedenen Seiten desselben ermüdenden Konflikts und beide haben als junge Mädchen völlig sinnlos ihr Leben gelassen.

„Damals fehlte mir das Bewusstsein, um es mir einzugestehen, aber verstehen Sie? Ich war Ende vierzig, und zum ersten Mal in meinem Leben begegneten mir Palästinenser als menschliche Wesen. (…) ich erkannte sie als Menschen, die die gleiche Last trugen wie ich, dasselbe Leid empfanden. Ihr Schmerz war mein Schmerz.“

Zwei Seiten des Nahostkonflikts, gespiegelt in einem einzigen Roman. Eine Geschichte über Gewalt und Leid, aber auch über Vergebung und Aufeinanderzugehen. Ein politischer Roman, der jedoch das persönliche Schicksal ins Zentrum rückt und zeigt, dass viel zu oft die Menschen vergessen werden, die hinter politischen Entscheidungen stehen, die diese ausbaden und unter ihnen leiden. Auch McCann liefert keine Lösung, aber Hoffnung darauf, dass ein Wille vorhanden nicht, nicht noch mehr Leid zu produzieren. Für mich einer der literarisch ausgereiftesten und inhaltlich bedeutsamsten Romane des Jahres.

Avni Doshi – Burnt Sugar

Avni Doshi – Burnt Sugar

Artist Antara has just been married when her mother Tara shows first signs of Alzheimer’s disease. With her mother losing her memory gradually, the daughter starts to remember what they both went through. The time when her father still lived with them, then, the time at an ashram where kids where more or less left to themselves while Tara was deeply in love with a guru, her time at a Christian, yet not so very philanthropic and humane, boarding school. As an adult, Antara learns that there are rules she is not aware of but which are highly important to others e.g. for her mother-in-law and which she better adhered to.

„I would be lying if I said my mother’s misery has never given me pleasure.“

Avni Doshi’s debut novel has been shortlisted for the 2020 Booker Prize, the first draft was written during a stay India and won the Tibor Jones South Asia Prize, all in all, it took her seven years to complete the book. The relationship between mother and daughter always remains the main focus of Antara’s thinking and her art since she is under a constant emotional pressure. Even though it is highly toxic, she cannot – of course – get rid of it.

The author’s observation and especially the way she describes the mother’s gradual memory loss are particularly striking. The contrast between tradition and a modern way of life, obviously present everywhere in India, is also powerfully depicted.

Having heard so much praise of the novel I really was looking forward to read it, yet, I struggled with the negativity. The relationship between mother and daughter, the mother’s neglect of her small child, the injustice Antara experiences again and again – it is not easy to endure. Maybe it just wasn’t the best time to read it – 2020 has offered by far enough negative news and after months of pandemic, who doesn’t slowly become depressed?

Anna Burns – Milchmann

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Anna Burns – Milchmann

In einer unbenannten Stadt zu einer undefinierten Zeit wird die Ich-Erzählerin zum Stalkingopfer des Milchmanns. Er ist nicht ihr Milchmann, eigentlich ist er niemandes Milchmann, aber unter diesem Namen kennt man ihn. Plötzlich ist er da, verfolgt sie, weiß scheinbar alles über sie. Obwohl bei den ersten beiden Begegnungen nichts passiert, läuft die Gerüchteküche heiß: das 18-jährige Mädchen hat sich mit einem verheirateten Mann Anfang 40 eingelassen. Wie kann sie nur, Schande bringt sie über ihre Familie und sie ist ein schlechtes Vorbild für die kleinen Schwestern. Nicht nur das Gerede, sondern das zunehmend aufdringliche Verhalten des Mannes setzen der jungen und eigentlich unabhängigen Frau mehr und mehr zu und sie kann sich kaum dagegen wehren, denn in der öffentlichen Meinung trägt sie die Schuld an ihrer Situation.

Anna Burns Roman hat 2018 den renommierten Man Booker Prize erhalten. Die Jury begründete ihre Entscheidung mit Burns‘ außergewöhnlichen Erzählweise, in der sie eine Stadt im Kriegszustand schildert, dem Hintergrund, vor welchem die Protagonistin erwachsen wird, die sozialen Spannungen der oppositionellen Gruppen erlebt und zum Opfer sexueller Bedrängung wird. Auch Burns Humor wird hervorgehoben – wie auch von vielen Kritikern – dies ist jedoch völlig an mir vorbeigegangen, humorvoll fand ich wenig, ganz im Gegenteil.

Der Milchmann, der gar keiner ist, ist die einzige Figur, die einen Namen erhält, alle anderen werden über den Verwandtschaftsgrad identifiziert. Das Geschilderte könnte jedem passieren, zumindest jedem in Belfast zu Zeiten der Troubles. Auch wenn die Stadt nicht namentlich genannt wird, geht doch eindeutig aus dem Text hervor, dass es sich hier um den Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten und der englischen Besatzungsmacht handelt. Der Verlauf der Front ist geografisch wie sozial klar erkennbar und nur gelegentlich darf die Grenze überschritten und die politischen Auseinandersetzungen vergessen werden.

Gewalt ist omnipräsent im Leben der Erzählerin und so ist sie über Prügel, die jemand bezieht, ebenso wenig verwundert wie über die Waffe, die man ihr an die Brust hält oder die Drohung, dass ihr Liebhaber durch eine Autobombe getötet werden könnte. In jeder Familie gibt es Opfer des Konflikts zu beklagen, Märtyrer, denen man huldigt. Aber die Gewalt ist anders als an anderen Orten:

„Gewöhnliche Morde waren unheimlich, unbegreiflich, genau die Morde, die hier nicht passierten. Die Leute wussten nicht, wie sie so etwas beurteilen, wie sie es einordnen, wie sie einen Diskurs darüber anfangen sollten, weil es hier eben nur politische Morde gab. ‚Politisch‘ deckte dabei natürlich alles ab, was im weitesten Sinne mit der Grenze zu tun hatte.“

Der Alltag wird von den Unruhen bestimmt und ebenso wie jeder Bürger eine klare Position vertritt, die qua Geburt festgelegt ist, kann er sich auch nicht entziehen.

„Schlussendlich gab man von Staatsseite zu, dass man bei der Verfolgung der richtigen Leute versehentlich ein paar falsche abgeschossen habe, dass Fehler gemacht worden seien, was bedauerlich sei, aber man müsse die Vergangenheit hinter sich bringen, und es habe keinen Zweck, darauf herumzureiten.“

Das Vertrauen in den Staat und staatliche Institutionen könnte kaum geringer sein, nicht einmal medizinisch notwendige Versorgung nehmen die Menschen aus Sorge vor möglichen Folgen in Anspruch. Selbst private Angelegenheiten wie das Stalking des Milchmanns wird zur politischen Angelegenheit.

Der Roman ist in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Der Verzicht auf Namen irritiert zunächst, macht in der Gesamtschau jedoch Sinn. Die Perspektive der Protagonistin ist zwar begrenzt, verdeutlicht aber umso mehr, wie sie unschuldig zum Opfer wird und keinerlei Möglichkeit hat, sich zu wehren und wie wenig Glauben ihr selbst ihre eigene Familie entgegenbringt.

Der Kontext der Handlung, eine geteilte Stadt, in der jeder permanent in Alarmbereitschaft ist und der Tod normaler Bestandteil des Alltags ist, ist kaum vorstellbar, aber wenn auch in Nordirland glücklicherweise nicht mehr Realität, doch an vielen anderen Orten die Lebenssituation vieler Menschen, die sich irgendwie damit arrangieren.

Man muss sich auf den Roman einlassen und einlesen, keine Geschichte, in der man sich direkt zurechtfindet, aber unter der Oberfläche mit vielen interessanten Aspekten, die zum Nachdenken anregen.

Bernardine Evaristo – Girl, Woman, Other

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Bernardine Evaristo – Girl, Woman, Other

Twelve different women, twelve different fates. Bernardine Evaristo was awarded the Man Booker Prize 2019 for her novel which does not have a real plot with an all-embracing story but for each of the main characters offers a short insight in their life often at crucial turning point. Their stories overlap, are often cleverly intertwined. What they share is the fact that they address fundamental topics: first of all, I’d say “Girl, Woman, Other“ is a feminist novel since the cause of the woman in modern England, mostly the black woman, is the central topic. Apart from this, relationships, sexuality and gender identity are tackled as well as politics and what it means to be successful.

“His bredren and sistren could damned well speak up for themselves. Why should he carry the burden of representation when it will only hold him back? White people are only required to represent themselves, not an entire race.”

What does it mean to be different? To be black or brown in a predominantly white community. To be homosexual or gender fluid in a primarily heterosexual society. To be a working woman when women are supposed to stay at home to take care of the children and the household. Even when the point of disdain has been overcome, the problems and strange reactions have not necessarily and quite often, the singular example who enters a new community has to represent a whole group and loses his or her individuality.

What the characters unites is to differ from the mainstream which does not go unnoticed and uncommented. Most of them go through a tough time which leaves them stronger and makes it easy to empathise with them. The characters are complex, their lives are complicated and at the end of their chapter, they are not the same person they were at the beginning. Which also offers the reader the chance to leave their stand point and to change perspective on certain topics.

The novel is full of life and with the award, the spotlight has been turned on to black female and queer literature which have been awfully underrepresented in literary discussion. This is surely one of the strongest novels of 2019 since it contributes to the ongoing public discourse.

Daisy Johnson – Everything Under

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Daisy Johnson – Everything Under

Gretel does not grow up like other kids do. Her mother is different, they live on a boat, stop here and there and they even invent their own language. After the mother’s sudden disappearance, Gretel is left on her own devices and has to find a place in the world. The early fascination for words quite naturally makes her a lexicographer, a very lonesome job in which she updates dictionary entries. Even though she hadn’t been in contact with her mother for more than sixteen years, she hasn’t forgotten her and always feared that she might be the person behind a newspaper article about a fatal accident. When they are re-united, also the long lost memories of their former time together come back.

Daisy Johnson’s debut novel is nominated on the Man Booker Prize 2018 longlist, itself already an honour, but even more so for an author at the age of only 28. It only takes a few pages into the novel to see why it easily could persuade the judges: it is wonderfully written, poetic and shows a masterly use of language:

 

“I’d always felt that our lives could have gone in multiple directions, that the choices you made forced them into turning out the way they did. But maybe there were no choices; maybe there were no other outcomes.”

Gretel’s has never been easily and having found her mother, seriously marked by her illness, doesn’t make it easier since she will never get answers but has to live with how her life turned out.

What I found most striking was how Daisy Johnson easily transgresses boundaries in her novel: being female or male – does it actually matter? If you call a person Marcus or Margot, it’s just the same, you immediately recognize the person behind the label. Sarah and Gretel live on the water and on land, they blend in nature and don’t see a line between man and animal or plants, it’s just all there. The language itself also doesn’t know any limits; if need be, create new words to express what you want to say. And there is this creature, a fantastic being that can also exist either in Sarah’s mind or in this novel where so much is possible.

Just like Gretel and her brother Hansel who were left in the woods but managed to find a way out, Gretel follows the crumbs to her mother, retraces the journey they did when she was young and with the help of the people she meets, tries to make sense of her own and especially her mother’s life.

The structure is demanding since it springs backwards and forwards which I found difficult to follow at times. But the language’s smoothness and virtuosity compensate for this exceedingly.

Deborah Levy – Heiße Milch

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Deborah Levy – Heiße Milch

Sofia fliegt mit ihrer Mutter nach Spanien, um dort in einer Spezialklinik endlich die richtige Therapie für sie zu erhalten. Immer wieder kann die Mutter ihre Beine nicht spüren, benötigt permanent Hilfe und erwartet von Sofia, genau diese zu liefern. Dr. Gomez‘ Klinik scheint allerdings unkonventionelle Behandlungsmethoden zu haben, was auch ein junger Mann bestätigt, den Sofia beim Schwimmen am Strand kennenlernt. Dieser lebt, ebenso wie die Deutsche Ingrid, sein Leben nach eigenen Maßstäben und lässt sich nichts vorschreiben. In Sofia beginnen die Gedanken sich zu drehen, ist die Krankheit ihrer Mutter nur eine Reaktion auf den Vater, der sie schon vor vielen Jahren verlassen hat? Bindet die Mutter sie so an sich und verhindert, dass sie endlich ihr Leben beginnt?

Ich hatte große Erwartungen an Deborah Levys neuesten Roman. Zum einen konnten mich ihre vorherigen Romane „Was ich nicht wissen will“ und „Heim schwimmen“ vollends überzeugen, zum anderen war „Heiße Milch“ 2016 auf der Shortlist des Man Booker Prize, wo ich normalerweise immer mich ansprechende Literatur finde. Dieses Mal jedoch empfand ich die Geschichte etwas zäh und langatmig.

Aus psychologischer Siecht hat der Roman einiges zu bieten, was interessante Figuren und Konflikte verspricht: die Erkrankung der Mutter, die offenkundig nicht rein physischer Natur ist und maßgeblich die Mutter-Tochter-Beziehung bestimmt. Die junge Frau, die planlos durch ihr Leben irrt und trotz Hochschulabschluss ihren eigenen Weg nicht findet, sich schnell zu extremen hingezogen fühlt, aber doch weitgehend passiv verharrt. Ihr Vater, zu dem sie seit über 10 Jahren keinen Kontakt mehr hat, der ihr als Grieche in England die zweite Sprache verwehrt hat so dass sie zwar einen griechischen Namen trägt, aber offenbar keine Verbindung zu diesem Land hat. Dann noch die Randfigur Ingrid, die Sofia fasziniert, die selbst jedoch auch eine Vorgeschichte hat, die wiederum ihr eigenes Leben maßgeblich prägte.

Die Atmosphäre des Romans ist dauergespannt. Die Figuren haben keine angemessene und lockere Art gefunden, um miteinander umzugehen. Sie beobachten sich, ja taxieren sich geradezu. Dieses Spannungsverhältnis wird zu einem beängstigenden Höhepunkt geführt, der jedoch endlich alles löst. Das Setting – einerseits im krisengeplagten Andalusien, wo die Gebäude wegen der Krise halbfertig verlassen wurden, später bei einem kurzen Intermezzo in Griechenland, wo die Lage sich noch schlimmer darstellt – ist passend gewählt zur Stimmung der Figuren.

Ohne Frage ist vieles in diesem Roman sehr stimmig und interessant, aber der Funke ist bei mir nicht übergesprungen. Ob es allein an der Form als Hörbuch lag, vermag ich nicht zu sagen. Svenja Pages hatte ich bislang nicht als Sprecherin gehört, sie war ein bisschen zu wenig moduliert, aber nicht in dem Maße, dass es sich beim Hören als störend gezeigt hätte.

Colson Whitehead – Underground Railroad

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Colson Whitehead – Underground Railroad

Georgia, Anfang des 19. Jahrhunderts. Cora lebt als Sklavin auf der Randall Farm, dort ist sie geboren, etwas anderes als die harte Arbeit und die schrecklichen Strafen kennt sie nicht. Ihrer Mutter ist vor Jahren die Flucht geglückt, was das Leben für Cora nicht einfacher macht. Nachdem sie sich einer Gruppe Männer erfolgreich zur Wehr gesetzt hat, gehört sie zu den ausgestoßenen Frauen, was ihr aber die Möglichkeit eines halbwegs friedlichen Lebens eröffnet. Als Caesar sie zum ersten Mal wegen einer möglichen Flucht anspricht, lehnt sie ab. Schon ihre Großmutter hatte das zugeteilte Schicksal widerspruchslos ertragen. Doch die Situation auf der Farm ändert sich und so stimmt Cora schließlich doch zu, auf das geheime Netzwerk der Underground Railroads zu vertrauen und die gefährliche Flucht zu wagen. Die nächsten Monate wird sie in Angst leben, mal mehr mal weniger, weite Teile der USA kennenlernen, von Freiheit träumen und doch immer wieder an ihre Herkunft erinnert werden. Wird die junge schwarze Frau jemals dem ihr zugeschriebenen Los endgültig entkommen können?

Colson Whiteheads Romane wurden vielfach mit Preisen ausgezeichnet und mit Lob überhäuft. „Underground Railroad“ konnte jedoch alle vorherigen weit übertreffen. Es wurde zwar schon dadurch geadelt, dass President Obama es als Sommerlektüre 2016 benannte, erhielt danach den National Book Award Fiction 2016, die Carnegie Medal for Excellence in Fiction 2017, den Pulitzer Prize for Fiction 2017, den Arthur C. Clarke Award 2017 und stand auf der Longlist des Booker Prize 2017. Sich einem solchen Roman unvoreingenommen zu nähern, ist quasi unmöglich, aber die Messlatte liegt auch hoch und kurzgefasst resümiert: locker übertrifft der Roman die Erwartungen.

Zunächst zum titelgebenden Phänomen der Underground Railroads. Diese unterirdischen Züge existierten tatsächlich und waren ein Netzwerk geheimer Routen und sicherer Häuser, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Abolitionisten geschaffen wurden, um Sklaven bei der Flucht zu helfen. Dabei riskierten die Helfer ihr Leben, was man im Roman auch leider immer wieder erleben muss. Die Strafen für sie waren drakonisch, das wussten sie, und dennoch haben sie das Risiko für diese Sache auf sich genommen. In der Geschichte der USA ist dieses Thema für mein Empfinden nur wenig präsent, umso erfreulicher, dass ein Roman es schafft, in der breiten Öffentlichkeit einen Aspekt der Sklaverei bekannt zu machen und so einen wesentlichen Beitrag zur historischen Bildung beizutragen.

Der Roman lebt jedoch von der Protagonistin Cora. Sie hat einen großen Überlebenswillen, kann beherzt reagieren, wenn erforderlich, ist jedoch auch sehr bedacht in ihrem Handeln. Sie ist kein bedauernswertes Opfer, sondern eine starke Persönlichkeit, die zukunftsorientiert und wissbegierig ihren Weg geht und Rückschläge tapfer verkraftet. Ihr Leben ist ein kontinuierliches Auf und Ab, geschenkt wird ihr nichts, nur manchmal ist das Glück auf ihrer Seite – aber es ist ein volatiles Gut. Gerade für einen historischen Zeitpunkt, der doch sehr stark männerdominiert war, insbesondere auch bei den Weißen, eine Frau, die mutig ihren Weg geht, als Protagonistin auszuwählen, hat mir insbesondere gefallen.

Colson Whitehead und dem Übersetzer Nikolaus Stingl gelingt es auch einen passenden Ton für die Erzählung zu finden. Bisweilen brutal in der Darstellung der Bestrafung der Sklaven schafft dies aber die notwendige Authentizität, die den Roman lebendig wirken lässt. Ähnlich wie Coras Leben mal hektischer und mal in ruhigeren Bahnen verläuft, ist auch der Erzählton angepasst und findet so einen stimmigen Rhythmus.

„Underground Railroad“ ist vermutlich einer der wichtigsten Romane des Jahrzehnts, der völlig zurecht in den Kanon der amerikanischen Literatur eingehen dürfte und sollte. Es wäre ein Verlust, wenn man sich dieses Werk entgehen lassen würde.

Mehr Informationen zu Buch und Autor finden sich auf der Seite des Hanser Verlags.

José Eduardo Agualusa – Eine allgemeine Theorie des Vergessens

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José Eduardo Agualusa – Eine allgemeine Theorie des Vergessens

Ludovica, eine etwas schräge und menschenscheue junge Frau, lebt mit ihrer Schwester Odete und ihrem Schwager Orlando in Angola. Als die Revolution ausbricht und der Orlando die Flucht für alle drei plant, wird sie offenbar irgendwie vergessen. Wenige Tage später bedrohen sie Männer an der Tür, Orlando habe Diamanten, die er illegal erworben habe, in der Wohnung versteckt. Im Handgemenge tötet Ludovica einen von ihnen. Die Leichte beseitigt sie kurzerhand in einem Beet auf der Dachterrasse und, um nicht weiter von unliebsamen Besuchern gestört zu werden, mauert sie auch noch die Eingangstür zu. Dreißig Jahre wird sie nun im 11. Stock eines Hauses sitzen, sich von Vorräten und kleiner Ernte, sowie Tauben, die sie gelegentlichen einfängt, ernähren. Das Leben in Angola geht derweil seinen Weg, ohne dass sie davon etwas mitbekommt. Einige kommen zu Geld, andere versuchen auf der Straße zu überleben. Doch es kommt der Tag, an dem die Welt plötzlich in Ludovicas selbstgewählte Isolation einbricht.

Der angolanische Autor José Eduardo Agualusa hat ein fantastisches Werk geschaffen, das nicht ganz den typischen europäischen Erzählmustern folgt. Was als Drehbuch für einen Film seinen Anfang nahm, endete in einem wundersamen Roman, der 2016 auf der Shortlist des Man Booker International Prize stand und den angesehenen International Dublin Literary Award 2017 erhielt und sich dort gegen angesehene Autoren wie Margaret Atwood oder Orhan Pamuk durchsetzte.

Im Zentrum der Handlung steht Ludovica, deren Charakter zunächst seltsam bis widersprüchlich erscheint. Einerseits auf die Unterstützung von Schwester und Schwager angewiesen, zeigt sie sich doch pragmatisch-anpackend als es um ihr Überleben geht. Wie sie sich ihre eigene kleine Welt schafft, ist kurios bis bewundernswert. Einfallsreich löst sie ihr Versorgungsproblem, mit wiederkehrenden Strom- und Wasserausfällen geht sie gelassen um. Der Kontakt zur Außenwelt scheint ihr nicht weiter wichtig zu sein, erst als ein Junge in ihre Wohnung eindringt, spricht sie nach dreißig Jahren erstmals wieder mit einem Menschen. Was zu diesem Charakter geführt hat, erfährt man erst gegen Ende des Romans und ihr persönliches Schicksal erscheint nicht ganz in einem anderen Licht, aber doch erklärlich.

Um sie herum konstruiert Agualusa zahlreiche Nebenhandlungen, die ebenfalls von bunter Natur sind und bisweilen fast slapstickartige Züge haben. Ein starker Kontrast zur Isolation, der aber vermutlich das rege Treiben der Hauptstadt sehr gut darstellt. Man trifft Figuren, die Glück haben, andere haben Pech, manche sind clever, wieder andere werden Opfer des Schicksals. Es werden Lügen erzählt und wieder aufgelöst – kurz gesagt: das weltliche Treiben in allen Facetten findet Eingang, ohne dass sich die Logik und Verbindung zur Protagonistin direkt offenbaren würde. Aber hier kommt die Kunst des wahren Erzählers zum Vorschein: Agualusa führt alle noch so verschlungenen Wege zusammen und die Notwendigkeit, diese zunächst nebensächlich erscheinenden Geschichten zu erzählen, wird offenkundig. Eine ganz und gar fantastische Lösung.

Allerdings ist es nicht nur die faszinierende Persönlichkeit Ludovicas und die formvollendete Zusammenführung aller Erzählstränge, die einem beim Lesen begeistert. José Eduardo Agualusa findet treffende Formulierungen, in denen kein Wort zu viel ist und die punktgenau die Realität einfangen. Hier gehört dem Übersetzer Michael Kegler ein großes Lob. Daneben gibt es kurze Szenen, die nur wenige Sätze umfassen, die einem als Leser stocken lassen, ob der unglaublichen Grausamkeit, die sie in sich tragen. An diesem Stellen wir einem besonders bewusst, dass man sich in einem afrikanischen Land aufhält und unsere Werte und Normen vielleicht nicht anwendbar sind. Diese Brüche, die einem zum Nachdenken zwingen, machen den Unterschied zwischen einem unterhaltsamen Buch und bemerkenswerter Literatur.

Deborah Levy – Heim schwimmen

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Deborah Levy – Heim schwimmen

Es soll nur eine Woche erholsamer Urlaub an der Côte d’Azur werden. Der Autor Jozef, seine Ehefrau und Journalistin Isabel sowie deren 14-jährige Tochter Nina. Das Haus teilen sie sich mit ihren Freunden Laura und Mitchell. Schon bei der Ankunft droht Ungemach, im Pool treibt ein scheinbar lebloser Körper, der sich jedoch dann als ausgesprochen lebendige junge Frau herausstellt. Aus einem später nicht mehr nachvollziehbaren Impuls heraus lädt Isabel Kitty Finch ein, das noch freie Schlafzimmer zu nutzen. Isabel ahnt, dass dies der letzte Tropfen ist, der ihrer Ehe noch fehlt, um sie endgültig scheitern zu lassen. An allen Krisenherden der Welt ist sie präsent, während zu Hause ihr Mann das Bett mit anderen Frauen teilt und sich ihre Tochter zunehmend entfremdet. Ihre Freundin Laura ist ihr in diesem Moment auch keine Hilfe, steht diese ebenfalls vor einem Scherbenhaufen: das gemeinsame Geschäft ist pleite und sie und Mitch werden ihr Haus veräußern müssen. Keine guten Voraussetzungen für erholsame Ferien.

Deborah Levys Roman hat es 2012 bis auf die Short List des Man Booker Prize geschafft und wurde allseits für seine präzise Zeichnung von Figuren gelobt, die allesamt vom Leben enttäuscht oder frustriert sind und in eine ungewisse Zukunft blicken. Insbesondere Isabel wird sich der fragilen Lage bewusst, in der sie sich innerhalb des Familiengefüges und des Londoner Zuhauses befindet:

„In ihrem Haus in London war sie eine Art Gespenst. Wenn sie aus irgendeinem Kriegsgebiet zurückkehrte und feststellte, dass in ihrer Abwesenheit die Schuhcreme oder die Glühbirnen einen neuen Aufbewahrungsort erhalten hatten, in der Nähe, aber eben nicht genau dort, wo sie sonst immer gewesen waren, dann wurde ihr klar, dass auch sie keinen festen Platz im Haus der Familie hatte.”

Das Idyll der Kleinfamilie existiert nicht mehr. Vielleicht hat es dieses nie gegeben, trotzdem scheint die Verbindung zwischen ihr und Joe nicht gänzlich abgerissen, wie Tochter Nina erstaunt feststellt. Die kleinen Veränderungen sind es, die die Figuren letztlich völlig aus der Bahn werfen. Nachdem Joe – wie von Isabel schon zu Beginn prophezeit – mit Kitty geschlafen hat, stellt er fest:

„Alles war wie vorher, nur ein klein wenig anders.”

Dass dieses „klein wenig“ aber genau das ist, was ihm bislang an Mut gefehlt hat, wird erst einen Moment später klar. Deborah Levy benötigt nicht viele, ausschweifende Worte, um das Unglück ihrer Figuren auf den Punkt zu bringen und entwickelt so einen sehr eingängigen, eigenen Stil.

Ein kurzer Roman, in der Sommerhitze der Mittelmeerküste angesiedelt und somit perfekt für heiße Tage. Ein wenig hat er mich an Ali Smith „The Accidental“ erinnert, der mit einem ähnlichen Grundszenario spielt und bereits 2005 bis auf die Short List des Man Booker Prize vorgedrungen war.