Wolfgang Kaes – Das Lemming-Projekt

Wolfgang Kaes – Das Lemming-Projekt

Die andalusische Provinz hat sich von der großen Immobilienkrise 2008 nie wirklich erholt. Die jungen Menschen ziehen entweder weg oder müssen sich mit gering bezahlten Jobs unter ihrer Qualifikation begnügen. So auch der Historiker Alejandro, der in einem IT Unternehmen online Content durchsucht und alles löscht, was unter Hass, Gewalt oder Pornografie fällt. Sie alle arbeiten dort im Akkord, doch eine seiner Kolleginnen scheint zunehmend unter der Arbeit zu leiden; sie erhält, genauso auch Alejandro, immer wieder verstörende Bilder, die sich persönlich betreffen. Bei Alejandro ist es ein Foto, das er als Kind zu Hause gesehen hat. Als Maria sich das Leben nimmt, beginnt er nachzuforschen und stößt dabei nicht nur auf ein gut gehütetes Familiengeheimnis, sondern auf die Verwicklung von staatlichen Institutionen, Kirche und einer nebulösen Untergrundorganisation, die als Reconquista 2.0 das vermeintlich von Ausländern übersäte und unter einer jüdischen Weltelite leidende Land zurückerobern möchte.

Der Journalist Wolfgang Kaes ist für seine intensiven Recherchen bekannt, mit denen er bereits mehrere ungelöste Fälle aufklären konnte. Immer wieder legt er auch mit seinen Büchern den Finger in Wunden und verbindet so spannende Unterhaltung mit journalistischer Arbeit und Aufklärung. Auch sein aktueller Thriller fügt sich in dieses Schema und greift gleich mehrere heiße Eisen an: die zweifelhafte Rolle der katholischen Kirche unter Franco, die scheinbar bis heute lieber unter den Teppich gekehrt als aufgeklärt wird; im politischen Spektrum eher rechts angesiedelte Bewegungen, die mit gezielter Propaganda nach schlichten Gemütern suchen, die auf ihre simplen Erklärungsmuster hereinfallen und sich leicht instrumentalisieren lassen; die Macht der Internet-Konzerne, die mit ihren Algorithmen steuern, was die Massen zu sehen bekommen und so nicht unwesentlich die öffentliche Stimmung beeinflussen und eine neue Macht darstellen – all dies vor dem Hintergrund der prekären Situation junger Spanier, die gerade in den provinziellen Gebieten kaum mehr Zukunftschancen haben.

„Das Geheimnis des Facebook-Erfolgs ist die Sehnsucht der Menschen nach Aufmerksamkeit und Anerkennung. Auch Sehnsucht kann eine Sucht sein. Weltweit erliegen ihr rund 2,7 Milliarden Nutzer, die wie die Lemminge ein paar Meinungsführern und Heilsbringern hinterherhecheln.“

Alejandro weiß wenig über die Firma, für die er arbeitet, auch seine Kollegen kennt er kaum, die Vorgaben sind strikt und der Druck ist groß. Er ist ein moderner Sklave, der sich ob mangelnder Alternativen fügen muss. Seine Arbeit wird eigentlich in dritte Welt-Ländern erledigt, wo Arbeitskräfte willig und billig sind, so weit ist es inzwischen mit Spanien auch gekommen. An wen er bei CleanContent bzw. dem Mutterkonzern ThinkContent geraten ist, ahnt er noch nicht.

Doch mindestens genauso zweifelhaft ist die „Fromme Bruderschaft der Heiligen Agatha“, die als Wohltäter in der Öffentlichkeit auftritt und sich verlorener Kinderseelen annimmt, nur um diese in ihren Erziehungsanstalten gefügig zu machen, zu quälen und zu missbrauchen. Doch wer würde die bescheidenen Kirchenmänner hinterfragen, die sich ganz in den Dienste Gottes gestellt haben?

Viel spanische Geschichte findet Eingang in den Thriller, belegt aber auch, dass sich manches strukturell immer wieder wiederholt, lediglich die Medien sind andere. Und dass es einzelne mutige Menschen braucht, die sich dem Treiben entgegenstellen, für Werte wie Gerechtigkeit einstehen und bereit sind, ihr eigenes Leben für die Wahrheit und das Ende des Schweigens zu riskieren. Einmal mehr eine perfekt orchestrierte anspruchsvolle Lektüre, die thematisch komplex und dennoch spannungsreich gestaltet ist.

Deborah Levy – Heiße Milch

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Deborah Levy – Heiße Milch

Sofia fliegt mit ihrer Mutter nach Spanien, um dort in einer Spezialklinik endlich die richtige Therapie für sie zu erhalten. Immer wieder kann die Mutter ihre Beine nicht spüren, benötigt permanent Hilfe und erwartet von Sofia, genau diese zu liefern. Dr. Gomez‘ Klinik scheint allerdings unkonventionelle Behandlungsmethoden zu haben, was auch ein junger Mann bestätigt, den Sofia beim Schwimmen am Strand kennenlernt. Dieser lebt, ebenso wie die Deutsche Ingrid, sein Leben nach eigenen Maßstäben und lässt sich nichts vorschreiben. In Sofia beginnen die Gedanken sich zu drehen, ist die Krankheit ihrer Mutter nur eine Reaktion auf den Vater, der sie schon vor vielen Jahren verlassen hat? Bindet die Mutter sie so an sich und verhindert, dass sie endlich ihr Leben beginnt?

Ich hatte große Erwartungen an Deborah Levys neuesten Roman. Zum einen konnten mich ihre vorherigen Romane „Was ich nicht wissen will“ und „Heim schwimmen“ vollends überzeugen, zum anderen war „Heiße Milch“ 2016 auf der Shortlist des Man Booker Prize, wo ich normalerweise immer mich ansprechende Literatur finde. Dieses Mal jedoch empfand ich die Geschichte etwas zäh und langatmig.

Aus psychologischer Siecht hat der Roman einiges zu bieten, was interessante Figuren und Konflikte verspricht: die Erkrankung der Mutter, die offenkundig nicht rein physischer Natur ist und maßgeblich die Mutter-Tochter-Beziehung bestimmt. Die junge Frau, die planlos durch ihr Leben irrt und trotz Hochschulabschluss ihren eigenen Weg nicht findet, sich schnell zu extremen hingezogen fühlt, aber doch weitgehend passiv verharrt. Ihr Vater, zu dem sie seit über 10 Jahren keinen Kontakt mehr hat, der ihr als Grieche in England die zweite Sprache verwehrt hat so dass sie zwar einen griechischen Namen trägt, aber offenbar keine Verbindung zu diesem Land hat. Dann noch die Randfigur Ingrid, die Sofia fasziniert, die selbst jedoch auch eine Vorgeschichte hat, die wiederum ihr eigenes Leben maßgeblich prägte.

Die Atmosphäre des Romans ist dauergespannt. Die Figuren haben keine angemessene und lockere Art gefunden, um miteinander umzugehen. Sie beobachten sich, ja taxieren sich geradezu. Dieses Spannungsverhältnis wird zu einem beängstigenden Höhepunkt geführt, der jedoch endlich alles löst. Das Setting – einerseits im krisengeplagten Andalusien, wo die Gebäude wegen der Krise halbfertig verlassen wurden, später bei einem kurzen Intermezzo in Griechenland, wo die Lage sich noch schlimmer darstellt – ist passend gewählt zur Stimmung der Figuren.

Ohne Frage ist vieles in diesem Roman sehr stimmig und interessant, aber der Funke ist bei mir nicht übergesprungen. Ob es allein an der Form als Hörbuch lag, vermag ich nicht zu sagen. Svenja Pages hatte ich bislang nicht als Sprecherin gehört, sie war ein bisschen zu wenig moduliert, aber nicht in dem Maße, dass es sich beim Hören als störend gezeigt hätte.