Sofi Oksanen – Hundepark

Sofi Oksanen – Hundepark

Im Hundepark in Helsinki sieht sie sie zum ersten Mal nach vielen Jahren wieder. Olenka dachte fernab der Heimat in Sicherheit zu sein, nicht gefunden zu werden, doch jetzt ist Daria aufgetaucht und das kann nichts Gutes bedeuten. Sie blicken auf die glückliche Familie mit den beiden Kindern. Ihren Kindern. Die jedoch nichts davon wissen, wer ihre leiblichen Eltern sind und wie sie gezeugt wurden. Und schon gar nichts wissen sie von den rücksichtslosen Machenschaften in der Ukraine, an denen Olenka selbst beteiligt war und bei denen die prekäre Lage junger, mittelloser Frauen ausgenutzt wurde. Doch nun holt sie die Vergangenheit und das, was sie getan hat, ein und sich muss sich ihren Taten stellen.

Die finnisch-estnische Schriftstellerin Sofi Oksanen thematisiert immer wieder politisch und gesellschaftlich brisante Themen in ihren Romanen und lässt dabei ihre eigene Biografie als Kind einer Einwanderin mit einfließen. Sowohl ihr Debüt „Stalins Kühe“ sowie auch „Als die Tauben verschwanden“ konnten mich bereits begeistern. „Hundepark“ ist jedoch deutlich ausgereifter und ein Text von psychologischer Tiefe, der nachhallt.

Die Handlung hat mehrere Erzählstränge. Zum einen erleben wir Olenka in der finnischen Gegenwart, wo sie sich mit Darias plötzlichem Auftauchen auseinandersetzen muss und offenbar große Angst vor dieser bzw. dem, was sie mit sich bringt, hat. Das Warum erklärt sich durch die Rückblenden, die an mehreren Zeitpunkten in der ukrainischen Vergangenheit ansetzen. Als Model wollte sie einst in Paris große Karriere machen und der Armut entfliehen, doch sie war zu störrisch, um die Tipps anzunehmen, und so fand sie sich bald wieder in der Einöde des Donbass. Ihr Vater war schon viele Jahre zuvor in einer illegalen Mine verunglückt – zumindest ist das die offizielle Version der Familie. Aber es gibt viele Versionen ihres Lebens.

Es entfaltet sich eine Geschichte, von der man weiß, dass sie in der Realität so geschehen kann und vor der man doch lieber die Augen verschließen möchte. Menschenhandel, Organhandel oder wie auch hier, junge Frauen zu Leihmüttern für jene machen, in der Regel aus dem Westen, die es sich leisten können. Nicht nur die finanzielle Not, sondern auch politischen Verstrickungen sind es, die dem Roman auch Spannung verleihen und die komplexe Realität nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und den Ländern zwischen Ost und West greifbar machen.

Die Dichotomie von Täter und Opfer ist schwierig hier, denn man kann den Wunsch nach einem besseren Leben, nach einem kleinen Stückchen vom Kuchen des Glücks, gut nachvollziehen. Und es ist ebenso offenkundig, dass man entweder mitspielt und selbst zum Täter wird oder eben auf der Seite der Ausgebeuteten landet. Moral und Ethik haben es schwer in einem solchen Umfeld.

Ein erzählerisch starker Roman, der langsam in einem hineinkriecht und nicht mehr loslässt.

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

Lena wächst im ukrainischen Teil der Sowjetunion auf. Die Sommer darf sie bei der Großmutter in Sotschi verbringen, doch als sie zur Schule kommt, beginnt der Ernst des Lebens und die Eltern wissen, wie wichtig Leistung in der UDSSR ist. Das ganze Jahr über pauken, bevor dann das Pionier-Lager die langen Ferien füllt. Früh schon ist ihre Mutter krank, die Ärzte scheinen nicht helfen zu können, was bei der kleinen Lena den Wunsch nach einem Medizinstudium weckt. Doch gute Leistungen allein genügen nicht, das Land ist korrupt und ohne die richtigen Menschen und entsprechende Zahlungen sind auch Bestnoten nichts wert. Sie kann sich den Traum erfüllen, ist erfolgreich, doch als das Land zusammenbricht, steht sie vor dem nichts und muss mit ihrer Familie in der Ferne neu beginnen.

Sasha Marianna Salzmanns Roman „Im Menschen muss alles herrlich sein“ springt über Generationen und Grenzen, der rote Faden bildet die Sprachlosigkeit der Töchter und Mütter. So wie Lenas Mutter und Großmutter in der beengten Wohnung in Gorlowka in der Oblast Donezk nicht zu einander finden, die eine schwerkrank, die andere die Freiheit am Schwarzen Meer vermissend, sind es später Lena und ihre Tochter Edi, die einander nicht verstehen, ebenso wie Lenas Freundin Tatjana und deren Tochter Nina. Sie habe allen Vorstellungen und Vermutungen über die anderen, der Mangel an Kommunikation jedoch führt sie immer wieder aneinander vorbei statt zueinander hin.

Dramaturgisch dreht sich die Geschichte im Kreis, beginnt in der Gegenwart in Deutschland, kehrt in Lenas sowjetische Kindheit zurück und nähert sich wieder an. Von Kindern mit großen Träumen, die ihre Realität jedoch nicht erfüllen kann, von Sprachlosigkeit in der Familie und dem Wunsch, sich in die Umwelt möglichst geräuschlos einzufügen, um nicht aufzufallen und dazuzugehören, was jedoch keiner der Frauenfiguren gelingt.

Für mich fügen sich zwar die Teile zu einem Gesamtbild, aber Lenas Lebensgeschichte über die drei letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts ist deutlich stärker als die nachfolgenden Handlungsteile. Sie wird als Charakter am greifbarsten, bekommt jedoch im Vergleich zu Edi, Tatjana und Nina auch den größten Raum, um sich zu entfalten. Es bleibt am Ende etwas Ratlosigkeit, wäre nicht mit der Flucht nach Deutschland schon der richtige Endpunkt gesetzt gewesen? Insbesondere Tatjanas Geschichte konnte mich kaum mehr erreichen, war auch zu wenig verbunden mit Lenas Vergangenheit, als dass sie für mich logische Handlungskonsequenz gewesen wäre.

Die Autorin hat ein Händchen für Dramaturgie und kann begeisternd erzählen, wie auch ihr Roman „Außer sich“ empfinde ich den aktuellen jedoch etwas zu sperrig, alles andere als ein geschmeidiger Lesegenuss, was ihn jedoch auch wiederum interessant und zu einem würdigen Kandidaten für die Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises macht.

Karosh Taha – Im Bauch der Königin

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Karosh Taha – Im Bauch der Königin

Eine Stadt irgendwo im Westen der Republik. Amal ist nicht das Mädchen, wie man es von ihr erwartet; von klein auf verbringt sie mehr Zeit mit den Jungs, kleidet sich wie sie und schneidet sich radikal die Haare ab. Immer wieder kommt es zu Konflikten, die sie gerne auch mit Gewalt löst. Ihr Vater steht trotzdem zu ihr, bis er eines Tages nach Kurdistan verschwindet und die Mutter mit den beiden Kindern allein zurücklässt. Das Verhältnis zwischen Amal und ihr wird schwieriger, die Mutter zieht sich ob der Schmach des Verlassenwerdens zurück und versteckt sich unter dem Kopftuch, während Amal fasziniert von Shahira, der Mutter ihres Freundes Younus, ist. Doch im Viertel zerreißt man sich das Maul über die Frau, die sich in kurzen Röcken und figurbetont kleidet. Auch Raffiq fühlt sich von ihr angezogen, auch wenn er als Jugendlicher eigentlich Amals Freund ist. Alle drei Heranwachsende, Amal, Younus und Raffiq teilen noch etwas anderes: das Aufwachsen in einem Land, das die Eltern zum Teil enttäuscht hat, in dem sie nicht angekommen sind, wo das Leben wie von der Stopptaste angehalten verläuft. Für ihre Kinder sehen sie die Zukunft in der Heimat, Kurdistan, doch diese haben andere Pläne.

In ihrem zweiten Roman fängt Karosh Taha die Lebenswelt vieler Migranten lebhaft und vielschichtig ein. Die Identitäten, die geradezu gespalten scheinen zwischen dem kurdischen und deutschen Ich; die Sitten und Kulturen der beiden Länder, die sich oftmals diametral entgegengesetzt stehen; die Familien, die alle verschieden sind und doch die gleichen Sorgen und Rückschläge teilen; Vorurteile, die es nicht nur von den Mitgliedern der anderen Kultur, sondern ganz stark auch innerhalb der eigenen Community gibt.

Trotz des spannenden und komplexen Themas konnte mich das Buch nicht wirklich packen. Im ersten Teil erzählt Amal aus ihrer Sicht, im zweiten wird sie von Raffiq abgelöst, aber so richtig wollen sie nicht ineinandergreifen. Hin und wieder erscheint der Text auch als regelrechter Stream of Consciousness, mit unzähligen Schleifen und Wiederholungen, was jedoch mehr zu einer hohen Redundanz denn zu einem Erkenntnisgewinn führt und bisweilen fast langatmig wird. Amal kommt als Figur noch differenzierter daher, wie sie kämpft um die Aufmerksamkeit des Vaters, mit der Rollenerwartung an sie als Mädchen hadert, die beiden Rollenmodelle Mutter und Shahira immer wieder abwägt und letztlich bei einem Besuch in Kurdistan, doch auch nur erkennt, wer sie nicht ist, aber nicht, wer sie ist.  Raffiq ist mir in seiner Schwärmerei für Shahira und der tatsächlich doch oberflächlich geführten Auseinandersetzung mit den Eltern thematisch zu eng. Younus hätte sicher auch eine interessante Perspektive und Einblicke geboten, wird jedoch nur in der Außensicht durch die anderen präsentiert.

Ein schwer zu greifender Text, der mich leider emotional nicht berührt hat, obwohl gerade Protagonistin das Potenzial gehabt hätte, ihre spezifische Situation begreifbar zu machen.

Nadja Spiegelman – Was nie geschehen ist

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Nadja Spiegelman – Was nie geschehen ist

Die Geschichte ihrer Familie, genauer gesagt, die Geschichte ihrer Mutter und ihrer Großmutter hat Nadja schon immer fasziniert, zu viele weiße Stellen, Ungereimtheiten und unglaubliche Begebenheiten hat sie gehört, weshalb sie als Erwachsene beginnt, nachzufragen, zu forschen und sie aufzuschreiben. Entstanden ist das Bild einer Frau, die nie geliebt wurde, die Außenseiterin in der eigenen Familie war und früh die Flucht ergriffen hat. Doch es gibt auch eine andere Seite, die Geschichte der Großmutter, die ebenfalls unter ihrer eigenen exzentrischen Mutter gelitten hatte. Mehrere Generationen Frauen, die nie ausgesprochen haben, was geschehen war und sich nun in diesem Buch ihrer Vergangenheit stellen.

Nadja Spiegelman ist die Tochter von Art Spiegelman, der seinerseits für „Maus“ den Pulitzer Prize gewonnen hat, einem Comic, der ebenfalls die Familiengeschichte erzählt. In diesem Kontext ist es nicht mehr ganz so verwunderlich, dass eine junge Frau eine doch schmerzliche Biographie ihrer Mutter vorlegt, die noch lebt und sich ihrer eigenen Geschichte stellen muss. Dadurch, dass Spiegelman die Lebensgeschichte mit ihrer eigenen verwebt, zeigt sie immer wieder Parallelen zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart auf, die auch durch unterschiedliche Länder und Zeiten stabil sind.

Vieles in Spiegelmans Familiengeschichte ist auch für den Leser schmerzlich und man fragt sich, wie Familienmitglieder auf diese Weise miteinander umgehen können. Vor allem das wiederkehrende Motiv der Mütter, ihre Töchter auf ihr Aussehen und ihre Essgewohnheiten zu reduzieren ist augenfällig. Auch die Dichotomie zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, wenn es um den Körper geht, fand ich eher seltsam gelöst in der Familie, was auch zu erheblicher Unsicherheit der jungen Frauen führte. Vor allem Françoise leidet unter der Ablehnung und fehlenden Zuneigung ihrer Mutter. Die ältere Schwester wurde immer bevorzugt, was die jüngere durch extreme Leistungen versucht zu kompensieren, um so Aufmerksamkeit zu erringen.

Ein weiterer Aspekt der Erzählung schwebt über dem gesamten Bericht und stellt vieles immer wieder in Frage: wie historisch korrekt sind die Erinnerungen, die die Menschen haben? Haben sich die Ereignisse wirklich so zugetragen oder wird durch die Zeit und die eigene Perspektive das Erlebte verfälscht und fügt sich zu einem stimmigen Bild, das womöglich gar nicht der Realität entspricht? Immer wieder steht Nadja vor diesem Problem: Einzelne Aspekte passen zeitlich und örtlich nicht, das Gesamtbild ist nicht stimmig und Mutter und Großmutter erinnern dasselbe Ereignis gänzlich verschieden. An dieser Stelle stritt Erzählen an Erinnern – dies kann versöhnen und das eigene Leben für die jeweilige Person erträglicher machen.

Anke Stelling – Bodentiefe Fenster

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Anke Stelling – Bodentiefe Fenster

Sandra hat schon früh gelernt, dass man die Welt verbessern muss. Im Kinderladen die Ideale der Eltern aufgesaugt lebt sie nun selbst mit ihrer Familie in einem generationenübergreifenden Wohnprojekt, dass volldemokratisch allen das nicht-existente Idyll des Zusammenlebens in Frieden ermöglichen will. Dass Kompromisse manchmal sehr hart sein können und man sich trotz bester Vorsätze eben nicht immer grün ist, muss sie schnell lernen. Und auch die bodentiefen Fenster, die die Räume mit Licht durchfluten werden bald zu Gucklöchern in ihre Privatsphäre, die sie mehr und mehr verliert.

Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2015 hat mich das Buch neugierig gemacht und die aktuelle Thematik der übertrieben ideologischen Prenzlauer Berg Mütter ist ebenfalls eine interessante Themenwahl. Was Anke Stelling hervorragend gelingt, ist die Absurdität der Wohngemeinschaft in authentischen Dialogen zur völligen Absurdität zu führen und die feinen Nuancen zwischen Neid und Verachtung herauszuarbeiten. Das vordergründige Glück ist eben doch oft nur die Fassade, hinter der das Leben gerade zusammenbricht. Über weite Strecken hochamüsant bleibt das Buch aber doch an einer durchaus ernstzunehmenden Thematik, die auch literarisch verarbeitet zum denken einlädt und einem die eigene Lebensgestaltung und Ideale nochmals überdenken lässt – wenn auch vom sicheren Standpunkt aus, denn selbst würde sich natürlich nie so verhalten wie die Figuren.